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Schauen und Schreiben

Marit Heuß' erhellende Arbeit zu
»Peter Handkes Bildpoetik«
animiert zum Wiederlesen

Von Lothar Struck
 

Zunächst einmal überrascht das Volumen der Arbeit von Marit Heuß' Werk über die Bildpoetik Peter Handkes. Es sind – exklusive Literatur- und Abbildungsverzeichnung 460 Seiten. Von den 61 durchgängig schwarz-weißen Abbildungen sind 50 aus den Notizbüchern Handkes. Zehn zeigen für Handke essentielle Kunstwerke, unter anderem von Paul Cézanne, Nicolas Poussin und Francisco de Zurbarán.

Heuß hat in akribischer Recherche Handkes Notizbücher von Ende 1975 bis Juli 1990 im Hinblick auf Handkes Beschäftigung mit bildender, genauer: bildnerischer Kunst untersucht und deren Verarbeitung schwerpunktmäßig in sechs Büchern untersucht: Die linkshändige Frau, Langsame Heimkehr, Die Lehre der Sainte-Victoire, Die Wiederholung und Handkes Bildverlust-"Projekt (Handke hasst dieses Wort), welches in zwei Büchern mündete: Mein Jahr in der Niemandsbucht und Der Bildverlust. Die Signatur der Notizbücher übernimmt Heuß vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach; früher datierte Kladden werden somit nicht berücksichtigt.

Die Hauptthese des Buches lautet, dass "Zeichnen und Kunstwerk-Rezeption" bei Handke in "zwingender Abhängigkeit von Schreibprojekten" stehen und dessen "Sprachkunst" beeinflussen. Diese auf "die Werkgestalt ausstrahlende literarische Verfahrensweise" wird Bildpoetik genannt.

FOTOGRAFIE VON HANDKE VON 14.12.2014

Bis dahin ist es noch ein Weg. Heuß beginnt mit der Präfiguration, den Zeitraum vom Beginn seines Schreibens 1966 bis 1973. Anhand von Handkes Erstling Die Hornissen, der Erzählung Das Umfallen der Kegel auf einer bäuerlichen Kegelbahn, die als Produkt von Handkes dekonstruktivistischer Ästhetik gesehen werden müssen, wird mit dem aufkeimenden Erzählen der Reisegeschichte Der kurze Brief zum langen Abschied von 1972 verknüpft. Bei aller Unterschiedlichkeit verberge sich, so Heuß, in allen drei Texten "ein Glaube an die Wirkungskraft poetischer Bildsprache", wobei die Autorin sich vor allem – und dies mit Gewinn – "mit den geistigen Bilder der Imagination, die der blinde Seher Gregor Benedikt in Handkes Debütroman Die Hornissen entwirft" beschäftigt. Dabei zeigt Handke in seinem Erstling den Verlust "des örtlichen und identitätsstiftenden Zustands durch Ausfall der Einbildungsbild" (wobei "Einbildungskraft" nicht mit "Phantasie" verwechselt werden darf) - ein Zustand, der mehr als dreißig Jahre später im Bildverlust wieder aufgenommen werden sollte.

Bereits in dieser frühen Phase zeige sich, so Heuß, dass Handke mit "poetischer Sprache" immer "bildliche oder anschauliche Sprache" meint: "Bevor noch ein Wort aufgeschrieben wird, muss ein imaginatives Bild im Geist des Schriftstellers existieren…" Weiter heißt es: "Bilder sind Begriffen überlegen, da sie über ihre Bildlichkeit einen emotionalen Weltbezug herstellen und zugleich Ideen kommunizieren." Dies wird mit Keuschnigs in der der Stunde der wahren Empfindung in der Öffentlichkeit gefundenen Collage aus Kastanienblatt, Kinderzopfspange und Taschenspiegel belegt.

