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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 12.03.13

Ein neues, buntes Völkchen

Wir neuen Deutschen. Wer wir sind, was wir wollen


Von Michael Knoll




 

Das Glück der Revolution von 1989 liegt nun fast ein Vierteljahrhundert zurück. Eine kurze Zeitspanne eigentlich. Doch wer die Bilder der Wende sieht, fühlt sich in ein vergangenes Jahrhundert zurückversetzt. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich rasant entwickelt, in vielen Dingen zu ihrem Guten. Sie ist entgegen aller Prognosen nicht deutscher geworden, sondern sehr europäischer, internationaler und kosmopolitischer, heterogener und moderner. Abzulesen etwa an der unterschiedlichen Zusammensetzung der Kabinette von Helmut Kohl und Angela Merkel. 1989 war der durchschnittliche Bundesminister im Kabinett Kohl ein Mann zwischen 50 und 60 Jahren, er war verheiratet und trug einen sehr deutschen Namen. Genannt seien neben dem Bundeskanzler Minister wie Hans-Dietrich Genscher, Gerhard Stoltenberg, Friedrich Zimmermann, Ignaz Kiechle, Heinz Riesenhuber oder Rudolf Seiters. Im Jahr der Wende war die deutsche Welt noch homogen.

Die Namen der aktuellen Minister klingen immer noch sehr deutsch, homogen ist das Kabinett der Bundeskanzlerin aber keineswegs. Wer hätte am Tag der deutschen Wiedervereinigung gedacht, dass keine zwanzig Jahre später eine Person der Regierung vorsteht, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist. Kein Mann, sondern eine Frau, verheiratet ja, aber eben auch geschieden. Repräsentiert wird die Bundesrepublik Deutschland im Ausland von einem offen sich als schwul bekennenden Außenminister. Er ist nicht der einzige homosexuell Minister und trotz seiner 51 Jahre lange nicht der älteste, aber bei weitem auch nicht der jüngste Minister. Das Küken der Regierung ist Kristina Schröder, sie war gerade einmal 32 Jahre alt, als sie zur Ministerin ernannt wurde. Wolfgang Schäuble war schon 1989 Minister, er ist es mit seinen nun 70 Lebensjahren immer noch. Seit dem Attentat, das im Oktober 1990 auf ihn verübt wurde, ist er zudem querschnittsgelähmt. Und noch eine Besonderheit: Mit Philipp Rösler sitzt ein Minister am Tisch, der im besten Beamtendeutsch als Mensch mit Migrationshintergrund bezeichnet wird. Rösler ist 1973 im Vietnam geboren und später von seinen deutschen Eltern adoptiert worden.

Männer, Frauen, Hetero- wie Homosexuelle, aus dem Osten und dem Westen, jung wie alt, alleinstehend, verheiratet, geschieden, wiederverheiratet – eine bunte Mischung, in der sich die Menschen der Bundesrepublik Deutschland wiederfinden können. Es ist eine rasante Modernisierung des Landes in den letzten zwei Jahrzehnten zu erkennen und wie es mit Modernisierungsprozessen so ist, geht es etlichen zu schnell und vielen viel zu langsam.

Özlem Topcu, Alice Bota und Khue Pham gehören zu denen, die sich nicht damit zufrieden geben möchten, dass sich die Integrationsdiskurse verändert haben und wir nun nicht mehr von Assimilation oder Integration sprechen, sondern von Inklusion. In ihnen haben sich über die Jahrzehnte eine zu große Wut und ein zu starker Zorn angestaut. Angestaut mit Erfahrungen von Erniedrigung, Bevormundung, Besserwisserei.

Über diese Erfahrungen haben die drei ein fulminantes Buch geschrieben, ein politisch ungemein wichtiges Buch, dem viele Leserinnen und Leser zu wünschen ist. Seine Stärke liegt dabei nicht im Politischen, sondern vielmehr im Biographischen der Autorinnen. Alice Bota wurde 1979 im polnischen Krapkowice geboren und kam 1988 mit ihren Eltern nach Deutschland. Die Eltern von Khuê Pham sind bereits in den 60er Jahren nach Deutschland eingewandert, sie wurde 1982 in Berlin geboren. Der Geburtsort von Özlem Topçu ist Flensburg, wo ihre Eltern Anfang der 70er Jahre Arbeit fanden und sie 1977 geboren wurde. Natürlich verbindet die drei nicht nur ihr Nicht-Deutschsein, die Autorinnen, alle drei Frauen, gehören einer Generation an. Religiös, kulturell und sozial überwiegen jedoch die Unterschiede ihrer Familien, die eine bunte Mischung von Akademikern, aufstiegsbewussten Bildungsbürgern und Arbeitern ausmachen.

