Impressum  І   Mediadaten 

suche diese Seite web
site search by freefind



Glanz&Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

Anzeige
Versandkostenfrei bestellen!

Die menschliche Komödie
als work in progress


Ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

 

Home  Termine  Literatur  Blutige Ernte  Sachbuch  Quellen   Politik  Geschichte  Philosophie  Zeitkritik  Bilderbuch  Comics  Filme  Preisrätsel  Das Beste



Bücher & Themen




Bücher-Charts l Verlage A-Z
Medien- & Literatur l Museen im Internet


Glanz & Elend empfiehlt:
50 Longseller mit Qualitätsgarantie

Jazz aus der Tube u.a. Sounds
Bücher, CDs, DVDs & Links


Andere Seiten
Quality Report Magazin für Produktkultur
Elfriede Jelinek Elfriede Jelinek
Joe Bauers
Flaneursalon
Gregor Keuschnig
Begleitschreiben
Armin Abmeiers
Tolle Hefte
Curt Linzers
Zeitgenössische Malerei
Goedart Palms Virtuelle Texbaustelle
Reiner Stachs Franz Kafka
counterpunch
»We've got all the right enemies.»



Seitwert


Das schamlose Gezänk der Emo-Kratie

Patrick Bahners aufschlussreiche Kritik an der aktuellen Integrationsdebatte

Von Peter V. Brinkemper

Der derzeitige Stand der Internet-gestützten Integrations-Debatte in Deutschland ist mit »fahrlässiger polemischer Verwirrung« bei zugleich »gefährlicher sozialer Abgeklärtheit« oder gar »Abgestumpftheit« zu bezeichnen. Alles klappert und plappert vor sich hin und inszeniert sich im Rahmen permanenter Betroffenheiten entlang von umkämpften, aber keineswegs stabilen Gräben. Integration ist nach wie vor ein leidiges, wenig beliebtes Thema, dass jetzt dank der Medienaufbereitung und des Sarrazin-Coups zum Haupttopos avancierte. Es gibt keine Position oder Gegenposition, zu der es nicht scheinbar bereits medial endlos repetierte Einsprüche und Modifikationen gäbe. Es ist eine unendlich bornierte Diskussion mit vielen Rutschbahnen und Strudeln bei insgesamt recht beschränkten geistigen Vorräten. Alles das wäre ja halb so schlimm, wenn es im Sinne einer übersichtlichen oder auch dynamischen Pro-Contra-Auseinandersetzung, politische und soziale Vergewisserungen oder gar Fortschritte gäbe, ein Stück weit konstruktive Aufklärung über Konzepte, Lager, Gruppen und Interessen, die allmählich wenigstens ihren Kooperationsbedarf und die aus Kooperation entstehenden Chancen entdecken. Aber derzeit gibt es eher so etwas wie eine in sich verknäulte Begründungsmoräne, die vom Gletscher der sozial erkalteten Deutschland-AG vor sich hergeschoben und Stück für Stück zermahlen wird, während sich die Teile selbst immer noch als für das Ganze stehende Lager aufplustern. Es herrschen zumeist beliebige Schutz-Behauptungs-Systeme vor, die soziokulturell, sowie in innen- und außenpolitischer Projektion mehr oder weniger Reibung und Zündstoff liefern, statt für fruchtbare Orientierung und wegweisende Visionen zu sorgen, im Rahmen einer Politik der angeblichen Erhaltung des porösen Status Quo auf Kosten längst fälliger, aber auch unbequemer Innovationen.

