Von der Gewalt
Der belgische Journalist
David Van Reybrouck schreibt ein umfangreiches Buch über Indonesien und die
Moderne. Das ist lebendig geschrieben und anregend zu lesen. Er schildert die
holländische Kolonialisierung, die japanische Besetzung und die Befreiung und
Unabhängigkeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die ehemalige
holländische Kolonie nutzt als erste die Gunst der Stunde und erklärt sich für
unabhängig. Es wird eine Initialzündung für die Völker der drei Kontinente: sie
läutet eine Reihe von weiteren Unabhängigkeitserklärungen ehemaliger Kolonien
ein. Das wiederum hat großen Einfluss auf die weltweiten Massenbewegungen Anfang
der Sechzigerjahre, von denen der Mai 68 in Berkeley, Paris und Berlin nur
kleine Ausläufer sind. Die Moderne, die nach Heinrich Heine und Charles
Baudelaire Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris beginnt, setzt sich hier in
gewalttätigen politischen Eruptionen fort. Nicht umsonst lautet das erste
Kapitel in Frantz Fanons klassischem Werk Die Verdammten dieser Erde von
1961: „Von der Gewalt“.
Van Reybroucks Buch ist auch deswegen wichtig, weil es die Verhältnisse im
fernen Indonesien in einen nahen historischen Zusammenhang stellt, der bei der
Documenta Fifteen 2022 in Kassel nicht verstanden wurde. Dort hatte das
indonesische Kunstkollektiv Ruangrupa anscheinend, ohne zu wissen, worauf
es sich mit einer Ausstellung in Deutschland einlässt, ihr Konzept und
entsprechende Werke auch mit antisemitischen Motiven präsentiert. Umgekehrt
hatten die deutschen Kuratoren, die Indonesien ausgewählt haben, anscheinend
keine Ahnung davon, was es bedeutet, es mit einem Land zu tun zu haben, in dem
90 % Moslems leben. So wie die Mitglieder von Ruangrupa nach ihren eigenen
Aussagen Deutschland vor der Documenta nur vom Fußball her kannten, so
ahnten die deutschen Kuratoren wohl nichts davon, welcher strukturelle
Antisemitismus in moslemischen Ländern immer mitgeschleppt wird. Das Ergebnis
ist ein klassisches Beispiel für ein unproduktives Missverständnis. Hätten die
deutschen Organisatoren das Buch von David Van Reybrouck, das 2020 bereits auf
Holländisch erschienen war, vor der Eröffnung der Documenta zur Kenntnis
genommen: Wäre Vieles von dem, was dann dort zum Skandal führte, vermeidbar
gewesen?
Wer spricht?
Indonesien ist seit dem
17. Jahrhundert zunächst ein Handelsstützpunkt der Ostasienkompanie und wird
anschließend eine holländische Kolonie. Umfragen zeigen, dass viele Holländer
bis heute stolz auf ihre imperiale Vergangenheit sind. Die Belgier, die
zeitweise zu Spanien, Frankreich, Österreich und Holland gehörten, besaßen
ebenfalls ihre Kolonien wie den Kongo und ihre eigene brutale Geschichte damit.
Daher hat der Belgier David Van Reybrouck 2013 auch zunächst ein Buch über den
Kongo geschrieben.[1]
Anschließend kann er sich kritisch der holländischen Kolonialgeschichte
zuwenden, ohne aus nationalistischen Gründen die Augen vor den Brutalitäten
dieser Geschichte verschließen zu müssen. Das liest sich notwendig und
selbstaufklärerisch in einem europäischen Kontext, in dem in jüngster Zeit
wieder auf eine Rhetorik von nationaler Größe und ausgerollten Fahnen
zurückgegriffen wird. Überall finden sich Neigungen, die alten Großreiche wieder
offen zu feiern.