Geprägt sind alle drei von den Ausschluss- und Ausschließungsmechanismen der bundesrepublikanischen Gesellschaft, unter denen vor allem ihre Eltern leiden mussten. Diese Erniedrigungen führten bei allen dreien zu einem Gefühl großer Skepsis bis hin zur blanken Wut. Subkutane rassistische und fremdenfeindliche Äußerungen, zu deren Dekodierung die drei zu jeder Zeit in der Lage waren und vermutlich immer noch sind, speicherten sie als „Beweise der Ausgrenzung“ in ihren Köpfen. Und vermutlich noch mehr in ihren Herzen. Vielleicht trifft ihre Aussage, dass es einen großen Unterschied mache, „ob man als Heranwachsender in Deutschland ist oder deutscher Heranwachsender“, auch auf den Verfasser dieser Zeilen zu. Es ist schwer, über nicht gemachte Erfahrungen zu urteilen. Der Wunsch, in einer aufgeklärten Gesellschaft zu leben, ist in erster Linie eine Hoffnung, aber noch lange keine Realität.

 „Anerkennung“ ist einer der Schlüsselbegriffe des Buches, „aufrichtige Anerkennung“, wie es an einer Stelle heißt. Anerkennung aber weniger für sich selber, als vielmehr für ihre Eltern. Für die Eltern, die so viel auf sich genommen hatten, um für sich und vor allem für ihre Kinder ein besseres Leben zu haben und die für diese Entscheidung, für diesen Mut, für dieses Wagnis in Deutschland keine Zustimmung, sondern Ablehnung erfuhren. Organisierte Ablehnung, wie man sie in vielen, vielen deutschen Amtsstuben vorfinden kann, deren Botschaft eindeutig ist: Bitte draußen bleiben – Wir wollen euch nicht, wir brauchen euch nicht. Der Ehrlichkeit halber sei an dieser Stelle erwähnt, dass Özlem, Alice und Khuê zu Jugendzeiten ihren Eltern diese Anerkennung ebenfalls verwehrt haben. Das Gefühl zwischen zwei Kulturen zu stehen, weder deutsch noch nicht-deutsch zu sein, weder als Deutsche voll akzeptiert zu sein noch als Türkin, Vietnamesin oder Polin, führte auch zu Konflikten mit den Eltern. „Wir neuen Deutschen“ ist in diesem Sinne auch eine Verneigung vor den Leistungen der eigenen Eltern. So danken sie ihnen „für alle richtigen und falschen Entscheidungen, die sie für sich und uns getroffen haben“. Ein Dank, der eigentlich von allen hier in Deutschland ausgesprochen werden müsste.

Ein weiterer zentraler Begriff des Buches ist der der Identität. Pham, Bota und Topçu verstehen ihre Biographien als „sperrige Hybride, die für Eindeutigkeiten nicht taugen“. Was ist an Özlem türkisch, was an Khuê vietnamesisch, wo beide doch in Deutschland geboren wurden? Warum tragen die beiden das Merkmal mit Migrationshintergrund, wo sie doch gar nicht migriert sind, sondern ihre Eltern? Was macht sie und Alice weniger deutsch als die anderen Menschen in Deutschland, wo sie den Großteil ihres Lebens doch hier verbracht haben? Sie haben unterschiedliche Strategien gewählt, ihre Identität in diesem Land zu finden. Über Überkompensation wie bei Özlem, die die deutsche Geschichte, auch die zwischen 1933 und 1945, zu ihrer machte – „nur eben ohne Wehrmachtsopa“. Über Alice, die ihren Makel als Nichtdeutsche zu einem Merkmal machte, der ihr die Türen zu Stipendien, Praktika und Jobs eröffnete. Oder wie die Verleugnung der Geschichte der eigenen Eltern etwa, wie man es bei Khuê lesen kann. Wie fremd, wie einsam, wie kalt klingt ihr Glück von London, wo sich niemand nach ihrer Herkunft erkundigte. Ist diese Form von Beziehungslosigkeit wirklich viel besser als ihre Erfahrungen in Berlin, wo sie ständig nach „ihren Wurzel“ befragt wurde?