Bildung und Aufklärung als globale, innen- und außenpolitische Perspektive

Bundespräsident Wulffs Äußerung »Der Islam gehört zu Deutschland«, beim Türkei-Antrittsbesuch, ist in seiner anfängerhaften Naivität und seinem bücklingshaften Entgegenkommen gegenüber dem gastgebenden Staatsoberhaupt und im Gegenkurs zum Zickzack der innenpolitischen Diskussion, von Innenminister Schäuble (»Der Islam ist ein Teil Deutschlands«) bis zum CSU-Notnagel-Nachfolger de Maizières Hans-Peter Friedrich (»Ich denke, dass die Menschen, die hier leben und islamischen Glaubens sind, natürlich hier auch Bürger in diesem Land sind und zu diesem Land gehören, aber dass der Islam zu Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich auch aus der Historie nirgends belegen lässt.«) gegenüber den Muslimvertretern, vielleicht trotz allem ein erträglicher Schritt in die richtige Richtung. Diese Floskel könnte über ihren zaghaften Anfang nicht nur einheimelnd, sondern fast weltbürgerlich aufgefasst werden, angstfrei global und durchweg großzügig, langfristig sogar erfolgreich optimistisch. Aber hatte Wulff, der auch im Fall Sarrazin merkwürdig ängstliche, es wirklich so gemeint? Oder fehlt ihm als von Merkel ausgesuchtem Adepten die von-Weizsäckersche Imprägnierung? Die angedeutete Interpretation könnte sich auf die auch für andere Länder beispielhaft gefestigte deutsche Nachkriegs-Demokratie berufen, als Boden staatlicher Neutralität und gesetzlich garantierter Gleichheit und Rahmen für interkulturelle Toleranz für alle friedlichen Lebensweisen und Glaubensrichtungen, gemäß dem Grundgesetz, und als offener Rahmen für eine ethnisch und kulturell pluralistische zivilgesellschaftliche Zukunft. Und diese Perspektive könnte auch die zunehmend überalterte, egoistisch und materialistisch gewordene altbundesrepublikanische Wohlstandsnation in die Pflicht nehmen, angesichts der umfassenden Spätfolgen einer zunächst rein wirtschaftlich akzeptierten Existenz von Muslimen auch mal an eine ganz andere Zukunft Deutschlands zu denken. Andererseits kann es Ministerpräsident Erdoğan nicht lassen, in seinen Auftritten in Deutschland immer wieder den diffusen patriotischen Eigensinn der türkisch(stämmig)en Mitbürger populistisch zu schüren, als ob sie hier in einer Enklave, einer zweiten türkischen Republik lebten. Nach wie vor sind also nationalistische Kollisionen nicht ausgeschlossen. Das diesmal für Entrüstung sorgende Zitat lautet: »Unsere Kinder müssen Deutsch lernen, aber sie müssen erst Türkisch lernen.« Und dies könnte zunächst nur ein plumper Wahlkampftrick Erdoğans sein und zugleich eine für manche bedrohliche Ansicht, wie sie die Islamkritiker und Kemalistinnen vom Schlage Necla Keleks oder arrivierte deutsche Islamprovokateure wie Thilo Sarrazin seit langem allzu gerne aufgreifen oder selber im Lager der Ausländerfeindlichen entwickeln. Dabei könnten in Drohkulissen auch Lösungen liegen. Türkisch lernen, ernsthaft als Schulfach lernen, egal ob nun als Erst- oder Parallelfach, warum eigentlich nicht? Türkische Schülerinnen und Schüler könnten im Fach Türkisch bzw. Islam, bis zum Abitur, schriftlich ihre Sprache, Grammatik und Literatur, und dazu den islamischen Koran erlernen, wie jetzt ja vorgesehen, durch Lehrer und Theologen, ausgebildet an deutschen oder anderen Universitäten, basierend auf einem verbindlichen Curriculum, im Rahmen von kritisch und reflexiv definierten Fachwissenschaften, und keineswegs mehr autoritär-affirmativ in Familie und Koranschule. Ein längst fälliger Schritt, den die christliche und philosophische Tradition Europas längst in der Reformation (Verstehbarkeit der lutherschen Bibelübersetzung) und dem Humanismus (kritisches Selbstdenken), der mit der allgemeinen Schulpflicht verbundenen Aufklärung und spätestens in der protestantischen und katholischen Hermeneutik als posttraditionaler Religionsdeutung des 19. und 20.  Jahrhunderts vollzogen hat. Aber werden denn heute deutsche Schüler (und zwar nicht nur Haupt-, sondern auch Real-, sowie Gesamt- und Gymnasialschüler) ernsthaft noch auf diesem Niveau musischer, humanistischer, hermeneutischer, philosophisch-sozialer oder naturwissenschaftlicher oder interdisziplinär-informatischer Bildung methodisch sicher unterrichtet und vor den Abgründen des unterhaltungsverflachten Mediengewitters um sie herum gefeit? Und wer, bitte, hält muslimische Schüler von der Teilnahme am christlichen Religionsunterricht ab, sofern dieser nicht nur Glaubenspredigt, sondern vor allem Sachinformation, Reflexion und Kritik an Formen monotheistischer Weltdeutung und Lebensgestaltung im Konzert der Religionen und der zunehmend ungläubigen oder andersgläubigen Verweltlichung ist? Die schriftliche Verbindlichkeit von Inhalten und Lernprozessen, die Entwicklung einer Spannbreite zwischen bloßer Reproduktion und eigenständiger Urteilskraft täte der diffusen Selbstbehauptung vieler speziell Jungtürken, aber auch stumpfer Jungdeutscher sehr gut, während viele ihrer sensibleren weiblichen Mitschülerinnen zwischen akribischer Schrifttreue, aufkeimendem Selbstdenken und starkem Leistungswillen bereits ein gutes Stück weiter im Lernprozess an deutschen Schulen gediehen sind oder sein könnten.

