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Das Regime Putin

Sechs lesenswerte Bücher, die sich differenziert und hintergründig mit Putins langem Weg
an die Macht und seinen Visionen vom großrussischen Reich auseinandersetzen.

Von Gregor Keuschnig
 

Kondensat des Polit-Gossip
Der Brite John Sweeney, jahrelanger BBC-Reporter und ein erfahrener Kriegsberichterstatter, ist 64 Jahre alt. Er hat mehr als 240.000 Follower auf Twitter und trägt zumeist eine orange Mütze. Er war im Februar 2022 in der Ukraine, in Kiew (ich bleibe bei dieser Schreibweise) und erlebte den Kriegsbeginn hautnah mit. Seine jahrelange Beschäftigung mit Wladimir Putin und die Erfahrungen auch in diesem neuen Krieg (er fuhr unter anderem nach Butscha) hat er nun zu einem mehr als 300-seitigen Buch mit dem reißerischen Titel "Der Killer im Kreml" zusammengefasst. Es wird, so der Untertitel, "Wladimir Putins skrupelloser Aufstieg und seine Vision vom großrussischen Reich", behandelt.

Sweeney kennt Putins Kriegsführung, war in den 2000er Jahren mehrmals in Tschetschenien, berichtete von Zivilisten, die unter Artilleriefeuer fliehen mussten, obwohl ihre Evakuierung angemeldet war und sich mit weißen Fahnen bewegten. Er war bei der Abschussstelle der MH17 und sah Grausiges. Für ihn ist Putin niemand, der sich verändert hat – seine Brutalität war schon immer da. Die Bombenanschläge auf Wohnhäuser in Moskau 1999, die Geiselnahmen im Dubrowka-Theater 2002 und Beslan 2004 – alles Terroranschläge, die nach offizieller Lesart von tschetschenischen Terroristen verübt worden waren, aber, so einige Indizien Sweeneys, in Wirklichkeit "schwarze Operationen" des russischen Inlandgeheimdienstes waren, um die Brutalität im Krieg in Tschetschenien zu rechtfertigen und Putin als "starken Mann" zu zeigen.   

Die These, dass die Moskauer Anschläge auf Wohnhäuser vom FSB inszeniert worden sind, wird von der Geschichte um den "gescheiterten" Anschlag von Rajsan, als Zeugen eindeutig russisch-aussehende Bombenleger identifizierten, genährt. Auch zur Geiselnahme von 2002 gibt es zahlreiche Ungereimtheiten und ungeklärte Fragen (die vermutlich der Journalistin Anna Politkowskaya das Leben gekostet haben könnten). Sweeneys Einlassungen zu Beslan sind hingegen eher spekulativ.

Damit wird – leider – das Wesen dieses Buches deutlich. Diese Boulevardisierung ist umso bedauerlicher, als Sweeney wirklich umfangreiche und faktenbasierte Informationen über die (Un-)Taten Putins und seiner Regierung chronologisch, allerdings in populärem Duktus vorlegt. Die Liste ist lang: Anschläge, merkwürdige "Selbstmorde" von Oppositionellen, Verhaftungen, Morde, Vergiftungen und Verletzung völkerrechtlich verbindlicher Grenzen, völkermordähnliches Vorgehen in Kriegen und die Einlullung westlicher Staats- und Regierungschefs bis hin zur Unterstützung rechtsnationalistischer und linker Parteien in der EU und der Trump-Parteinahme im US-Wahlkampf. Das ist alles nicht neu, aber in der Aufzählung beeindruckend, weil man deutlich gemacht bekommt, wie diese Vorgehensweisen praktisch schon zur Nachrichtenroutine geworden waren, wobei die einzelnen Taten kurzfristig für Entsetzen sorgten, am Ende jedoch wieder rasch zum Alltag zurückgekehrt wurde. Manchmal verblüfft Sweeney den Leser, indem er scheinbar Unwichtiges berichtet, wie etwa die Liste der Verspätungen, die ausländische Staats- und Regierungschefs auf Putin warten mussten (man ist überrascht, wer am längsten warten musste).

"Hass ist der Erzfeind guter Aufklärungsarbeit", schreibt Sweeney einmal. Bisweilen verlässt er den Boden dieser Erkenntnis. Denn wenn zum Beispiel die sexuelle Orientierung Putins ins Spiel gebracht wird. Hier wird geschwankt zwischen Pädophilie, Bi- und Homosexualität bis hin zur Promiskuität. Er berichtet von diversen Geliebten und spekuliert über die der Zahl der Kinder. Gegen Ende werden die fünf angedichteten Krebserkrankungen des Kreml-Bosses referiert. Sicher, Sweeney nennt seine Quellen (meist Journalisten, also zweite oder dritte Hand) und weist jedes Mal auf den Gerüchtestatus dieser "Informationen" hin. Da hat jemand von einem gehört, der etwas gehört hat und man fragt sich, wem auf Dauer mit einem solchen bisweilen überbordenden Konvolut aus Schimären, Klatsch und Wunschdenken geholfen ist. So wird aus diesem Buch nicht nur ein Blitzableiter der Wut, sondern ein Kondensat des Polit-Gossip, dessen einziges Ziel wohl in der Katharsis des Lesers liegt, Putin auf die Schliche gekommen zu sein.

Mit Verve widmet sich Sweeney den sogenannten "nützlichen Idioten" Putins, womit vor allem europäische Politiker wie Le Pen und Salvini gemeint sind, aber auch Donald Trump und, klar, die Brexiter wie Farrage oder ein gewisser Gerhard Schröder. Sie alle hängen oder hingen irgendwie finanziell am Tropf des Kreml; die italienischen Parteien sogar illegal, wenn Sweeney recht hat. Als Brite geht er besonders hart mit den Konservativen ins Gericht, und hier – wie könnte es anders sein – mit Boris Johnson und dessen Verbindung zu Evgeny Lebedev, dem Sohn des ehemaligen KGB-Offiziers und jetzigen Oligarchen Alexander Lebedew (sic!). Evgeny hat inzwischen einen Baron-Titel und sitzt im Oberhaus;  ihm gehören zwei Zeitungen und ein Fernsehsender. Die Nähe zu Johnson ist offensichtlich und natürlich durchaus degoutant, zumal Evgenys Vater seit Februar diesen Jahres auf der Sanktionsliste der EU steht. Die Verbindungen zwischen britischen Institutionen und russischen Oligarchen sind ziemlich offensichtlich und wären näherer Erörterung wert.