Im Kurzen Brief entdeckt Heuß Handkes "literarische Skizze für künftige Bildpoetik", als werde hier ein Reservoir angelegt. Ohne der kanonisierten These, dass Handkes Wende zum Klassischen 1979 begonnen habe, direkt zu widersprechen, paraphrasiert Heuß – ohne ihn in diesem Zusammenhang namentlich zu erwähnen – Rolf G. Renners These, dass es nach Handkes experimentellen, teilweise avantgardistischen Texten und vor den autobiographisch grundierten, selbstreflexiven Erzählungen der Langsame Heimkehr-Tetralogie eine kurze Episode gibt, mit der Handke die "Neue Subjektivität" vorwegnimmt. Handkes Bildpoetik sei, so Heuß, bereits im Frühwerk "präfiguriert". Handke überschreite erst mit dem täglichen Notieren eine Grenze hin zur sogenannten Konfiguration, "der permanenten Konzentration auf perzeptive, graphische, geistige und sprachliche Bilder, den 'Zustand des totalen Wachseins, in dem man sich künstlich versetzt'" (Zitat im Zitat ist aus einem Interview Handkes mit Heinz Ludwig Arnold).

Diese konfigurative Bildpoetik beginnt, so Heuß, 1976 mit der Entlassung Handkes aus einem Pariser Krankenhaus, in das eine Woche zuvor eingeliefert worden war (dabei verwechselt Heuß Einlieferungs- mit Entlassungsdatum). Handke steckte im Frühjahr 1976 mitten in den Arbeiten zu Die linkshändige Frau – genauer: er schrieb das von ihm verfasste Drehbuch zur Erzählung um. Der Aufenthalt im Krankenhaus, seine Angstzustände durch die Herzrhythmusstörungen, nutzt Handke zu einem Wendepunkt. "Ich muß hier draußen, in der Stadt, herausfinden, wer ich bin, wer ich geworden bin", schreibt der 34jährige Handke in sein Notizbuch. Und er will nun, wie er Siegfried Unseld mitteilt, mit dem "Zeichnen beginnen". Was dann auch geschieht.

Es beginnt, so Heuß, eine "Neuausrichtung seiner [Handkes] Poetik auf das Bild…durch Notieren und Zeichnen…Sie reflektieren als poetologische Zeichnungen nicht nur den Prozess des alltäglichen Aufschreibens und Zeichnens, sondern bezeugen auch Handkes durch die Notizbuchpraxis verändertes Verständnis von Autorschaft…" (Hervorhebung im Text). Handke wendet sich "von seinem experimentellen und subjektivistischen Frühwerk im Zeichen von Dekonstruktion und Negation ab und vollzieht eine Umkehr vom Bild- und Formzerstörer zum Bild- und Formverwandler." Heuß zieht sogar eine Parallele zu Goethes Italienaufenthalt. So griffig dies klingt – es wird vor allem dem essayistischen Frühwerk, aber auch in den frühen Theaterstücken nicht gerecht, denn neben der sprachkritisch grundierten "Dekonstruktion" entwickelte Handke Gegenentwürfe; eine "Zerstörung" einer bestimmten Form ging meist einher mit der Suche nach einer neuen, gültigen Form, die zuweilen tastende Suche nach formalen Alternativen.   

Die Hinwendung zur "Schönheit" wie Handke dies in seiner Kafka-Preisrede von 1979 formuliert und Heuß einmal von einer "'schönen Kehre' seit 1976" fast schwärmen lässt, ist natürlich unbestreitbar. Wie sich "Bilder durch Notieren und Zeichnen konfigurieren" zeigt sich, so Heuß, im Doppelbild von 1979, "das zweimal die linke Hand des Schriftstellers und Zeichners Handke zeigt" – einmal mit Bleistift und Radiergummi und einmal leer. Ausgerechnet hier handelt es sich jedoch laut der wissenschaftlichen Plattform Handkeonline um Zeichnungen von Handkes Tochter Amina, die damals zehn Jahre alt war.