Kolonialistischer Anpassungsdruck

Was also als »Integration« für deutsche Schüler und türkische sowie andere ausländische Minderheiten definiert wird, und mehr noch, wie dieses Wort vom linken oder rechten Spektrum her immer willkürlicher in den Mund genommen oder mit Beißzangen angefasst und diskreditiert wird, ist von deutsch-konservativer Politiker-und-Pädagogen-Seite kaum weniger repressiv wie vom einzelnen traditionsfixierten Mullah und fanatischen Hassprediger. Und von den selbsternannten Islamkritikern? Allemal gibt die gute alte »Volksseele« ihr fröhliches Repressionsspiel zum Besten. Es geht darum, ein Beispiel dafür zu geben, was es heute noch heißen kann, ein guter Deutscher zu werden, autochthon oder (frisch) immigriert. Durch Fremdenkritik, Selbstkritik oder Deutschtest. Alle Seiten wittern Positions- und Identitätsverluste in der ethnopolitischen Gletschermoräne. Die Kirchen üben sich da eher, zumal nach ihrer endlosen Skandalabwicklung, eine moderate bis progressive Kanalisations- und Vermittlerrolle, die ja auch bei der Freigabe des Faches Ethik/Praktische Philosophie als Lebensorientierung für nicht mehr religiös gebundene Jugendliche im pubertären Mainstream Pate stand.  Es geht ums Parieren, um blinde Anpassung an das, was Ältere für Gebote(n) halten. Dabei wird mit kolonialem Rest-Herrenblick so argumentiert, dass die fraglichen Minderheiten, speziell die Muslime, keine wirkliche Kultur, sondern nur noch einen nichtspirituellen, primitiv-dumpfen, mechanischen Glauben (Kelec zu Goethes »West-Östlicher Divan«) und womöglich gefährliche, repressive, extremistische soziale und politische Ansichten hätten. Aber worin unterscheiden sie sich ernsthaft von der angeblich noch etablierten, aber von Verlustängsten (»Deutschland schafft sich ab«) beherrschten zivilen Mitte der nicht mehr gläubigen, aber auch nicht mehr so recht sich aufgeklärt fühlenden deutschen Mehrheit, die ihr ureigenstes Privileg der Bildung und Selbsterziehung oft auch nur noch schablonenhaft als Konsumreflex und Positions-Hopping verfolgt und vorgeblich nach geistigen und politischen Führungsfiguren lechzt? Für das muslimische Milieu gelte nach wie vor die Privilegierung der Macho-Männer, die Unterdrückung oder zumindest Traditionsverhaftung von Frauen und Kindern, die Verführung männlicher Jugendlicher zu wahnhafter Selbstdarstellung, Gewalt und Extremismus, all dies dient dann den rechte Stimmen flugs als Paradebeispiel einer misslungenen Sozialisation und der Bedrohung des Abendlandes. Als ob dergleichen bei Blonden und Blauäugigen nicht vorkäme. Brachiale Fälle von Ehrenmord und Familienzwang sprechen für die Vorverurteilung auch der zahlreichen Gemäßigten der hier lebenden türkischstämmigen Bürger, die die alten deutschen Tugenden schon längst geschluckt haben.

Weniger deutlich wird von Rechten und Chancen für Individuen, gleichgültig welcher Herkunft, gesprochen, und diese Nachlässigkeit ist selbst eine gravierende soziale Tatsache, ein schmieriger Wille zu einer neodarwinistischen Selektion, ein überall gepflegter und herbeigeredeter Gruppierungsmuff, als ob Deutschland wieder eine neue reaktionäre Castingshow für einen neuen Führer brachte. Dieser erblondete Zeitgeist wird vor allem bei den Jüngeren spürbar, wenn sie die stärker unter äußerem und medialem Einfluss stehenden Immigranten-Generationen repräsentieren, die schon ein Stück intellektuelle und vor allem soziale Freiheit und ein Smartphone erkämpft haben, aber sich immer mehr oder weniger mühsam aus den eingeschliffenen und eingekapselten Familienverbänden zu lösen haben, um denn wirklich einen eigenen Weg in die säkulare Mitte der europäischen Gesellschaften zu gehen.

