Ein kleiner Aufenthalt
Wer bisher
glaubte, das bekannteste Buch Rainer Maria Rilkes, die Briefe an einen jungen
Dichter, zu kennen, muss nun sein Urteil revidieren. Die neuste
Edition im Wallstein-Verlag bringt nicht nur (bis auf den ersten) die
Gegenbriefe des Adressaten Franz Xaver Kappus, sondern stellt sie in einem
luziden Kommentar auch in das richtige Verhältnis zu diesem. Kappus (1883-1966)
ist nicht der naive junge Militär, mit dem der acht Jahre ältere Rilke
(1875-1926) sich identifiziert, weil er als Knabe wie dieser auf der
Militärakademie gewesen ist und ihm jetzt Ratschläge wie ein großer Bruder
erteilt. Kappus‘ Briefe sind auch nicht minderwertig gegenüber den Antworten
Rilkes. Das zeigt sich besonders in Passagen wie im Brief vom 27. August 1904,
wo der junge Leutnant von seinen frühen homoerotischen Gefühlen und von einer
gleichsam Baudelairschen Passion für eine schöne Frauenhand berichtet. Der
Jüngere ist also keinesfalls nur der Empfangende, den man austauschen könnte. Im
Gegenteil, die neue Edition stellt heraus, dass Kappus nach dem Ende des Ersten
Weltkriegs Journalist und Schriftsteller, später dann Lektor beim Berliner
Ullstein Verlag wird. Und er ist 1929 verantwortlich für die Auswahl und
Herausgabe dieser an ihn gerichteten Briefe Rilkes.
Er nimmt damit also gleichsam die Rolle des Zöllners aus Bertolt Brechts Gedicht
„Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in
die Emigration“ ein, wo es aufgrund der Nachfragen des Beamten heißt: „Gut, ein
kleiner Aufenthalt“. Er ist also zu loben, weil er Rilke diese Briefe entlockt.
Seine eigenen Briefe aber sind durchaus auf der Höhe der ästhetischen und
lebensweltlichen Debatte. Der kluge Kommentar von Erich Unglaub zeigt das
hauptsächlich mithilfe von Verweisen auf jüngere französische Quellen. Kappus
regt Rilke durch kluge Fragen zu den entsprechenden Ausführungen an. Er wird
auch zu einem Stichwortgeber für dessen Duineser Elegien. So lenkt er im
Hintergrund das gemeinsame Unterfangen, für das Rilke seinen Namen abgibt.
Der junge Schüler als Konkurrent oder: All
about Adam
Kappus und Rilke
treffen sich zweimal persönlich. Aus Kappus‘ Briefen wird deutlich, dass der
junge Dichter für sich insgeheim den Gestus des Erbes kultiviert: der Assistent,
der besser sein will als die Diva. Wir kennen das Verhältnis, 1950 meisterhaft
in Szene gesetzt in dem Film All about Eve von Joseph L. Mankiewicz: Dort
gelingt es der jungen Bewunderin und Assistentin einer in die Jahre gekommenen
Filmdiva, diese schließlich erfolgreich zu ersetzen. Pedro Almodovar dreht 1999
mit
Todo sobre mi madre
ein Remake des Films. Der junge Schüler als Konkurrent: so ist auch das
Verhältnis des jungen Heinrich Heine zu Johann Wolfgang v. Goethe und des jungen
Theodor Adorno zu Walter Benjamin oder Max Horkheimer: Aufschlucken, das Erbe
übernehmen und der Bessere werden, ist hier die Devise.