"Bild- und wahrnehmungsgierig"

Wichtige Zeichnungen aus Handkes Notizbüchern werden abgebildet und interpretiert. So etwa die Bison-Figur als Impression von einem Aufenthalt in Altamira (eine Variante hiervon wird später das Coverbild zur Linkshändigen Frau), ein Hyazinthen-Entwurf, eine Truhe mit Schmetterlingen, eine Heilig-Geist-Taube, ein Mann mit einer durchsichtigen Plastiktüte über dem Kopf und einer Halsfessel oder diverse, von Handke gezeichnete Piktogramme. Manche Deutung erscheint dem Leser ein bisschen überambitioniert, etwa wenn eine Nähe zu Brechts "marxistischen Positionen" zu indigener Kunst (Bison/Büffel) entdeckt oder einige, als anfängerhaft benannte Zeichnungen gerade dadurch eine "hohe semantische Strahlkraft" attestiert werden.

Solche ausgreifenden, meinungsfreudigen Auslegungen, mit der häufig Referenzen aus der Sekundärliteratur weiterentwickelt werden (erwähnenswert hier die Forschungsarbeit von Katharina Pektor und Christoph Kepplinger-Prinz), erschweren gelegentlich die Lektüre. Wenn Heuß sich auf Wesentliches konzentriert, wird es wieder stark: "Das Innovative an Handkes Schreibvorhaben besteht darin, dass er die 'privaten Mythen' seines Bewusstseins erzählen und…den Verwandlungsprozess der im Gedächtnis eingelagerten Bildreste in Sprache im Text sichtbar machen will." Später dann, in Vorbereitung bzw. während des Schreibens an Langsame Heimkehr geht Handke, so die Autorin, weiter. Das Zeichnen beispielsweise aus Alaska oder dem Friaul dient ihm dann "nicht nur als Mittel zur Aufzeichnung von Wahrnehmungen oder der Einführung und Distanznahme, sondern wird auch zum Medium der Formgebung und Herausbildung einer neuen Erzählweise."

Über die "Notizbuch-Praxis" bildet Handke "ein Bild-Gedächtnis heraus" auf das dann "im Schreibprozess zurückgegriffen werden kann." Handke arbeitet auf den "Transformationsprozess von perzeptiven Bildern in Erinnerungsbildern hin". Diese müssen dann "nur noch" (Formulierung L.S.) in Sprache umgesetzt werden. Dabei rückt Heuß Handkes Intention in die Nähe von Karl Philipp Moritz und konstatiert: "Schreiben ist Zeichnen im Geiste, Lesen ist Schauen innerer Bilder."

Eine wahre "Bilderflut" entdeckt Heuß in Handkes Notizen ab Sommer 1978; zunächst im Karst, wo er die Dolinen als Erlösungsorte entdeckt und dann Alaska, dort, wo Sorgers Erzählung von der Langsamen Heimkehr beginnt. Handke habe sich einen "Bilderspeicher" zugelegt. Und er erschreibt sich den Idealzustand der Hauptfigur: das "erzählende Beschreiben", ein "vom Bild inspiriertes Erzählen". Am Ende verwandelt sich der Wissenschaftler Sorger in einen Künstler – und, so möchte man ergänzen, der Schriftsteller Handke in einen Geologen.

Handke ist "bild- und wahrnehmungsgierig", was sich zunehmend nicht nur in der Verarbeitung der sich ihm ereigneten Motive zeigt, sondern auch in seiner Beschäftigung mit der bildenden Kunst. In den Notizbüchern tauchen jetzt vermehrt Kunstbeschreibungen von Gemälden auf. Denn es beginnt Handkes "Grand Tour durch die Museen"; zunächst in den USA, dann Europa. So dürfte er mehrfach die Cézanne-Retrospektive 1978-80 in Paris gesehen haben. Aber er geht weiter, sieht anderem Hopper, Ruisdael, Velasquez, Goya; auch Stifter wird als Maler erkannt. Alte Meister oder Moderne – derartige Etiketten, Zuschreibungen existieren für ihn nicht. Handke entdeckt das Grauen der Dämonen in Hieronymus Boschs Versuchung des Heiligen Antonius und betrachtet Marc Rothkos Bilder als "Meditationsflächen". Eine besondere Rolle neben Paul Cézanne spielt auch Nicolas Poussin.