Aber Sweeney interessiert es mehr, ob Boris Johnson tatsächlich an den "Bunga-Bunga"-Partys in Lebedevs "Palazzo Terranova" bei Perugia womöglich sogar im Bondage-Kostüm mit oder ohne Analplug teilnahm und somit kompromittierbar ist. Dies sei, so liest man, "nicht völlig abwegig". Aha. Wie erklärt er dann Johnsons Kurs – anders beispielsweise als der von Scholz – gegenüber der Ukraine seit dem 24. Februar? Sollte er einen Spaziergang mit Selenskyj durch Kiew gemacht haben, und gleichzeitig vom Kreml erpressbar sein? (Natürlich, so kann man einwenden, ist womöglich gerade das die Tarnung.)

Hart geht Sweeney mit der BBC ins Gericht, für die er bis 2019 gearbeitet hat; immer an der Schwelle zur Entlassung bzw. Einsparung. An einigen wichtigen Nachrichtenpositionen habe man allzu leicht Kreml-Positionen übernommen bzw. gegenteilige Berichte nicht oder nur geschnitten veröffentlicht. Hier wären weitere Details sicherlich interessant gewesen, aber seine Loyalität der BBC als Institution gegenüber ist wohl noch groß.

Der Charles Bukowski des Journalismus

Das Buch ist episodenreich. So fliegt er 2015 am Tag nach der Hochzeit seiner Nichte nach Jakutsk, wo Putin ein Museum eröffnet. Er verspricht sich davon die Möglichkeit, direkt, ohne den Moskauer Polizei- und Sicherheitsapparat, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Im Flugzeug aß er sich auf seinen Kater einen Döner. Da stand er nun und stellte Putin völlig überraschend Fragen nach dem Abschuss der MH17-Maschine und den Toten im Ukrainekrieg, der dort ein Jahr zuvor begonnen hatte. Putin stellt sich diesen Anschuldigen in einem langen Monolog in russischer Sprache – sehr zum Entsetzen seiner Entourage. Der Reporter steht dem Kreml-Chef Auge in Auge gegenüber. Sweeney ist schlecht; der Döner ist ihm nicht bekommen. Er fürchtet, sich vor den Augen Putins übergeben zu müssen. Aber er beherrscht sich – was er heute bedauert.

In diesem Stil ist dieses Buch geschrieben. Da wird nicht nüchtern mit historischen Analogien gearbeitet. Hier ist ein Reporter-Berserker am Werk, engagiert, parteiisch bis auf die Knochen (so würde er es ausdrücken); seine Vergleiche sind aus populären Medien. Der Ton ist rustikal, was man mögen kann oder nicht. Da ist schon mal von "Zecken" die Rede oder "Abschaum"; Nawalny ist eine "coole Socke" und ein russischer Agent ein "dussliger FSB-Schafskopf". Sweeney, der Charles Bukowski des Journalismus.       

Die angedeuteten Überlegungen über Putins großrussische Ambitionen bleibt der Autor hingegen schuldig. Sein Gespräch mit Alexander Dugin, dem Chefideologen des Kreml, bleibt fruchtlos. Deutungen von Putins Charakter werden additiv von verschiedenen Experten aufgebracht und gehen manchmal wieder ins Spekulative (etwa, ob er als Kind missbraucht wurde) oder ob er nicht doch ein unehelicher Sproß ist.
Sweeneys Buch ist sehr aktuell; er schloß erst im Mai oder Juni. Immer wieder flicht er reporterähnlich seine Eindrücke ein, berichtet von Einzelschicksalen. Vielleicht hätte er dabei bleiben sollen.

Der Kontrast
Der Kontrast zu Sweeney ist das Buch der britischen Journalistin Catherine Belton mit dem Titel "Putins Netz" (im Original unspektakulärer: "Putin's People"). Es erschien bereits 2020 in Großbritannien und in deutscher Übersetzung im Februar, unmittelbar vor Ausbruch des Krieges. Belton, einstige Reporterin u. a. für die Financial Times, hat jahrelang für dieses Buch recherchiert, zahlreiche Persönlichkeiten aus dem engeren und erweiterten Umkreis von Wladimir Putin interviewt, Abtrünnige wie Treue. Beruhigend: Über Putins sexuelle Orientierungen erfährt man nichts.

Insgesamt enthält das mehr als 700 Seiten dicke Buch 1728 Endnoten; davon zeigen 252 Nachweise aus anonymen Quellen, d. h. Personen, die nicht genannt werden wollten. Und dennoch gibt es zwei Personen, die immer wieder zitiert werden und so etwas wie das Gerüst der Recherchen bilden. Da ist zum einen Sergej Pugatschow, "Meister der verschlungenen Finanzgeflechte", Putins Banker und "Graue Eminenz", der plötzlich stürzte, nach Großbritannien ging, dort von den russischen Behörden gerichtlich drangsaliert wurde und jetzt in Frankreich lebt. Und Walentin Jumaschew, Jelzins früherer Leiter der Präsidialverwaltung und seit 2007 Ehemann von Jelzins Tochter Tatjana. Beide hatten Putin aus unterschiedlichen Gründen zur Macht verholfen und, wie sie glaubten, beraten. Sie sind überwältigt und erschrocken zugleich von der Entwicklung ihres Protegés. Pugatschow wird von Belton mehr als 400 Mal erwähnt; nicht immer stimmen seine Einschätzungen mit denen anderer Protagonisten überein, was auch herausgearbeitet wird.