Narrationen gegen das Imperium
Unser Autor hat für sein
Buch jahrelang gründlich recherchiert. Ihm geht es vor allem um die Generation
derjenigen Indonesierinnen und Indonesier, die die Unabhängigkeit und die
indonesische Revolution herbeigeführt haben. Er setzt dafür auf oral history
und ein polyvalentes Erzählen auch in der Präsentation seiner Recherche.
Zeitzeugen werden vorgestellt, die in einer großen Montage ihre
Lebensgeschichten erzählen. Das ist sympathisch und verleiht dem Buch den
Charakter einer polyphonen Reportage, Robert Delaunays Ansicht des Eifelturms
aus verschiedenen Perspektiven (etwa von 1911) nicht unähnlich, nur eben als
Text. Manchmal wird den Narrativen dabei allerdings auch zu viel zugemutet: die
umfassende dreihundertjährige Geschichte der holländischen Kolonialisierung
Indonesiens beispielsweise wird schon mal als einzelne Erinnerung eines
Zeitzeugen ausgegeben.
Filmisch inszenierte Textbilder und unaufgelöste Spannungsbögen beherrschen von
Beginn an die Stilmittel des Buchs. Es beginnt in der Einleitung mit der
zunächst rätselhaft bleibenden Schilderung des Untergangs eines Liniendampfers.
Erst im dritten Kapitel erfolgt dann 80 Seiten später die Auflösung des Motivs:
der Dampfer, mit seinen drei Oberklassen und der Unterklasse dient als zentrale
Allegorie für die koloniale Klassengesellschaft des Inselarchipels. Dazwischen
werden mit weiter Geste Details aus verschiedenen Interviews eingestreut,
Atmosphären mit Einrichtungsgegenständen oder Verwandtschaftsbeziehungen
preisgegeben. Auf der Suche nach Aktualisierung geraten die multimedialen
Anlehnungen im Text aber zuweilen auch wieder durcheinander. So ähnelt das
zweite historische Kapitel einem Aufbau-Computerspiel wie Rise of Empires,
bei dem Kolonien gegründet, Ressourcen ausgebeutet und verschifft werden. Das
vierte Kapitel hingegen, das ausführlich von den verschiedenen islamischen,
kommunistischen und nationalistischen Bewegungen handelt, die in den ersten drei
Dekaden des 20. Jahrhunderts Massenbewegungen, Streiks und Aufstände in
Indonesien organisierten, erscheint wie das Drehbuch einer Serie bei Netflix:
Allegorische Personen treten auf, die mit den Vorgängen identifiziert werden
können, Landschaften und Settings werden in großer Zahl geschildert und vor
allem: alle Stränge werden auserzählt, bis der Leser vor geschichtlichen,
persönlichen und landschaftlichen Details und Namen der Kopf klingelt. Zum Glück
für seine Leserinnen und Leser gibt der Autor auch immer wieder zu Beginn der
entsprechenden Kapitel und an ihrem Ende zusammenfassende Darstellungen.
Zwei Kriege
Kurz bevor die
japanische Armee 1941 Pearl Harbor überfällt, beginnt sie Indonesien zu
besetzen. Hier gilt das Interesse den Rohstoffen, besonders dem Öl für die
Kriegsmaschinerie. Die Japaner behandeln die Indonesier zwar offiziell als
asiatische Brüder, benehmen sich aber wie in den anderen asiatischen Ländern
auch real als brutale Okkupanten. Die Indonesier kämpfen tapfer gegen den
Faschismus, auch in Europa. Als die Japaner 1945 vor den Alliierten
kapitulieren, haben 4 Millionen Indonesier als zivile Opfer und als Soldaten für
die holländische Kolonialarmee ihr Leben gelassen. Die Unabhängigkeitsbewegung
nutzt die Niederlage der Japaner, um die Freiheit Indonesiens auszurufen. Es
soll aber noch vier Jahre dauern, bis die Souveränität erreicht ist. Ein
blutiger Dekolonialisierungskrieg, der von den zurückkehrenden Niederländern als
„Polizeiaktion“ verhamlost wird, ist zuvor noch durchzustehen. Am 28. Dezember
1949 wird das Land schließlich unabhängig.