Die Niederschrift seiner Bildbetrachtungen sind eine Herausforderung für den Dichter. "Die Augen üben sich im Sehen", schreibt Heuß, denn "[d]ie Bilder sind dem Autor nicht selbstverständlich verfügbar. Bildwirklichkeiten gebärden sich in den ersten Stunden der Kunstbetrachtung als feindliche Territorien, die allmählich erobert werden müssen." Eine wichtige Bemerkung. Denn selbst in den Journalen, die publizierten Ausschnitte seiner Notizbücher, finden die Kunsteindrücke Handkes selten Erwähnung. Freilich sind sie als "Zeugnisse der Wiedererinnerung" in den Erzählungen Handkes verfügbar und scheinen dort auf. Die Arbeit von Heuß, die diese Hervorbringungen dokumentiert, ist hier von großem Wert für die Forschung.

Bestimmend für Handke bleibt zunächst Paul Cézanne. Die Lehre der Sainte-Victoire bezeichnet Heuß als "poetisches Manifest". Handke habe Cézannes Malweise auf sein Schreiben übersetzt; Cézannes Ästhetik die Formsuche des Schriftstellers geleitet. Insgesamt findet Heuß dreißig Kommentare zu Cézanne in den Notizbüchern 020-024, einem Zeitraum von April 1979 bis März 1980 (das Typoskript zur Lehre schickt Handke dann im April 1980 an seinen Verleger).

Wenig bekannt ist über Künstler, denen Handke kritisch gegenüber steht. Bei van Gogh hat er seine Ablehnung später revidiert. Interessant wäre es gewesen, wenn Heuß auf Handkes Eintrag von 1987 über Picasso eingegangen wäre: "Picasso, der stereotyp gelobt wird wegen seiner "Verwandlungsfähigkeit": aber die Verwandlung ist doch etwas grundanderes als sein 'Auswählen'; sie liegt nie im Charakter des Künstlers, sondern im Wesen der Kunst(ausübung), und das Ausübende erlebt sie immer als Gewalt gegen sich, als sein mögliches Ende; erst wenn sich ein Übergang abzeichnet, war es, im nachhinein die Verwandlung, er hatte keine Wahl; es gibt keine Fähigkeit zur Verwandlung, sie ist das allerschmerzhafteste Maß (Cézanne, Beckmann); noch einmal [:] Picasso ist ein – wunderbarer Artist, aber kein 'Künstler'" (DLA NB 028 v. 16.09.-31.12.1981, Seite 109f). Heuß erwähnt eine Passage im Baumschattenwand-Journal, in der Handke noch Jahrzehnte später seine kritische Distanz zu Picasso bestätigte. Gerade der Unterschied, den Handke hier zwischen Picasso und Cézanne entwirft, wäre ein interessantes Feld.

Handkes Arkadien

Handkes einst avantgardistischen Anspruch über die Aufgabe des Schriftstellers sieht Heuß nun in der Bildpoetik präzisiert. Es gehe darum, "die Künstlichkeit der Literatur über eine Konfrontation der Sprache mit dem Bild-Medium zu erreichen. Während Cézannes Bilder auch gelesen werden können, vermögen Handkes Texte auch angeschaut zu werden" (Hervorhebung im Text). Handke erlebt die Bilder nicht nur von der Leinwand, sondern auch auf seinen Wanderungen in der Provence. Zehn Jahre später, im Januar 1990, ist der Zauber dann allerdings verflogen. In der Epipöe vom Verschwinden der Wege oder Eine andere Lehre der Sainte-Victoire sind große Teile der südfranzösischen Gebirgslandschaft durch einen Waldbrand vernichtet. Zurecht weist Heuß darauf hin, dass damit das Bildverlust-Denken Handkes konkreter wird.