Belton listet zunächst Putins Werdegang auf. Die erste größere Beschäftigung erfolgte als Verbindungsoffizier zwischen dem KGB und der Stasi in Dresden. Es war 1985, Putin war 32, sprach blendend deutsch (was er vorher gelernt hatte). Er hatte sich nach seinem Jura-Studium beim KGB beworben und wurde angenommen und ausgebildet. Belton widerspricht der allgemeinen These, dass die fünf Jahre, die Putin in Dresden verbrachte mit Ausnahme der DDR-Revolution 1989 eher beschaulich waren und versteift sie sich zu der These, daß er unter anderem an der Planung und Organisation von Terror-Anschlägen der deutschen RAF beteiligt war. Quelle ist ein nicht genannter Ex-Terrorist (und irgendwie hofft man, dass die Quelle nicht Peter-Jürgen Boock ist).   

Allianzen mit der Mafia

Im Februar 1990 kehrte Putin nach Russland zurück. Er kam nach Leningrad, der Stadt, die später wieder St. Petersburg hieß, bekam Anschluss an seinen ehemaligen Jura-Professor Anatoli Sobtschak, der Oberbürgermeister der Stadt werden sollte. Putin wird einer seiner Assistenten. Von nun an entwickelt Belton ihre Verve, schleudert dem Leser Namen, Verbindungen, Geldsummen, Organisationen um die Ohren, zeigt (und belegt) die Machenschaften nicht nur in Petersburg, sondern auch parallel in Moskau. Die Kämpfe zwischen Petersburger und Moskauer KGB- bzw. FSB-Leute, die fatale Wirtschaftspolitik Jelzins, der kurz zuvor die Sowjetunion mit einem Federstrich entsorgt hatte. Wieder war Putin Zeuge, wie ein System zusammenbrach; sein Wort, dass das Ende der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts sei, wird immer wieder zitiert.

Die Menschen wurden arbeitslos, litten Hunger, der Rubel verfiel, aber die Hilfsgelder versickerten zwischen organisiertem Verbrechen und korrupten Beamten und Politikern. "Das war der Auftakt zur Plünderung des sowjetischen Staates und auch der Auftakt eines Bündnisses zwischen dem KGB und der organisierten Kriminalität, das sich für beide Seiten als vorteilhaft erweisen sollte." Parallel entwickelten sich aus der kommunistischen Jugendbewegung, dem Komsomol, neue, junge Unternehmer; der berühmteste ist wohl Michael Chodorkowski. Sie stürzten sich auf dem Rohstoffhandel – Öl, Gas, seltene Erden, Düngemittel, Chemie. Man gründete eigene Banken, gab sich selber Kredite, verdiente Unsummen im Devisenhandel, nutzte Schlupflöcher, verbrachte Gewinne ins Ausland.

Der Staat war derart klamm, dass man von den neuen Tycoons Kredite nahm und ihnen zur Sicherheit Anteile an Öl- und Gasunternehmen übereignete. Als man nicht zahlen konnte, gingen sie in den Besitz der Kreditnehmer für den Bruchteil des realen Wertes über. "Das Land gehörte den Oligarchen. Der KGB schien sich in den Hintergrund zurückgezogen zu haben."

Kometenhafte Karriere in Moskau

Putin agierte zunächst in St. Petersburg, schmiedete Allianzen mit der Mafia, der "Tambow"-Gruppe und legte den Grundstein für das, was man später "Silowiki" nannte – Ex-KGBler und Mafiosi, die Drogenschmuggel betrieben, den Hafen unter sich aufteilten und Hilfsgelder veruntreuten ("Öl gegen Lebensmittel"). Als Sobtschak 1996 hauchdünn die Wiederwahl verpasste, trat Putin sofort zurück und machte sich auf den Weg nach Moskau. Es begann ein kometenhafter Aufstieg. Zunächst als stellvertretender Leiter der Liegenschaftsverwaltung stieg er nach noch nicht einmal zwei Jahren zum Chef des FSB auf. "Die Tatsache, dass Putin nur Oberstleutnant war und kein General, wurde weggewischt – man bezeichnete ihn einfach als den ersten zivilen Chef des FSB." Der Machtkampf begann: Putin mit seinen Petersburger Clans, die Moskauer Oligarchen und die Jelzin-Familie. 1998 drohte Russland der Staatsbankrott. Hinzu kam, dass Jelzins Alkoholprobleme und Krankheiten nicht mehr zu leugnen waren. Wer sollte die Nachfolge übernehmen? Belton schildert die Intrigen und Machtkämpfe im Hintergrund wie ein Shakespeare-Drama. Jelzin wehrte sich lange gegen diesen blassen Wladimir Putin, wurde aber derart bearbeitet, dass er ihn im August 1999 zum Ministerpräsidenten ernannte und schließlich am 31.12. im Fernsehen zum Nachfolger erklärte. Als erste Amtshandlung sicherte er Jelzin und seiner Familie für die drohenden Strafverfahren eine Amnestie zu.

Auch Belton untersucht die Terrorangriffe von 1999, 2002 und 2004, die Sweeney als "schwarze Operationen" apostrophiert, kommt jedoch zu keinem eindeutigen Ergebnis. Die Beweislage, dass der FSB der Urheber bei den Hochhausanschlägen war, hält sie für "dünn" – trotz Rjasan und der Inszenierung Putins als "Retter der Nation" und "russischer James Bond" in den Medien. Bezüglich des Anschlags auf das Theater 2002 zitiert sie aus einem Bericht, nachdem es sich um "das tragische Scheitern einer Verschwörung" gehandelt habe, "die nicht nach Plan gelaufen war". Demnach "wurde der Angriff auf das Theater von Nikolai Patruschew, dem mürrischen FSB-Chef, geplant, um Putins Präsidentschaft weiter zu festigen." Die Geiselnahme von Beslan 2004 hatte zur Folge, dass Putin wenige Tage danach die Regionalgouverneurswahlen in Russland abschaffte; das Land wurde nun zentralistischer.