Nicht umsonst wird der Begriff der »Integration« von den alten überlebten Stammparteien, die ihre eigenen Wurzeln längst ausgerissen haben, als reine Anpassung an die herrschenden, ihrerseits diffusen Verhältnisse verflacht und damit gleichen Sinnes auch für die längst widerstandslos angepassten mitteleuropäischen bzw. deutschen Jugendlichen verwandt. Begriffe wie Differenz, Widerstand, Protest, Unangepasstheit, Nichtintegrierbarkeit, Andersheit etc. werden übergangen oder samt den konkreten »Auswüchsen« zwischen Koma und K.O. an den Pranger gestellt. Am liebsten würden manche, die »Kinder und Jugendlichen« des eigenen Milieus und der eigenen Generation als »Halbwüchsige und Halbstarke« gleich mitabschieben. Schlingensiefs Devise »Ausländer raus« als Containerabwahl avanciert zur Methode des mediengesteuerten Gruppenabwahlkampfes. Hinter dem Big-Brother- und im Dschungel-Labor droht das Boot Camp. Wenn schon Desintegration, Spaltung zwischen Privilegierten und Underdogs, dann aber richtig. Es sieht also ganz so aus, als stünde das Gezänk um die Integration selbst unter einem dekadenten und spätkolonialistischen Paradigma einer sich selbst abschaffenden Gesellschaft unter dem repressiven Selbstverständnis von Kultur und Erziehung in unserer heutigen primär dienstleistungswirtschaftlich und showmedial missverstandenen Gesellschaft (ohne oder mit nur schwacher demokratischer Selbstbestimmung, Beteiligung und Bildung der verdummten Zuschauer-Kunden). Integration ist so das defizitäre Produkt einer dummschlauen Truman-Show, die vor allem den jüngeren Bürgern in ihren jeweiligen Erlebnismilieus nur Substitute echter Interaktion und Solidarität liefert und zwischen hirniger Millionärs-Bildungsshow und expressiver Superstar-Casting-Larmoyanz  Medien-Ghettos konstruiert, die ihre eigene Auserwähltheit auf die vermeintliche Parallelgesellschaft von dahergelaufenen Losern, Bittstellern und Immigranten projiziert, während die Gesamtbevölkerung längst global nach den Spartenkanälen schichtspezifisch in ihre verwertbaren Gewohnheiten zerlegt wird. Sarrazin spielt in dieser Abschaffung von Autonomie und Bildung nur seine affig-unterdrückt-erfolgreiche Lieblingsrolle des Banker-Abstauber-Zynikers, der auf andere Bevölkerungsschichten als törichter Greis verächtlich spuckt, ohne die faktisch biologische Abschaffung selbst sozial und politisch begrifflich auf dem Punkt zu bringen. Wie schwadronierte er so schön zu Berlins bildungspolitischer Situation? Patrick Bahners erklärt:

»Berlin soll sich, wie Sarrazin seinem Interviewer Frank Berberich allen Ernstes erklärte, durch Abdrängung der Nichtintegrierten sanieren. «Die Schulen müssen von unten nach oben anders gestaltet werden. Dazu gehört, den Nichtleistungsträgern zu vermitteln, dass sie ebenso gerne woanders nichts leisten sollten. Ich würde einen völlig anderen Ton anschlagen und sagen: Jeder, der bei uns etwas kann und anstrebt, ist willkommen; der Rest sollte woanders hingehen.» «