Über allen Strategien steht jedoch der Versuch, mit einer als fremd angenommenen Identität in der Mehrheitsgesellschaft anzukommen und von ihr angenommen zu werden. Sei es mit dem Kalkül der Negativen Integration, des feinen Unterschied als ein zu inkludierendes Moment, der Überanpassung. Stets ist es das Spiel doppelter und hybrider Identitäten. Sie machen das Merkmal der neuen Deutschen aus, wie sich die drei Autorinnen bezeichnen.

Und es ist ein weiteres Moment, was die „neuen Deutschen“ ausmacht. Sie nehmen ihre Aufgabe und ihre Rolle als maßgebliche Akteure und Subjekte der gesellschaftlichen Veränderung und Modernisierung an. Mit neuen Blicken auf die Gesellschaft in Deutschland. Mit einem anderen Verhalten, mit eigenen Geschichten, eigenen kulturellen Zugängen zu einer vertraut-fremden Welt. Zu lange wurden Migration und Integration als periphere Erscheinungen angesehen. Zu häufig spielten in den Integrationsdiskursen gegensätzliche Zuschreibungen eine Rolle – „wir Deutschen“ und „ihr Migranten“. Eine Konstellation, in die sich auch zu häufig Migranten drängen lassen. Dabei ist bereits das Konzept von Integration veraltet. Menschen, die als Personen mit Migrationshintergrund oder nicht-deutscher Herkunft bezeichnet werden, sind nicht da, um integriert zu werden, sondern sie sind da. Zu Recht stellen Topçu, Bota und Pham die Frage: „Was bedeutet es eigentlich sich zu integrieren?“

Vielfalt einer modernen Gesellschaft ist nicht Programm, sondern Realität. Sie ist nicht zu verhindern, sondern lediglich positiv zu beeinflussen. Weder Alice Bota, Özlem Topcu noch Khuê Pham passen in das Konzept eines gesellschaftlich konstruierten „wir“ versus „ihr“. Sie sind weder These noch Antithese, sie stehen für die Synthese eines neuen Da- und Miteinanderseins in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Und hier hat unsere Gesellschaft noch einiges zu leisten. Vielleicht wäre dies die eigentliche Frage des Buches gewesen: Wie gehen wir mit einer rasant wachsenden Heterogenität in unserer Gesellschaft um? Welche Leistungen und Anstrengungen müssen Menschen in Deutschland zugemutet werden, welche müssen sie selber leisten, um die Vielfalt an Lebensformen, Einstellungen, Abstammungen als Normal- und Dauerzustand zu akzeptieren? In vielerlei Perspektiven wird diese Vielfalt bereits gelebt, offensiv vertreten oder stillschweigend anerkannt. Und eines ist klar: Die Differenz zwischen Menschen mit deutscher Herkunft und denen mit nicht-deutscher Herkunft wird in naher Zukunft irrelevant. Stattdessen wird uns die Frage nach dem Zusammenleben von Menschen mit hybriden Identitäten in einer ausfasernden Gesellschaft beschäftigen. Und es ist einer aufgeklärten, modernen und heterogenen Gesellschaft zu wünschen, dass Bücher wie „Wir neuen Deutschen“ überflüssig werden, weil sie an gesellschaftlicher Relevanz verlieren.

Bis zur Verwirklichung dieser Utopie wird es einige Zeit dauern. Bis dahin benötigen wir die Sensibilität und das gesellschaftliche Engagement von Frauen wie Bota, Pham und Topçu, die sich eben nicht mit dem gesellschaftlichen Status quo zufriedenzugeben. Sie bringen uns auf dem Weg zur Utopie wesentlich weiter als alte, unzufriedene Männer, die die Abschaffung der Deutschen beklagen.  
 

Alice Bota, Khuê Pham, Özlem Topçu
Wir neuen Deutschen
Rowohlt
176 Seiten
14,95
ISBN 978-3-498-00673-0

Leseprobe

 


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