Der Schwerpunkt des Buches liegt jedoch auf die verwirrenden finanziellen Transaktionen und Verflechtungen der Oligarchen und deren Widersacher, Putins "Silowiki"-Clique. Nach außen geht es zunächst ökonomisch aufwärts. Der hohe Ölpreis hilft dabei. Die Einnahmen sprudeln und trotz der Korruption entsteht so etwas wie eine Mittelschicht. Die Rentenzahlungen sind pünktlich. Putin inszeniert sich als Macher, wirbt um Investitionen aus dem Ausland und geriert Russland als Friedensnation mit westlicher Ausrichtung.

Die Jelzin-Oligarchen werden ersetzt

Im Hintergrund findet jedoch tiefgreifende Transformation statt. Putin beginnt sukzessive Medien und das gesamte Justizsystem unter der Kontrolle seiner Silowiki zu bringen. Und es geht um die Wirtschaft, um Gazprom, Rosneft, Sibneft, Jugansk oder Lukoil, um nur einige zu nennen. Irgendwann übernehmen die "Silowiki" das Ruder, schachern sich die Vermögen der Oligarchen der Jelzin-Jahre zu, die über windige Steuervorwürfe und konstruierte Vergehen praktisch enteignet werden – wenn sie Glück haben. Aus einer unbedeutenden Bank mit dem Namen "Rossija" wurde in kurzer Zeit ein Milliardeninstitut. Zur Not werden Gesetze noch nachträglich verändert – und die Aktionen der Oligarchen (die seinerzeit legal, wenn auch moralisch verwerflich waren) plötzlich zu kriminellen Akten. Milliarden US-Dollar wandern in die Taschen von Putins engerem Kreis. Chodorkowski, dem auch politische Ambitionen unterstellt wurden, wird sogar ins Arbeitslager geschickt, sein Unternehmen Jukos zerschlagen und unter Putins Leuten verteilt. Nach außen stellt Putin die Jukos-Sache als Ausnahme dar, um ausländische Investoren nicht zu sehr abzuschrecken.

Aber einer nach dem anderen wird gezwungen, sich den neuen Machtstrukturen anzupassen. Schließlich trifft es sogar Roman Abramowitch, der lange noch hoffen durfte, einen einigermaßen angemessenen Preis für seine Unternehmen zu erhalten. Die neuen Oligarchen wurden auf unbedingten politischen Gehorsam vergattert – das war die einzige Bedingung. Das Problem: Die Willkür des Regimes – ohne Vorwarnung und ohne Rechtssicherheit kann der luxuriöse Status unter fadenscheinigen Begründungen aberkannt werden. Nach außen propagierte Putin immer noch die marktwirtschaftliche Ausrichtung seines Landes. Und, was schlimm genug war, der Westen war lange bereit, dies zu glauben.

2008 waren die wichtigsten Weichen gestellt; Putin und seine Leute hatten nun freies Spiel. Verfassungsgemäß war jedoch eine weitere Präsidentschaft nicht mehr möglich. Der eher schüchterne und bisher kaum in Erscheinung getretene Dmiti Medwedew wurde nun zum Präsidenten gekürt – mit Putin als Ministerpräsident (der im russischen System eigentlich nur eine untergeordnete Rolle spielt). Kurz schien eine kurze Tauwetterperiode einzutreten; insbesondere die Beziehungen zu den USA sollten neu beginnen. Als Medwedew 2011 erklärte, dass Putin wieder zurück auf den Präsidentenposten kommen soll, brechen vereinzelt Unruhen aus. Putin, der den Zusammenbruch der DDR, die Revolten um den "Arabischen Frühling" und die sogenannten "Farbenrevolutionen" in der Ukraine und Georgien vor Augen hat, ist alarmiert. Als er 2012 gewählt wird (mit einem eher mäßigen Ergebnis von 64 Prozent), geht er härter gegen Kritiker vor und verschärft den Ton in der Außenpolitik, insbesondere im Verhältnis zur USA.

Eindrucksvoll sind die Ausführungen über Putins Einfluß auf die Ukraine und das Scheitern der "Orangenen Revolution" und von Juschtschenko, der mit großen Hoffnungen ins Präsidentenamt gewählt wurde (nachdem er fast vergiftet worden war). Mit einem Gaspreis-Coup, den Juschtschenko akzeptieren musste (die Ukraine stand vor dem Staatsbankrott) kaufte man sich in das politische System der Ukraine ein. Belton setzt dieses Mosaik Steinchen für Steinchen zusammen. Nach der Flucht des pro-russischen Präsidenten Janukowitsch durch die Proteste der Maidan-Bewegung 2014 griff Putin mit der Annexion der Krim und den "Volksrepubliken" im Donbass das Territorium der Ukraine direkt an. Belton lässt zwischen den Zeilen keinen Zweifel daran, dass dies erst der Anfang war.

Einflussnahme in Westeuropa

Über Schwarzgeldkassen werden unter anderem politische Parteien und Gruppierungen im Ausland unterstützt, die sich als Ziel die Destablisierung der EU vorgenommen haben. Belton verschweigt diese wichtige Komponente russischer, putinesker Politik nicht – im Gegenteil: In Italien, Deutschland (AfD und Die Linke werden genannt), Österreich (FPÖ), Bulgarien, Ungarn, Griechenland und auch Großbritannien (Brexit-Bewegung) werden und wurden extremistische, EU-ablehnende Organisationen unterstützt. Die Infiltration des Londoner Finanzplatzes durch Russland ist bemerkenswert. Im Gegensatz zu Sweeney verzichtet Belton jedoch auf die politischen Ranküne in Großbritannien.