Der Geist von Bandung
Der eigentlich
angepeilte Gegenstand des Buches, die Bedeutung Indonesiens für die dekoloniale
Modernisierung der Welt aus der Perspektive der drei Kontinente, wird im letzten
Kapitel behandelt. Die titelgebende Revolusi und der Unabhängigkeitskrieg
der Indonesier gegen die Kolonialmächte waren schließlich erfolgreich. So wurde
der Inselstaat die erste in einer Reihe von unabhängigen vormaligen Kolonien,
ein Vorreiter für eine Welt ohne die Vermittlung der Europäer. Dafür steht die
Asien-Afrika-Konferenz in Bandung auf Westjava im Jahre 1955, die gegen den
Kolonialismus gerichtet war. Die 29 teilnehmenden Staaten, darunter Indien,
China und Ägypten, waren zwar unterschiedlicher Meinung zum Nord-Süd- und zum
Ost-West-Konflikt, einschließlich der Haltung zum Kommunismus. Aber hier stand
die Wiege der sogenannten Blockfreien Staaten, die nach den Vereinten Nationen
die größte Organisation der Welt bilden sollten.
Hier zeigt sich aber auch, dass der Autor mit dem beständigen Herausstreichen
der Wichtigkeit Indonesiens die damit einhergehende offizielle „große Politik“
der Konferenzen zu wichtig nimmt. Denn der Optimismus ist zugleich auch
gebremst. Zwar verbreitet sich im Anschluss der „Geist von Bandung“ für die
Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten. Die Bewegung der Negritude mit
Leopold Senghor, Aimé Césaire oder auch Frantz Fanon evoziert, dass die
nordafrikanischen Länder wie Algerien, Tunesien und Marokko sich von Frankreich
lossagen. Auch die Nachkommen ehemaliger Sklaven in Amerika beginnen ihre
Bewegung für gleiche Bürgerrechte aus dem Geist von Bandung. Doch schlagen auch
bald die repressiven Kräfte zurück. Reformer wie der schwedische
UN-Generalsekretär Dag Hammarsjöld werden ermordet, später auch Malcom X, Che
Guevara, Martin Luther King oder Salvador Allende 1973. Immer hat die CIA dabei
ihre Finger im Spiel.
Statt Revolusi ein Reversi?
In seiner Begeisterung,
die Dekolonialisierung auf Indonesien und den entsprechenden Einfluss
zurückzuführen, kommt in dem Buch von Van Reybrouck zu kurz, dass es auch Kräfte
in den ehemaligen Kolonien selbst gegeben hat, die den Prozess der Befreiung nun
von innen her sabotieren. Dieser Dimension hatte sich der erwähnte antillesische
Psychiater Frantz Fanon zugewandt, als er 1952 sein Buch Weiße Masken,
schwarze Haut über die komplexe Psychologie und widersprüchliche Innenwelt
der Kolonialisierten schrieb. Fällt der äußere Feind fort, richtet sich die
Gewalt oft genug nach innen. Aus diesem Konfliktstoff wollen heutige Aktivisten
einer neuen Negritude wie Achille Mbembe (Kritik der schwarzen Vernunft,
2014, Politik der Feindschaft, 2017) unter Verzicht auf dessen
Komplexität nur die euphorischen Seiten sehen. Theodor W. Adorno dagegen kannte
aus seinen Erfahrungen mit den entsprechenden Studenten in Oxford und Amerika
die Nachtseiten nicht allein der kolonialen Gewalt, sondern auch der
Dekolonialisierung. Er nennt 1951 seine bitterböse und heute politisch
inkorrekte Kolumne aus der Minima Moralia mit der Nummer 32: Die
Wilden sind nicht bessere Menschen. Dieser Text bildet die dialektische
Antithese gegenüber der Euphorie der Befreiung. Heute ist es der Philosoph und
Kunstkritiker Bazon Brock, der seinen Adorno wörtlicher als dieser sich selbst
nimmt.