Rilke riecht den Braten und lässt sich nicht die Wurst vom Brot nehmen;
angeknabbert aber hat der junge Dichter diese bereits. Denn Kappus ist auch
daran interessiert, über den Kontakt mit Rilke seine eigenen Gedichte und
Erzählungen an den Verlag zu bringen. Darauf insistiert er weiter, auch wenn
Rilkes Urteil über die zwei Gedichte, die er mitschickt, bereits im ersten
Antwortbrief vernichtend ist. Das sei nichts von Wert, schreibt Rilke, höchstens
etwas Persönliches daran keimhaft interessant. Kappus solle sich folglich
langsam bilden und sich vor allem die Frage vorlegen, ob das Dichten für ihn
lebensnotwendig sei oder nicht. Impliziert ist dabei immer das Urteil: Wir reden
weniger über die Gedichte als über das Leben. In den ersten Briefen bilden diese
das Anathema, über das nicht gesprochen wird.
Generationen von jungen Lesern haben Rilkes Briefe dann doch als
Schreibanleitung gelesen. Dabei erweisen sich die Gedichte von
Kappus als so schlecht nicht: Einige von ihnen
sind durchaus einfühlsam, von eigener expressiver Schönheit und auf der Höhe der
Zeit. Trotzdem wird jedem, der zu diesem Band greift klar, dass es auch Rilke
von der ersten Zeile an um eine erweiterte poetische Produktion und ihre
Voraussetzungen geht und sich das Buch tatsächlich an junge Schreiberinnen und
Schreiber richtet. Ältere und arriviertere Schriftsteller wie Arthur Schnitzler
erkennen dagegen, gleichsam außerhalb des Zaubers stehend, in den Briefen
auch Prekäres. So trägt Schnitzler am 14.1.1930 nach der Lektüre in sein
Tagebuch ein: „schön, tief; – und doch – man muss ja sagen ‚irgendwie‘ ein
heilloses Geschwätz. –“[1]
Und Schnitzler muss es wissen, veröffentlicht er doch selbst 1900 mit
Lieutnant Gustl ein genaues Psychogramm eines k. und k. Offiziers, das ihm
in der Folge sehr viel Ärger einbringt.
Das Ideal des echten Ausdrucks
Kappus ist also mit
seiner Bescheidenheit, die unter dieser Hülle einen eigenen Willen zur Macht
verbirgt, verantwortlich für die Briefausgabe Rilkes. Mit Recht weist der
Herausgeber Erich Unglaub darauf hin, dass die 30.000 Briefe Rilkes neben dessen
Gedichten und dem einen Roman ein zweites Werk bilden. Die Geschichte gerade
dieser Briefe ist spannend. Rilkes Rat, sich monadischer um sich und seine
Innerlichkeit zu kümmern, die Kritik beiseitezulassen und stattdessen auf die
eigenen Kräfte zu vertrauen, besitzt eine große Nähe zum späten Friedrich
Nietzsche. Unglaub richtet nur kurz sein Interesse darauf, mit welchen
sprachlichen Mitteln Rilke seine auratische Wirkung erzeugt.
Er hält sich hier an den ersten der berühmten zehn Briefe, in dem es um ein
Auf-sich-selbst-Beziehen und Abkapseln vor der Außenwelt geht: sich selbst
ausdrücken, echt und authentisch zu sein, bleibt das Wichtigste in dieser
Theorie. Damit steht sie im Zusammenhang von Nietzsches Donnerpathos im
Zarathustra und seinen späteren Werken, von Kandinskys Geistigem in der
Kunst, den Texten aus dem Almanach der Blaue Reiter, mit Hugo von
Hofmannsthals und Stefan Georges hohem Ton, aber auch mit Laszlo Moholy-Nagys
Malerei, Fotografie, Film, mit Walter Benjamins Kunstwerk Aufsatz und
auch mit Adornos Ästhetischer Theorie, die neben dem Bezug auf Hegel eben
auch die Idee der Authentizität durch die zeitgenössische Situation hindurch
dekliniert. Adorno rechnet den Dichter und seine Sprache freilich dem Jargon der
Eigentlichkeit zu.