Insgesamt folgt Russland damit einem Muster aus der Sowjetunion, die, wie Belton zeigt, fast bis zum Schluss kommunistische Parteien im Ausland finanziell unterstützten – selbst, als man selber kaum noch Mittel hatte. Das Kapitel über Trump und dessen Kontakte mit der russischen Unterwelt seit den 1900er Jahren ist informativ, wirkt aber, als es um die Clinton-E-Mails und deren Verbreitung geht, eher einsilbig. Man ist bis dahin schlichtweg von Belton detailreicheres gewöhnt.

Ein weiterer Schwachpunkt des Buches ist, dass viele zivilgesellschaftliche Ereignisse in Putins Russland übergangen werden. Weder die Ermordung von Anna Politkowskaya noch der dreiste Mord an Boris Nemzow – wenige Meter vom Kreml entfernt – finden Erwähnung. Auch das Russland bei der Zahl der ermordeten Journalisten einen unrühmlichen Platz einnimmt, erfährt der Leser nicht. Belton konstatiert, dass das russische Volk mit seinem Präsidenten irgendwann so etwas wie einen "ungeschriebenen Pakt" eingegangen sei. "Es entschied sich, die zunehmende staatliche Korruption, die wachsende willkürliche Macht des FSB und aller Zweige der Strafverfolgung über große wie kleine Unternehmen zu ignorieren. Dass die Freiheit der Medien beschnitten wurde, kümmerte die Menschen nicht, solange ihr Einkommen stieg, solange finanzielle Stabilität herrschte. Die Leute begannen zu leben wie ihre europäischen Nachbarn. Putin und seine KGB-Männer konnten anscheinend ins Gefängnis bringen, wen sie wollten, solange die aufstrebende Mittelschicht sich einen jährlichen Urlaub in Ländern wie der Türkei leisten konnte."

Die Fama der NATO-Osterweiterung
Geopolitisch misst Belton der (falschen) These, dass die NATO-Osterweiterung als Versprechen bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit 1990 eine Rolle gespielt haben könnte, durchaus Bedeutung bei – ohne dies dezidiert auszuführen. Eine These, die besonders in Deutschland noch populär ist. So schlägt auch die Journalistin und Auslandskorrespondentin Katja Gloger in ihrem 2017 erschienenen Buch über "Putins Welt" in diese Kerbe. Zwar hätte es keine schriftliche Zusage gegeben, aber die Äußerungen des damaligen amerikanischen Außenministers James Baker, dass es keine Erweiterung der NATO auch nur um" einen Zoll" nach Osten gebe, wird vorgebracht. Leider zeigt sich die Autorin in ihrem streckenweise gut lesbaren Buch hier nicht ausreichend informiert. In "Putins russische Welt" von Manfred Quiring wird dieser Ausspruch Bakers richtig eingeordnet: Mit "Osten" war das Gebiet der damaligen DDR gemeint, auf dem 1990 rund 400.000 sowjetische Soldaten stationiert waren. Damit wurde lediglich zugesagt, dass keine ausländischen Truppen vor einem Abzug der Sowjets einrückten und potentielle Konflikte vermieden werden. Quiring weist zu recht darauf hin, dass 1990 – also zum Zeitpunkt der Verhandlungen über die deutsche Einheit - keine Erweiterung der NATO um osteuropäische Länder hätte vorgenommen oder ausgeschlossen werden können, weil zum einen die UdSSR und, vor allem, zum anderen der Warschauer Pakt bestand und niemand zu diesem Zeitpunkt auf den Gedanken kam, das sich dies in absehbarer Zeit ändern sollte. Demzufolge stand eine Mitgliedschaft Polens oder anderer osteuropäischer Länder in die NATO gar nicht zur Diskussion. Hinzu kommt dann noch, dass Russland unter Putin lange Jahre diese Thematik nie als problematisch angesprochen hatte. Schließlich handelt es sich um souveräne Nationen, die ihre Bündnisse selbstbestimmt auswählen.

Gloger suggeriert, dass man Gorbatschow die Möglichkeiten, ein gemeinsames "Haus Europa" zu erschaffen, verweigert und ihm nicht "die Hand" gereicht habe. Sie bezieht sich auf sowjetische Vorschläge, die ein neutrales, wiedervereinigtes Deutschland ins Auge gefasst hatten. Für Kohl kam dies aus historischen Gründen nie infrage; die Gefahr deutscher "Sonderwege" wäre zu groß gewesen. Die Einheit habe man sich am Ende erkauft; Gorbatschow habe betteln müssen, um Geld zu erhalten und die Staatspleite zu vermeiden. Seine visionären Pläne hatte man, so die These, der Machtpolitik geopfert.

2001 im Reichstag:
"Höhepunkt der Täuschung und Selbsttäuschung"
Ja, diese Vorgänge wie auch der Abzug der Soldaten aus der DDR mag für die ehemalige "Siegermacht" "demütigend und ungerecht" zugegangen sein (so Lew Kopelew) und Quiring konstatiert, die Einheit sei aus heutiger Sicht ein "Schnäppchen" gewesen (Deutschland bezahlte insgesamt rund 20 Milliarden DM). Dies sei jedoch nicht der deutschen Politik anzulasten, sondern dem jahrzehntelangen Missmanagement der Sowjetunion. Wie fragil die Lage war, zeigte sich 1991 im Putsch gegen Gorbatschow. Man kann vermuten, dass unter Jelzin die Verhandlungen anders gelaufen wäre, obwohl der Niedergang der russischen Wirtschaft immer wieder drohte. Ende der 1990er Jahre, so schreibt Quiring, hatten die USA noch 3 Milliarden US-Dollar bereitgestellt, damit die in der Ukraine stationierten sowjetischen Atomwaffen sicher in russische Hand kamen.