Er bezeichnet die Veranstaltung der indonesischen Kunstkuratoren auf der
Documenta 15 totalitär im Sinne des herrschenden Kulturalismus und seiner
Kollektive: Vorrang gebühre nun auch hier der eigenen Kultur. Brock beklagt,
dass der vielgescholtene autonome westliche Kunstbegriff mit dem Individuum für
einen aufgespannten Kulturbegriff, der alles und damit nichts meint, aufgegeben
werde. Heraus käme oft genug ein umgedrehter Rassismus. In der offenen
Präsentation dieser Dummheit läge die einzige Wahrheit der Veranstaltung. Statt
Revolusi also Reversi?
Überschwang und Skepsis der Dekolonialisierung
Es ist nicht klar, ob
Brock mit seinem antizyklischen Lob des Individualismus gegen die in Kassel
dekolonialistisch angetretenen Kollektive aus Indonesien recht hat. Theoretisch
jedenfalls läuft die Frage, wer von den verdammten Kolonialisierten dieser Erde
am meisten gebeutelt wurde und wer daher das größte Recht besitzt, eine
Revolusi im Sinne des Geistes von Bandung zu machen: die Chinesen, die
Afrikaner, die Araber, die Ukrainer oder die Juden, auf eine Aporie hinaus. Wenn
also das Ganze zu einem Wettbewerb darüber wird, wem am meisten Unrecht getan
wurde, kann eine Perspektive auf die Geschichte einpacken, die sich von
Weltkonferenz zu Weltkonferenz hangeln will. Mit einem Blick darauf lässt sich
nur Symbolpolitik machen. Auch mit dem Hintergrund, den Van Reybrouck über
Indonesien und dem Geist von Bandung in seinem Buch ausbreitet, werden die
Probleme nicht weniger schwierig. Die Dialektik wird jedenfalls nicht gelöst,
indem die Kolonialisierungsländer in sich selbst neue Hierarchien reproduzieren
oder sich von den imperialistischen Kräften von außen dazu anstacheln lassen.
Die heutigen korrupten Verhältnisse in Ländern, die sich wie Algerien, Libyen,
Ägypten, Indien, Venezuela oder Nicaragua in der Periode, auf die unser Autor
abzielt, befreien konnten, sprechen eine deutliche Sprache.
Im Grunde sind wir nie unabhängig geworden
Die 92-jährige letzte
indonesische Gesprächspartnerin, von der in dem Buch die Rede ist, hatte diese
Entwicklung mitbekommen. Das Buch endet mit ihren ebenso eindringlichen wie
skeptischen Überlegungen:
»Cisca
Pattipilohy seufzte. Unser Gespräch hatte Stunden gedauert. Draußen tobte das
21. Jahrhundert. Sie sah bedrückt aus. »Wissen Sie«, sagte sie, um das Schweigen
zu beenden, »im Grunde sind wir nie unabhängig geworden. Wir dachten, wir
könnten mehr Gerechtigkeit schaffen, aber wir waren drei Jahrhunderte im
Rückstand. Dann hat man einen schweren Stand. Die andere Seite war stärker, das
kapitalistische System hat überall Fuß gefasst. Aber solange dieses System
besteht, geht die ganze Welt kaputt, und die Umwelt wird zerstört. Die Urwälder
von Sumatra, von Kalimantan, von ganz Afrika, alle werden vernichtet ...« Sie
schwieg. Im Haus war es still. Ihr Blick glitt über das Foto ihres Ehemanns zum
Fenster, an das leise ein kalter Amsterdamer Regen klopfte.«
In diesem Regen stehen nach der Lektüre der 750 Seiten auch
die Leser des Buches von David Van Reybrouck.
Artikel online seit 14.10.22
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David Van Reybrouck
Revolusi
Indonesien und die Entstehung der modernen Welt
Suhrkamp
751 Seiten
34,00 €
978-3-518-43092-7
Leseprobe & Infos
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