Aber noch ist es nicht soweit. 1981 reist Handke wieder einmal in den Karst. Er findet hier, so Heuß, sein "Arkadien", gerät ins Schwärmen, was anhand der Notizbücher gut dokumentierbar ist. Auch hier gibt es Zeichnungen der Landschaft, entstehen Bilder, die sich später in Die Wiederholung wiederfinden lassen. Die Zeichnungen sind, so Heuß, elegisch – die Sprache idyllisch. Hölderlin und Virgil werden bemüht, und natürlich Goethe (der zurecht).

Den Fokus auf die Wieder-Holung der Ahnen, die Wurzel des von ihm selber leicht spöttisch genannten "Ahnenkults", die für Handke eine ebenso wichtige Rolle in dieser Zeit spielt wie die bildliche Evokation des Karst-Gebiets, kommt in Heuß' Betrachtungen zu kurz. Wie man in den Notizbüchern nachlesen kann, studiert Handke eben auch die Geschichte der Region, geht dafür weit zurück, studiert Dokumente zu den Bauernaufständen des 16. Jahrhunderts, findet Grabsteine mit "Sivec", dem Mädchennamen der Mutter, entdeckt sogar ein Urteil einer Todesstrafe aus dem Jahr 1714 für einen gewissen Gregor Kobal ("Kobal" ist der Familienname des Erzählers und der verschollene Bruder heißt "Gregor"). Und er begibt sich auf die Spuren seines realen Onkels Gregor, der einst in Ljubljana Obstbau studierte. Es ist sein Patenonkel, den er nie bewusst kennenlernte, der zwangsweise zur Wehrmacht eingezogen wurde und in einem Himmelfahrtskommando in Russland fiel. Handke entwirft hier auch die Erzählung der Familie seiner Mutter, eine Kärntner Slowenin und des Großvaters, der einst für den Anschluss Kärntens nach Jugoslawien abgestimmt hatte. Handke erlernt wieder die slowenische Sprache, übersetzt zusammen mit Helga Mračnikar Florjan Lipuš Der Zögling Tjaž. Es ist die Zeit, "als Jugoslawien anfing", ihm "etwas zu bedeuten" (Handke im Gespräch mit Wolfgang Reiter und Christian Seiler, 1996). Die Wiederholung ist werkgenetisch das erste Jugoslawien-Buch Handkes (es erscheint 1986; zehn Jahre nach der ersten Erwähnung des Titels in einem Notizbuch).

Heuß bleibt konsequent bei ihrem Thema. Ende der 1980er Jahre kündigt sich eine weitere Veränderung bei Handke an, den sie als einen "Medienwechsel zum Bild eine[r] polytemporale[n] Zeitordnung im Text" definiert. Die Zeichnungen Handkes werden seltener; die Bildbeschreibungen mehren sich. Im November 1986 beginnen vorbereitende Notizen mit dem Terminus "Bildverlust". Nach Präfiguration und Konfiguration überschreibt Heuß die Bildpoetik Handkes von 1986 bis 2002 mit der Antinomie Transfiguration – Defiguration. (Wer das nicht sofort versteht, muss weiterlesen.)