Problematisch bei Gloger sind die nahezu hagiographischen Kapitel über Angela Merkel, die als "Weltkanzlerin" vorgestellt wird und, heißt es, Putin als Einzige einhegen könne, was nicht zuletzt an ihren Russisch-Kenntnissen liege. Den Schwarzen Peter bekommen von ihr der SPD-Koalitionspartner, die Beschwichtiger Steinmeier und Platzeck. Die Gasabhängigkeit habe in den 2000er Jahren mit Schröder größere Ausmaße angenommen, so Gloger, die im Buch in einer Endnote eine diesbezügliche Äußerung von Angela Merkel in der FAZ wiedergibt. Dabei hätte eine einfache Rechercheleistung genügt um festzustellen, dass die Menge der Gaslieferungen aus Russland unter der Kanzlerschaft Merkels noch einmal deutlich zugenommen haben und, wäre Nord Stream 2 ans Netz gegangen, noch größer geworden wäre.

Quiring räumt mit der These der sukzessiven Radikalisierung Putins seit den 2000er Jahren auf. So sei seine damals vielbeachtete, in deutsch vorgetragene Rede vor dem Deutschen Bundestag, in der er Russland als Hort von Frieden und Stabilität vorstellte und der nahezu alle Abgeordneten elektrisiert habe, der "Höhepunkt der Täuschung und Selbsttäuschung" gewesen, eine Meisterleistung der Ablenkung. Putin zog als ehemaliger KGB-Agent alle Register. Die großrussischen Pläne hätte er, so die These, auch damals schon gehabt – nur die Gelegenheiten noch nicht.

Sidekick Oliver Stone
Während in Berliner Regierungsstuben noch vom Technologietransfer mit Moskau geträumt wurde, skizziert Quiring 2017 die russische hybride Kriegsführung gegen den Westen – Desinformationen, nützliche Idioten, Trolle in sozialen Netzwerken und Kreml-Versteher. Zu letzteren gehört auch der streitbare amerikanische Regisseur Oliver Stone, der zwischen Juli 2015 und Februar 2017 an insgesamt neun Tagen den russischen Präsidenten Wladimir Putin interviewte. Daraus entstand ein vierstündiger Film und ein 350 Seiten starkes Buch mit den "vollständigen Abschriften".

Stone überzieht Putin mit Schmeicheleien, sieht in nahezu allen Handlungen amerikanischer Politiker von Roosevelt bis Obama (Trump war im Februar 2017 noch zu frisch im Amt),  Schuldige und steigert sich bisweilen derart in Verschwörungserzählungen, dass Putin sich einmal gezwungen sieht, ihn zu bitten, ihn "nicht in einen Antiamerikanismus hineinzuziehen". Insbesondere zu Beginn wirkt Putin gemäßigter als der Poltergeist Stone, der immer und überall amerikanische Geheimdienste als Unheilbringer wittert. Durchgängig spricht Putin in Bezug auf die USA von "Partnern" oder "Freunden". Im Laufe der Zeit holt er allerdings durchaus zu Volten aus, entdeckt in amerikanischen Medien "Gehirnwäsche", unterstellt den USA eine "imperialistische Logik" (im Gegensatz zu Russland) und versteift sich auf die Aussage, dass man Russland destabilisieren wolle. Natürlich waren die USA auch die Urheber der "Ukraine-Krise". Die NATO ist für Putin ein "Restorganismus" aus dem Kalten Krieg. Natürlich wird auch das Märchen des Wortbruchs der NATO-Osterweiterung gepflegt. Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, die der NATO neu beigetreten sind, wird als "Mythos" abqualifiziert. Die USA habe, so Putin, keine Verbündeten auf gleicher Augenhöre, sondern "Vasallen" (Stone stimmt natürlich zu).

Angesprochen auf die Beeinflussung des US-Wahlkampfs 2016 weist Putin jede Schuld von sich, wobei Sidekick Stone ihn fast beschwört, auf die Vorwürfe im Detail einzugehen, um sie schließlich damit zu entkräften. 
Stones Beflissenheit ist bisweilen peinlich, insbesondere bei seinen zahlreichen Fehlern. Etwa, etwa wenn er Putin darauf anspricht, dass er extra für einen Besuch in Guatemala französisch gelernt habe (kein Widerspruch). Relevanter ist Stones Hommage an Putins Regentschaft von 2000-2008. Er, Putin, habe unter anderem bewältigen müssen, dass "die Ukraine sich von Russland loslösen" und aus der "Russischen Föderation" austreten wollte. Putin korrigiert auch diesen Unsinn nicht – das macht er nur, wenn Stone die Inflationsrate um 0,1% zu schlecht darstellt.

Manche von Putins empirischen Fehler werden in den Endnoten korrigiert (etliche Aussagen von ihm erfahren auch "Bekräftigung" – häufig mit Belegen von zweifelhaften Medien und prägnanten Thesen wie die Bezeichnung für Gaddafi als "standhafter Verteidiger seines Landes"), andere – etwa Propagandaaussagen – bleiben unwidersprochen. Etwa wenn der Giftangriff auf den ukrainischen Präsidentschaftskandidaten Jutschtschenko als Behauptung abgewiegelt wird, so habe sich der Mann selber mit Dioxin vergiftet. Oder wenn Putin meint, die USA hätten – im Gegensatz zu Russland in Syrien – damals in Vietnam "gegen die Regierung" gekämpft. Ab und zu widerspricht sich Putin selber, beispielsweise wenn er die Zahl der russischen Streitkräfte mit 1,2 Millionen Soldaten angibt und davon spricht, dass man noch 1 Million "neuer Soldaten" brauche aber später dann angibt, die Streitkräfte reduzieren zu wollen.