Dergleichen tut gut in seiner einfachen Entschiedenheit mit einem Ton aus guten alten Zeiten. Dahinter steckt auch der keineswegs so elitäre Wunsch eines Nicolas Sarkozy, den Ausländern als den Repräsentanten des Anderen und Fremden in ihrer deutlichsten Markierung genau das heimzuzahlen, was er allen chancenlosen Vorstadtjugendlichen und konservativen wie sozialistischen Normalbürgern und Dissidenten und unruhigen Studenten bereits als Innenminister zuzufügen gewillt war. Dem Ausverkauf auf der Rue de Rivoli antwortet die afrikanische Bevölkerung mit dem exzessiven Überlebens-Konsum der 1-Euro-Job-Shops am desexualisierten Montmartre. Der allgemeine Trend zurück zur begründungsfreien, willkürlichen Disziplinierung aller Jugendlichen und wirklich oder gefühlt Benachteiligten führt hier das gedankenlose Regime. Dem Motto: »Empört und Entrüstet Euch« kontert die Drohung: »Stellt Euch bloß nicht so an.« Der französische Präsident, der nicht ganz zufällig das Flair eines Immigranten aus Transsylvanien vermittelt, zahlt es allen anderen, die so ähnlich dreinschauen, heim. Dazu kommt die Saat des Krieges gegen den Terror und gegen eine angeblich bisher demokratieunfähige muslimische Welt: Nach dem Aufständen in Ägypten und den anderen maghrebischen Staaten versteht sich aber dieses Bild des Westens auch inner- und zwischenstaatlich nicht mehr von selbst. Demokratiedefizite, Engstirnigkeit,  Fanatismus und Inhumanität der nordafrikanischen und nahöstlichen (Öl-)Regime und Bündnispartner waren im Interesse des wohlhabenden Westens die geeigneten Nachfolger der alten europäischen Kolonialmächte. Idi Amin Dada, geboren als Awo-Ongo Angoo war der Black Tantalus, der den europäischen Göttern und VIPs angeblich seinen inländischen Kinder-Kannibalen-Braten auftischte. Vorzivilisatorische Zustände? Die griechischen und französischen Polizisten knallen schon mal einen jungen Globalisierungsgegner auf offener Straße ab, um dann einen Sturm der Entrüstung oder sogar Beifall statt eine Gehaltszulage zu kassieren. Nun muss der Westen seine alten emanzipatorischen und zivilgesellschaftlichen Ziele der Post-68er-Innenpolitik (Eindämmung von Bürgerkriegen, Kanalisierung der außerparlamentarischen Volksgruppenproteste, Organisation von Wahlen, Bildung von Parlamenten, Ermittlung von Repräsentanten bis hin zu Ministern und Präsidenten, plausible Verfassungsmodelle unter Wahrung bilateraler ökonomischer Imperative, sowie handfester Technologie-Wechsel in Richtung auf eine globale Öko-Demokratie) ausbuddeln und auf das außenpolitische Verhältnis zu den bisher so unmündigen Untertanen der einstigen Vasallenstaaten übertragen. Das halbwegs glaubwürdige Übergangsszenario  arrangiert sich mit der Verabschiedung von Gewalt- und Geld-gestützten Diktaturen zugunsten von hoffentlich nicht minder ergebenen Demokratie-Schnittmustern bei nicht mehr konstantem Erdöl-Gas-Dividenden-Fluss. Und die mutigen Rebellen im terroristisch geführten Libyen haben die Zeche für ihre ungleich heiklere Befreiung zwischen blutigem Bürgerkrieg und aufgeschobener UN-Militär-Intervention ganz einfach mit dem Leben zu bezahlen.