Romanisches Erzählen und Bildverlust

Handke gibt im November 1987 seinen Wohnsitz in Salzburg auf und bricht zu einer fast dreijährigen Weltreise auf, die von Heuß einmal als "Pilgerreise" bezeichnet wird. Es beginnt mit dem Besuch bei den "Bildern der Kindheit" in Griffen, "insbesondere der romanischen Stiftskirche". Heuß folgt hier Thorsten Carstensen, der 2013 Handkes diese neue Werkphase als Romanisches Erzählen analysierte. Er betonte, dass die Hinwendung zur Romanik, zu Bilderfolgen, die, in Sprache transformiert, Dauer erzeugen sollen, nicht mit einer  idealistischen Verklärung Handkes für das Mittelalter gleichzusetzen sei. Heuß sieht Handkes Hinwendung auf (beziehungsweise besser: an) diese Zeit als Rekurs auf eine "verlorene Blütezeit europäischer Geschichte". Hier zeigt sich für ihn ein "vereintes Europa" (Carstensen). Handke bewundert die "heitere…Glaubensgewißheit" dieser Zeit, die sich in den Bildern und Skulpturen zeigt, die er im Laufe seiner Weltreise in allen Regionen aufsuchen wird. Exemplarisch wird es das Bild der "Wurzel Jesse" sein, des ikonographischen Motivs vom Stammbaum Jesu, für Handke Sinnbild für "die lange Dauer historischer Prozesse" und, so Heuß, Hauptbild des Bildverlusts, der einher geht mit einem  kontinuierlichen "Welt- und Gottverlust". Handkes Betrachtungen und vor allem Beschreibungen der romanischen Bilder und Fresken – neben der Wurzel-Jesse-Variationen (wie beispielsweise in Wolfsberg oder San Frediano, Lucca, Italien) ist vor allem das Bild des weißen Engels von Mileševa östlich von Prijepolje zu nennen - verführt zur Deutung einer religiösen Hinwendung des Dichters, was von Heuß jedoch glaubwürdig entkräftet werden kann.

Dabei ist die Auslegung der mit der Chiffre Bildverlust versehenen Einträge in Handkes Notizbüchern kompliziert, weil, wie bereits erwähnt, aus ihnen zwei Erzählungen erschaffen werden. Zunächst erscheint 1994 Mein Jahr in der Niemandsbucht. Hier fungiert als Ich-Erzähler der inzwischen zum Schriftsteller gewordene Gregor Keuschnig, der in der Stunde der wahren Empfindung als Pressereferent an der österreichischen Botschaft in Paris tätig war und die Aufgabe hatte, die "sogenannten 'Kraftsätze'" über Österreich in den französischen Medien aufzuspüren und gegebenenfalls klarzustellen. Keuschnig hat sich in der sogenannten Niemandsbucht niedergelassen; einem Ort, der auch topographisch Parallelen mit Chaville, dem Wohnort des Dichters, aufweist und erinnert sich an sieben Freunde, die über die ganze Welt verstreut sind (was bei Heuß die Assoziation der sieben biblischen Sakramente aufkommen lässt). Er selber bleibt während der gesamten Erzählung nahezu statisch am Ort, während der zweite Roman, der aus den Notaten hervorgeht im Jahr 2002 als eine Art Road-Movie (sic!) anzusehen ist und den Titel Der Bildverlust trägt. Hier ist die Heldin eine "Bankfrau", die aus unbekannten Gründen zu einer Expedition durch eine vordergründig spanische (in Wahrheit jedoch künstliche, "spanisch-jugoslawische") Landschaft aufbricht.

Die Aussage, dass beide Erzählungen "komplementär" zueinander stehen, ist zu milde ausgedrückt. Es bedürfte einer genauen Analyse der Eintragungen in den Journalen, wann Handke die Trennung der beiden Erzähltexte vorgenommen hat (was schwierig ist, da die Notizbücher ab Juli 1990 nur begrenzt für die Forschung freigegeben sind). Obwohl Heuß konstatiert, dass die Aufzeichnungen Handkes "kein fassbares Konzept für das Bildverlust-Projekt" ergeben, sucht sie hinsichtlich ihrer bildpoetischen These zuweilen recht angestrengt nach Gemeinsamkeiten, etwa zwischen Keuschnig und der an anderer Stelle als "Kunstfigur" apostrophierten Bankfrau. Und sie kommt sie zu dem Schluss, dass "Handkes Bildverlust-Erzählungen nach der ihnen inhärenten Pendelbewegung von Transfiguration zu Defiguration Erzählräume zwischen dystopischem Weltpanorama und hoffnungsvoller Zukunftsvision" entfalten.