Die Schuld des Lamms

Zwar spricht Stone viele heiklen Themen an (Ukraine, Syrien, Verhältnis zur USA). Andere kommen nicht vor – die Drangsalierung der Opposition, die Journalistenmorde, der Tod Nemzows. Putin bekommt Gelegenheit seine Agenda abzuspulen; Stone hat dem wenig  entgegenzusetzen. Er lässt sich abspeisen, als es zum Beispiel um die Annexion der Krim geht (Putin bezieht sich hier auf das Referendum, verschweigt jedoch die Vorgeschichte) oder um den Sturz von Janukowitsch 2014, den er schlichtweg als Staatsstreich bezeichnet. Die Drohgebärden Russlands gegen die Ukraine im Vorfeld werden ignoriert. Entweder weiß Stone davon nichts, oder er will es nicht wissen, weil er sowieso überall die USA bzw. den CIA als Urheber ausmacht. Von Kriegsverbrechen in Tschetschenien und später Syrien scheint er auch nichts mitbekommen zu haben; Putins Leierkastenrede, dass man mit Assad den "legitimen Vertreter" Syriens auf dessen Wunsch hin unterstützte, wird unwidersprochen akzeptiert. Er schmeichelt Putin sogar noch, in dem er behauptet, dass dieser Obama in Syrien "die Haut" gerettet habe und preist die "Rückeroberung von Aleppo" durch das russische Militär, was zu einer schwer auszuhaltenden Suada Putins über seine Friedensmission in Syrien führt. Zwar befragt Stone Putin hinsichtlich des Staatsmonopolkapitalismus – aber der Befragte weiß geschickt, die Mär von der "Marktwirtschaft" Russlands auszubreiten.

Nur selten bröckelt kurz die Fassade. Als Stone mehrfach insistierend fragt, ob Russland hinter den Hackerangriffen stecke und nach Beweisen fragt, "die Russland zu seiner Verteidigung vorbringen könnte", kontert Putin vielsagend: "Es gibt zumindest keine Beweise dafür, dass wir die Schuldigen sind." Die Gerassimow-Doktrin ist Stone vermutlich nicht bekannt – sonst hätte er dies in seine Fragen zum Cyberkomplex einflechten können. Putins Gesprächsführung ist von hoher Professionalität: er wechselt zwischen bescheiden (was der Status als "Supermacht" angeht), jovial, selbstbewusst ("Russland ist ein autarkes Land") und ruppig (Russland müsse sich "vor niemandem…rechtfertigen"). Manchmal wird er fast wehleidig, etwa wenn er jammert, dass die "Partner" ihm Informationen vorenthalten oder einfach nicht ihm reden wollen.

Ein humoristischer Einschub Putins bekommt nachträglich noch eine besondere Bedeutung. Er zitiert eine Fabel des russischen Dichters Iwan Krylow. Es geht um einen Dialog zwischen einem Wolf und einem Lamm. "Das Lamm wehrt sich gegen alle Vorwürfe des Wolfs und weist erfolgreich die Schuld von sich. Als dem Wolf dann die Argumente ausgehen, beendet er die Diskussion, in dem er sagt: 'Liebes Lamm, deine einzige Schuld ist, dass ich dich verzehren will.'" Die Replik Putins wird mit der in eckigen Klammern gesetzten Bemerkung "Gelächter" beendet.

Stone ist historisch und intellektuell Putin nicht gewachsen. Er feiert seinen Scoop. Seine Schmeicheleien dienen nicht dazu, Putin aus der Reserve zu locken. Der zeithistorische Wert der Interviews ist begrenzt, da Putin seine allseits bekannten Propaganda-Linien nur sehr selten verlässt.

Raum für die Wissenschaft
Danach ist es dringend notwendig, sich den Problemen wieder systematisch zu nähern. Dabei hilft ein Band, der kurz vor dem russischen Ukraine-Feldzug erschienen ist. Er trägt den sperrigen wie missverständlichen Titel "Lehren aus dem Ukrainekonflikt", erschien im kleinen Verlag Barbara Budrich und ist herausgegeben von Andreas Heinemann-Grüder, Claudia Crawford und Tim B. Peters. Tatsächlich wird suggeriert, dass der "Ukrainekonflikt" zum Zeitpunkt der Niederschrift der Texte (vermutlich Ende 2020; in einigen wird der letzte Bergkarabach-Krieg noch eingearbeitet) irgendwie abgeschlossen war, was natürlich nicht stimmte.

Glücklicherweise sprechen die zwölf Aufsätze eine andere Sprache. Zunächst untersucht Andreas Heinemann-Grüder die unterschiedlichen Erklärungsmuster für die russische Annexions- und Destablisierungspolitik 2014 – Krim und Donbass nebst Etablierung der beiden "Volksrepubliken". Die vier aufgeführten Makroerklärungen erkennt man leicht wieder, wenn es um die Ereignisse seit dem 24.02.2022 geht. Offensive wie defensive sogenannte Realisten, die im wesentlichen Russland als potentielle Großmacht sehen und entschuldigen ("kumulative Enttäuschung" über den Westen; Übernahme des russischen Bedrohungsnarrativs), treffen auf situative Deuter, die in den ausbleibenden Reaktionen des Westens auf die Aggression in Georgien einige Jahre zuvor eine Ermutigung Putins sahen. Die Unruhen in der Ukraine spielten Russland in die Hände. Zudem gibt es Kreml-Deuter, die glauben, dass Putin aus innenpolitischen "Legitimationszwängen" gehandelt habe. Meist wird eine "Radikalisierungsdynamik" des russischen Regimes konstatiert.

Die Reaktionen des Westens (hier stets als normativer Begriff verstanden, nicht als geographischer Zuordnung) auf die völkerrechtlichen Verletzungen der Ukraine sind sehr unterschiedlich. Deutschland setzt auf die entspannungspolitische Karte, bemüht "Wandel durch Annäherung" bzw. "Wandel durch Handel". Viele osteuropäische Ländern indes bevorzugen Eindämmungs- und Abschreckungsmechanismen bis hin zum Regimewechsel in Russland. Letzteres ist, darin besteht kein Zweifel, kaum im Interesse in der USA, weil damit die Gefahr droht, dass in einem zerfallenden Russland die Kontrolle über die Nuklearwaffen verloren gehen könnte. Putins Reden über die Absicht der USA in dieser Hinsicht (siehe auch bei Stone) sind schlichtweg falsch.