Dialektik der Melancholie
In seinen Empfehlungen
an den jungen Dichter Franz Kappus entwickelt Rilke in solchem Kontext nach
Ausführungen über die Bedingungen des Schreibens, der Frage nach Gott und dem
Verhältnis von Geschlechtlichkeit und Liebe in seinem achten Brief aus Schweden
so etwas wie eine Quintessenz seiner Methode. Er spielt darin immer wieder die
entsprechenden Motive der existenziellen Einsamkeit durch: Der Mensch sei
einsam. Aber nicht wie in den Geschichten von Edgar Allan Poe sei er nur darin
gefangen, sondern zugleich auch angepasst an dieses Leben, das man bejahen
müsse. Und dann folgt die vielleicht schönste Stelle des Buches, wenn Rilke
schreibt:
»Wie
sollten wir jene alten Mythen vergessen können, die am Anfange aller Völker
stehen; der Mythen von den Drachen, die sich im äußersten Augenblick in
Prinzessinnen verwandeln; vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens
Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal schön und mutig zu sehen.
Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns
Hilfe will.«
Das ist eine poetische
Traumatologie, anziehend für alle traumatophilen Typen und ein zauberhaftes
Versprechen für sie. Es ist Rilkes späte Variante von Hölderlins Patmos-Hymne,
wonach dort, wo die Gefahr wachse, das Rettende nicht fern sei. Rilke entwickelt
in seinen Briefen eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens als eine
schaffende poetische Dialektik der Einsamkeit und Melancholie. Die
vaterländischen Motive stehen hier neben seinen anarchistischen Impulsen wie der
späteren Sympathie für die Münchner Räterepublik.
Rilkes Nachleben in der Populärkultur
Das sind die inneren
Motive der Briefe; Erich Unglaub verweist in dieser verdienstvollen Ausgabe
ausführlicher auf die äußere Rezeptionsgeschichte: über das New Yorker Actors
Studio und die Schauspielakademie von Paula und Lee Strasberg kommen Marilyn
Monroe, Dennis Hopper, Jane Fonda oder Dustin Hoffmann mit den Briefen in
Kontakt und verehren sie. Lady Gaga lässt sich sogar einige Zeilen auf den
Oberarm tätowieren, so sehr gehen ihr die Verse Rilkes unter die Haut. Obwohl
Unglaub nahelegt, dass sie annehme, es handle sich um Briefe an verschiedene
Verfasser, zeigt sich so der nahe Umgang mit dem Text: Er wird von der
jeweiligen Leserin und dem Leser in die eigene Seele hinein genommen.
Eine Schönheit zweiten Grades
Rilkes Briefpartner
Kappus aber weiß auch, warum er seine eigenen Briefe nicht veröffentlichen
wollte. Sie zeigen, dass Rilke ihn meint; das könnte zu störenden Gefühlen bei
den anderen Leserinnen und Lesern führen. Sie müssten erkennen, dass sie nicht
die einzigen sind. Rilkes Stil aber lebt neben einer Introspektion vor allem von
einer Individualisierung und Personalisierung. Er evoziert eine Initiation: Jede
Leserin und jeder Leser geht stillschweigend davon aus, dass sie selbst gemeint
sind. Hier hat Kappus bereits früh ein Gefühl für die Vermittlung von Literatur,
das ihm später zustatten kommt. Und damit dann auch wieder Rilke und der
Verbreitung seiner Briefe. Der neue Band klärt darüber auf. Er setzt anstelle
einer inneren Verehrung die neue Erkenntnis über das weitere Zustandekommen des
Scheins. Es ist eine dialektische Schönheit zweiten Grades, in der es keinen
falschen Antagonismus zwischen Kritik und Poesie mehr gibt. Jedenfalls nicht
einen solchen, wie Rilke ihn aufmachen will, wenn er Kappus rät, sich von
Kunstkritiken fernzuhalten und sich der Kultivierung der eigenen Innerlichkeit
zu widmen. Denn die gibt es so wenig wie eine rigide Vorstellung einer
realitätsgerechten Äußerlichkeit, gegen die sie sich richten soll.