Patrick Bahners Antwort: Geist und Geltung statt Emo-Kratie

Patrick Bahners seriöses, fast ein wenig zu fein ziseliertes Buch ist ein wichtiges Gegengewicht zu Thilo Sarrazins Grenzen einreißendem Bestseller, weil es die Unaufgeklärtheit, Verlogenheit und Scheinheiligkeit der Debatte um angebliche destruktive oder konstruktive Integration in Deutschland in längeren Kapiteln minutiös dokumentiert und die verwendete ideologische Semantik des Vokabulars eingehend analysiert. Die Buchform ist dabei auch ein Medium der begrifflich-differenzierenden Argumentation und Analyse des Zustandes der gegenwärtig immer stärker mediengesteuerten Öffentlichkeit. Bahners stößt über die tagesaktuelle Betroffenheit und den pamphlethaft entgleisten Ton Sarrazins hinaus in die politologisch-philosophische Analyse des derzeitigen symbolisch-sprachlichen Handelns im sozialen und politischen Raum vor und legt den Ideologiecharakter der kleingehackten Kurzschluss-Semantik bloß. Dabei zollt er Wulffs pragmatischer Partnerschaftsformulierung zwischen den Religionen, vor allem aber Schäubles anscheinend aufklärerischer Sicht und Lessingscher List von der lebendigen Konkurrenz der bewährten und sich in Zukunft zu bewährenden Traditionen religiöser Vielfalt, Toleranz, Freiheit und Konkurrenz einen staatstragenden, ja fast hagiographischen Respekt. Dagegen sieht es so aus, als ob die wahren Parallelwelten nicht von irgendwelchen Muslimen, sondern gerade von den politischen Definitionsaufweichkünstlern und Gespensterdebattierern, wie Thilo Sarrazin, oder Wolfgang Bosbach bewohnt werden, welcher die Ängste der Menschen vor dem Islam ernst nehmen wollte. Dazu höre auch der allzu engmaschig gegen Antisemitismus und Genetik, nicht aber stringent für Staatsbürgerrechte sowie religiöse und weltanschauliche Gleichberechtigung argumentierende Guido Westerwelle. Bosbach und Westerwelle behaupten, aber eben nur noch: »Der Islam ist Teil unserer Realität, ganz sicherlich. Er ist nicht die Grundlage unseres Landes.«  Der Islam werde zum bloß faktischen und vor allem bedrohlichen Geröll in der Wirklichkeit eines Deutschland, das im höheren werthaften Sinne immer noch vorrangig im Kontext der christlich-jüdisch-abendländischen Kultur zu definieren sei, wenn auch diese hegemoniale Definition selbst nicht unangefochten sei. Die Spaltung der Bundesrepublik sei aber ein Ausdruck für einen massiven Verfall des öffentlichen Verständnisses von Demokratie:

»Der Islam ist Teil der gesellschaftlichen Realität Deutschlands wie Casting-Shows, Steuersparmodelle und Suchtkrankheiten in Führungsetagen. Aber mit unserer Tradition hat er nichts gemein. Schäuble hatte in weiser Zurückhaltung Überschneidungen nicht ausgeschlossen. Er weiß, dass die Religionsgeschichte ein Teppich der Parallelentwicklungen, Verschlungenheiten und Anverwandlungen ist. Und es ist nicht seine Art, aus vergangenen Leistungen Ansprüche auf einen Ehrenvorrang abzuleiten, der von der Bewährung in der täglichen Arbeit entlastet. Nur von der lebendigen Tradition geht der Anreiz zur Mimikry aus, nicht vom Schaubild auf der Wertetafel. Schäubles gelassener Optimismus wich bei seinen Politikerkollegen im Sturm der Sarrazin-Debatte einem dogmatischen Kleinmut. Die Muslime wurden wieder zu Fremden gestempelt, die wirklich hier sind, aber nur zufällig und deshalb in einen Nachhilfekurs in christlicher Staatsbürgerkunde geschickt werden müssen.«

Nicht weniger hart geht Bahners mit Necla Kelek ins Gericht. In ihren journalistischen Publikationen und vor allem ihrem autobiographischen Bestseller »Die fremde Braut« gebe sie die wissenschaftlich differenzierte Betrachtungsweise ihrer soziologischen Dissertation zum Thema Islamische Religion als (Integrations-)Faktor des Lebens von türkischstämmigen Schülerinnen und Schülern glattweg auf. In ihren dortigen Untersuchungen hatte sie nachgewiesen, dass junge Muslime beiderlei Geschlechts den Glauben nach ihren konkreten Lebensgewohnheiten modellieren, die Religion und die Religiosität also einen bestimmten Beitrag zu Integration und Neuorientierung auch in Deutschland leisten. Zweifelsfrei drastische Fälle der Unterdrückung als Frau, womöglich Selbsterlebtes werde in ihren späteren Artikeln und Kommentaren jedoch mit verallgemeinertem sozialen Vokabular zur Allgemeingültigkeit eines Türke-allein-in-Deutschland-Stereotyps zugespitzt, das so jeder statischen Objektivität entbehre. Bahners zitiert und kommentiert Kelek:

»'Sie haben sich längst ihre eigene Parallel-Gesellschaft geschaffen, auch mithilfe der deutschen Errungenschaften von Sozialversicherung und Arbeitslosenunterstützung.' Das Innere des türkischen Lebens in Deutschland hat Necla Kelek erkundet, eine dunkle Region, in der die Landessprache nicht gelernt und stattdessen zu einem fremden Gott gebetet wird. Die Wahrheit, die Necla Kelek von ihrer Expedition mitgebracht hat, ist, wie die Familiensoziologin Elisabeth Beck-Gernsheim notierte, 'mit den schlimmsten Angstphantasien fremdenfeindlicher Deutscher identisch'. Wir haben es mit einem geschlossenen System der Vorurteile zu tun: Der Moscheebesuch ersetzt den Türken den Deutschkurs, und finanziert werden Moscheebau und Müßiggang aus den Sozialabgaben der Deutschen, in deren Arbeitsmarkt sich die Türken nicht integrieren wollen.«

Dagegen spreche aber unter anderem die Untersuchung «Zuwanderer in Deutschland» des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahre 2009, wonach 70 Prozent der türkischem (Ex-)Migranten weit überdurchschnittliche Deutschkenntnisse besäßen. Bahners will, wie viele andere Gegenstimmen zu Kelek, darauf hinaus, dass hier eine Stimme, die sicherlich in ihrer Kombination aus Wissenschaftlichkeit, biographischer Nähe und feministischem Engagement eine wertvolle Vermittlungsfunktion leisten könnten, allzu leicht in die Dienstleistung einer fremdgesteuerten Kritik abrutscht, die den etablierten und wandlungsfeindlichen Deutschen das Bild von islamistisch verführten Türken serviert, der vom Tugendpfad des kemalistisch weitgehend zwangsweise säkularisierten Bürgers, dem autoritativ verordneten Weg in die europäische Zivilgesellschaft abgekommenen ist. Die vom Islam befallenen Migranten seien zu keinem Wandel und zu keinem Übertritt in eine moderne mitteleuropäische weltlich-tolerante Gesellschaft fähig. Wiederum betont Bahners, dass Kelek selbst sich in falschen Alternativen und Polaritäten bewegt, die dem Islam und den realen türkischstämmigen Bürgern in Deutschland das Recht und die soziokulturelle Kraft absprechen, einen Beitrag zum eigenen Wandel und zur Veränderung der deutschen Gesellschaft zu leisten. In gewisser Weise attestiert Bahners Kelek den gleichen Hang, zum Erfolg verdammt zu sein, wie Sarrazin:

»Sie (Kelek) selbst predigt die voluntaristische Lehre, dass der freie Mensch der Herr seines Schicksals sei, in einer enthusiastischen Fassung, die an die amerikanische Ersatzreligion des positiven Denkens erinnert. In ihrer Schreibkarriere ist ein stillschweigender Austausch der Autoritätsgrundlage eingetreten. Sie spricht nicht mehr als Opfer, sondern emphatisch als Nicht-Opfer. Sie will kein Opfer sein, will Verantwortung für das tragen, was ihr geschieht.«

Kelek habe sich wie Sarrazin in die Fiktion einer sakrosankten Mediengestalt verwandelt, die für die Verantwortlichkeit ihrer Entrüstungs-Thesen im interreligiösen und interkulturellen Alltag nicht mehr geradestehen müsse. Im Spiegel-Doppelinterview (8/2011) behauptet Kelek, Bahners habe ihr sehr weh getan. Das scheint heute ein Argument zu sein in der Fühlo-Genese und der Emo-Kratie. Der Vorzug von Patrick Bahners Buch besteht darin, dass er den leidvollen Diskurs über die Geltung und Anmaßung von Argumenten zur Integration unter Bedingungen der Demokratie nicht mit den Scheinbegründungen der Gegenseite aufweicht, sondern die altehrwürdige Auseinandersetzung um den ernsthaft strukturellen Zusammenhang von Idealität und Realität, Meinungsfreiheit und Glaubensfreiheit, Identität und Gleichberechtigung, kultureller Tradition und Wandel sowie Öffnung bzw. Verbarrikadierung der Gesellschaft und ihrer Medien gegenüber dem allgemeinen Wandel in der aktuellen Debatte dieser Tage auf klugem, feinsinnigen und freiheitsliebenden Niveau verfolgt und bereichert. So viel kritischer, zugleich einfühlender und dabei distanzierungsfähiger Geist war bei vielen Kontrahenten bisher nicht zu spüren.
 









Patrick Bahners
Die Panikmacher
Die deutsche Angst vor dem Islam
Eine Streitschrift, München 2011
ISBN 978 3 406 616 457
320 Seiten
19,90 €

Leseprobe

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik

Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik   Bilderbuch   Comics   Filme   Preisrätsel   Das Beste