Hierarchische Ordnung von Bildern

Dennoch erscheint mir Der Bildverlust sowohl in Duktus als auch in der Komposition als eher singuläres Werk Handkes. Thorsten Carstensen macht darauf aufmerksam, dass die Erzählung um die Bankfrau – im Gegensatz etwa zu den Figuren Sorger, Kobal und Keuschnig – nicht nur "Ich-Verlust und Welt-Aneignung" zum Gegenstand hat, sondern über das "bloß Subjektive hinaus" geht, "da es erstens den Bildverlust zum Symptom einer fehlgeleiteten gesellschaftlichen Entwicklung erklärt und zweitens um die Dimension des Historischen erweitert ist." Man kann sogar so weit gehen, dass man die Niemandsbucht-Erzählung und das 2008 erschienene Werk Die morawische Nacht als komplementär im Sinne von fortschreibend, ergänzend rubriziert. Aber auch hier stellt sich wieder das Problem der Einsicht in die Werkstatt Handkes, seiner Notizbücher.

Wenn auch die zahlreichen Interpretationen, die beiden konträren Bildverlust-Erzählungen miteinander zu versöhnen, nicht zwingend erscheinen, so gelingen Heuß in der Analyse einiger Niemandsbucht-Figuren wie dem Maler dem Sänger (dem Großvater der Bankfrau oder Keuschnigs Sohn Valentin anregende und an die Bildpoetik schlüssig andockende Deutungen.

Zu dem zeugt Heuß Handkes "hierarchische Ordnung von Bildern" auf: "Den geringsten Wert besitzen dabei Abbilder, welche Wirklichkeit lediglich im Dienste ökonomischer Belange reproduzieren […] hernach gibt es solche Bilder, die auf der Grundlage von Ideen oder textueller Überlieferung ihre ästhetische Form generieren oder jene geistigen Bilder, die sich über die Einbildungskraft im Inneren des Menschen bilden, und schlussendlich gibt es sprachliche Bilder, die Bild-Welten kodieren und erst über das spezifische Sprachwissen zugänglich werden lassen."

Leider, und hier liegt ein Schwachpunkt von Heuß' ambitionierter und verdienstvoller Bildpoetik-Analyse, kommt die Auseinandersetzung Handkes mit den Bildern im Rahmen seiner Jugoslawien-Texte zu kurz. Der "Bildverlust" ist hier für Handke greifbarer als die aufgefundenen philosophischen Bezüge. Als Handke mit der Niederschrift seines Manuskriptes zu Der Bildverlust beginnt, steht er noch unter dem Eindruck der Jugoslawien-Kriege, der Zerstörung "seines" Arkadiens. Insofern ist ein Bildverlust eben auch der Verlust des einstigen Sehnsuchtslands von Handkes Ahnen, welches Gregor Keuschnig in der Niemandsbucht im Dialog mit Filip Kobal, dem einstigen Erzähler der Wiederholung "weiterhin vorleuchtet als Wirklichkeit". Diese "Wirklichkeit" war 2001, bei der Niederschrift der Erzählung der Bankfrau, endgültig vergangen.

Insofern ist die von Heuß nur gestreifte Komponente der Medienkritik Handkes bedauerlich, da sie in den Kontext einer Bildpoetik hineingepasst hätte. Etwa wenn am Ende im Bildverlust vom "Raubbau an den Bildergründen", den "gemachten, serienmäßig fabrizierten, künstlichen Bildern" gesprochen wird, "welche die mit dem Bildverlust verlorenen Wirklichkeiten ersetzen, sie vortäuschen und den falschen Eindruck sogar noch steigern wie Drogen, als Drogen." Carstensen weist darauf hin, dass die "postmoderne Theorie" dieses Phänomen als "Hyperrealität" bezeichnet und Handke seit der Lehre der Sainte-Victoire beharrlich dagegen angeschrieben habe und, so möchte man ergänzen, immer noch anschreibt (und dies im Bewusstsein des drohenden, am Ende nicht aufzuhaltenden Bildverlusts, der mit neuen Bildern kompensiert werden kann, werden muss. Genau diese Anstrengungen Handkes werden von Heuß ja sehr umfassend herausgearbeitet. Umso bedauerlicher, dass sie sich manchmal auf wenig fruchtbare Seitenstränge begibt, etwa "Verfallsphänomene des Barock" ins Spiel bringt oder Handkes Geräuschempfindlichkeit thematisiert (ohne freilich auf die Hörspiele in den 1970er Jahren einzugehen, die dies spielerisch aufnehmen).