Dissonanzen
Am zweiten
Weihnachtstag 1908 schreibt Rilke dann aus Paris. Das wird sein letzter Brief an
Kappus. Hier nimmt er ein patriotisches Gedicht auf, dass dieser ihm zuvor
geschickt hatte. Der Offizier, der am Meer auf Posten steht, vergleicht sich
dort mit einem Baum am Meer:
»Vor
meinem Fenster steht ein junger Baum,
er dreht im Sturme sich wie eine Fahne.
Er steht so fest und stolz und weiss es kaum,
dass ich sein ernstes, schweres Schicksal ahne.
Weit draussen wogt die See. Die Wellen schäumen
und ziehen weiss und leuchtend hin und her ...
Der junge Baum und ich, wir beide träumen
von deiner Pracht, du wildbewegtes Meer!«
Auch Rilke
imaginiert sich in seinem Kommentar selbst an die Stelle des Offiziers in der
Bucht von Cattaro in Montenegro, einem habsburgischen Kriegshafen gegen die
Türken. Er sagt Kappus lobende Worte über die Existenz als Militär, zollt ihm
Respekt für seine Einsamkeit, für das „Wirken des Blutes der Vorfahren in ihm“.
Mit anderen Worten, er erkennt ihn insgesamt als gleichwertig an. Im letzten
Absatz wettert er, sein Einverständnis voraussetzend, gegen die Journaille, die
Halbwahrheiten über den Künstler verbreite:
»Auch
die Kunst ist nur eine Art zu leben und man kann sich, irgendwie lebend, ohne es
zu wissen, auf sie vorbereiten; in jedem Wirklichen ist man ihr näher und
benachbarter als in den unwirklichen halbartistischen Berufen, die, indem sie
eine Kunstnähe vorspiegeln, das Dasein aller Kunst praktisch leugnen und
angreifen, wie etwa der ganze Journalismus es tut und fast alle Kritik und
dreiviertel dessen, was Literatur heißt und heißen will. Ich freue mich, mit
einem Wort, daß Sie die Gefahr, dahinein zu geraten, überstanden haben und
irgendwo in einer rauhen Realität einsam und mutig sind. Möchte das Jahr, das
bevorsteht, Sie darin erhalten und bestärken.«
Der von Rilke
gescholtene Journalist und Literaturagent wird dann allerdings jener Beruf, den
Kappus selbst ergreifen wird. Davon handelt dessen letzter Brief, den er zehn
Tage später am 5. Januar 1909 an den Älteren schreibt: „Eins quält mich vor
allem: Ich schrieb und schreibe viel, dass ich nicht schreiben muss.“
Auch gesteht er ihm, dass er mit der Einsamkeit nicht wirklich zurechtkäme. Am
Ende gar berichtet er ihm atemlos und in Kafkas Manier von einer unglücklichen
Liaison mit einer durchgebrannten Opernsängerin, die ihn in seinen Träumen
heimsuchte. So bekommt die Sache am Schluss des Buches selbst eine dionysische
Wendung hin zu einer realistischeren Welt als die von Rilkes apollinischem
Kunstideal allein. In dieser Edition der beiden Briefeschreiber bleiben die
Fadenenden der Geschichte lose. Sie werden am Ende nicht künstlich harmonisiert
oder verödet. Die Welt öffnet sich so auf eine andere Weise. Das alles lässt
sich aus dem schönen Buch von und über Franz Xaver Kappus und Rainer Maria Rilke
lernen.
Artikel online seit 11.07.22
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Rainer Maria
Rilke
Briefe an einen jungen Dichter
Mit den Briefen von Franz Xaver Kappus
Hg. und mit Kommentar und Nachwort von Erich Unglaub
Wallstein Verlag
148 Seiten
18,00 €
978-3-8353-3932-3
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