Dabei hätte man sich trotz der Fülle des ausgebreiteten Materials zu einigen Punkten noch weitere Ausführungen gewünscht. Wie sind beispielsweise die zahlreichen Fotos einzuordnen, die Handke fortlaufend angefertigt hat (mit Einwegkameras macht dies Handke immer noch)? Etliche davon sind sicherlich privater Natur, aber auch hier könnte im Rahmen einer Bildpoetik eine Untersuchung interessant sein (auf der Webseite Handkeonline findet sich beispielsweise ein Selbstbildnis Handkes mit einem Portrait von Nicolas Poussin). Auch über Handkes Rot-Grün-Sehschwäche hätte man gerne mehr erfahren (es wird nur kurz gestreift), beispielsweise inwiefern farbige Zeichnungen diese wiederspiegeln oder ob womöglich Handkes Sympathie zur Helldunkel-Malerei Chiaroscuro insbesondere des spanischen Malers Francisco de Zurbarán hierbei eine Rolle spielt. Und man hätte sich vielleicht auch ein paar Bemerkungen zu den sogenannten Pilzdrucken gewünscht, die Handke mindestens zwischen 2017 und 2020 sporadisch vorgenommen hatte.

Am Ende findet sich noch eine treffliche Einordnung dessen, was man Handkes "In-der-Welt-Sein"-Ideal nennen könnte (den Einfluss Heideggers auf Handke sieht sie – zu Recht – als immanent). Es sei ein "ästhetischer Zustand, in dem die Ebenen Sprache, sinnliche Wahrnehmung und intelligibles Denken derart harmonisch miteinander verknüpft sind, dass ein momentanes Gefühl von Identität und Ganzheit entsteht – das Mysterium künstlerischer Wahrnehmung." Dem gegenüber steht freilich das Verdikt des Dichters: "Das In-der-Welt-Sein ist nicht meine Natur; deswegen ist es immer wieder solch ein Ereignis, wenn ich es bin" (DLA NB 065 v. 09.08.-20.10.1989, Seite 219f).

*   *   *

Und da erinnere ich mich an meinen letzten Besuch bei Handke. Wir saßen in einem portugiesischen Restaurant in Chaville und er erzählte von dem Dorfidioten, den er neulich nach längerer Zeit wieder gesehen hatte. "Idioten" sind für Handke Menschen mit besonderen Potentialen; es ist nicht als Beleidigung gemeint, eher im Gegenteil. Plötzlich schaut er zur Eingangstür und zückt Notizbuch und Stift. Der Mann, über den wir gerade geredet hatten, betrat das Lokal. Sofort begann er zu zeichnen; fast blind, sein Motiv im Blick habend. Ebenso schnell wie er begonnen hatte, steckte er sein Notizbuch wieder ein. Ich habe die Zeichnung nicht gesehen. Aber zuvor hatte er mir seine gestrigen Zeichnungen gezeigt. Handke sammelt weiter unermüdlich Bilder. Recht so.



Artikel online seit 13.07.22
 

Marit Heuß
Peter Handkes Bildpoetik
Notieren, Zeichnen, Erzählen
Wallstein Verlag
504 S., 69 Abb., geb., Schutzumschlag, 14 x 22,2 cm
€ 52,00
978-3-8353-5183-7

 

 


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