Strategisch unterentwickelte Akteure

Stefan Meister untersucht die deutsch-russischen Beziehungen. Berlin trete dabei als "Anwalt Moskaus in der EU" auf, dessen kooperativer Ansatz im Großen und Ganzen ins Leere verlaufe. Nach 2014 habe man als "inkonsequenter Akteur" agiert – Sanktionen einerseits, Nord Stream 2 andererseits. Im Kreml hingegen sei Deutschland nur als Wirtschaftssubjekt von Interesse. In zwei weiteren Aufsätzen von Wolfram Hilz und André Härtel werden die außen- und geopolitischen Möglichkeiten und Handlungen der EU eingehend beleuchtet. Die Resultate fallen nicht sehr schmeichelhaft aus. Ergebnisse stehen in starkem Kontrast zur vollmundigen Rhetorik aus Brüssel. 2014 waren die Institutionen der EU nicht handlungsfähig; es gab stattdessen trilaterale Treffen (Frankreich, Deutschland, Polen) und später das sogenannte "Normandie-Format" (Deutschland und Frankreich mit Ukraine und Russland). Die EU sei, so Härtel, ein "strategisch unterentwickelter Akteur", der allenfalls mit finanziellen Zuwendungen zu zivilen Projekten in innerstaatliche Entwicklungen (hier: in der Ukraine) eingreifen kann. 

Für Igor Gretsky ist Russland eine "Petrokratie", weil man sehr stark am Ölpreis, dem wichtigsten Exportgut, abhänge. Putins "gute Jahre" hängen mit den Vervielfachung des Weltmarktpreises zusammen; als dieser zurückging, stagnierte die durch Korruption unterwanderte Wirtschaft. Soziologisch stellt er fest, dass die Mehrheit der ab 55jährigen die imperialistische Politik Putins unterstützen – sie stellen auch das Hauptkontingent der Fernsehkonsumenten und haben noch Erinnerungen an die Sowjetzeit, die bisweilen verklärt wird. Die seit 2020 verstärkt aufkommenden Drohungen Putins und seiner Regierung, Russland notfalls mit Atomwaffen zu verteidigen, bewertet diese Bevölkerungsgruppe als besondere Stärke. Geradezu prophetisch die Aussage, dass die Repression im Inneren Russlands noch zunehmen wird.

Interessant der Aufsatz von Heinemann-Grüder und Olena Shevchyk über die sechs sogenannten "De-facto-Regime" auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion: Abchasien, Süd-Ossetien ("Alania"), Transnistrien, Nagornyj Karabach (Arzach) sowie die beiden Donbass-Volksrepubliken, die, allesamt als Provisorien erscheinend, erstaunlich lange halten (die meisten werden direkt oder indirekt von Moskau alimentiert). Notwendig insbesondere für Kreml-Adepten der präzise Aufsatz von Mariana Budjeryan und Andreas Umland über Russlands Bruch des Budapester Memorandums.

Während Heinrich Brauß und Erhard Bühler die neuen Herausforderungen und Handlungen der NATO seit 2015 dokumentieren, liefert Alexander Hug einen Einblick in die OSZE-Mission im Donbass (genau: OSZE SMM). Die Kleinteiligkeit und Geduld, die hier erforderlich ist, erzeugt beim Leser Bewunderung für diejenigen, die sich dem aussetzen. Hug spart nicht mit Kritik und kritisiert die fehlende "politische Rückendeckung" der Teilnehmerstaaten für die Mission, die bis zum Desinteresse geht. Zur Erinnerung: Die OSZE ist bzw. war der einzige multilaterale Beobachter, nachdem die EU sich hier verabschiedet hatte. Aus polnischer Sicht kommentiert Lukasz Adamski den Ukrainekonflikt, wobei er das Wort in Anführungszeichen setzt. Mit rund 13.000 Toten sei hier ein Krieg im Gange; "Konflikt" hält er für einen Euphemismus. Des Weiteren verwendet er die Bezeichnung "russisch-ukrainischer Krieg" statt auf die Ukraine alleine zu fokussieren.

Rainer Schwalb kommentiert in seinem Aufsatz über das militärische Konfliktmanagement Versäumnisse. So weist er auf die doch insgesamt eher milden Sanktionen der EU hin (die sich, wie man vorher lernte, von denen der USA unterscheiden). Sanktionen sollten, so Schwalb, "zielorientiert, politisch wirksam und angemessen sein und sie müssen in eine nachvollziehbare Gesamtstrategie eingebettet sein, andernfalls bleiben sie wirkungslos und werden lediglich als Bestrafung angesehen". Es sollte auch abgestufte "Belohnungen" geben. Die OSZE-Mission bewertet Schwalb ab Frühjahr 2015 als sinnlos; zu eingeschränkt und unterbesetzt seien die Kontrolleure gewesen. Ferner wird die rasche Beendigung der Militärkontakte zwischen der NATO und Russland als fundamentaler Fehler bezeichnet. Auch dass man von Seiten der NATO frühzeitig militärisches Eingreifen ausgeschlossen habe, sei ungeschickt gewesen. Schwalb hat, was die strategische Ausrichtung des Westens angeht, hier zweifellos einen Punkt. Aber ein direkt militärisches Eingreifen der NATO war und ist ausgeschlossen, weil damit das Bündnis sofort Kriegspartei wäre.

Exportgut Angst

Die Aufsätze der Politikwissenschaftler und Militärs im Band sind durchweg gut lesbar und von frei von sprachlichem Kauderwelsch. Am Ende fasst Heinemann-Grüder noch einmal die Situation zusammen – die sich kurioserweise nicht verändert, sondern nur verschärft hat: Russland habe sich bereits unter Jelzin in den 1990er-Jahren wieder als Reich, als Imperium, und nicht als Nationalstaat definiert. Putin habe das "russische Versailles-Syndrom" in die Gesellschaft implantiert und gründet darauf seine Ansprüche. Keinen Zweifel gibt es, dass auch die Ukraine Fehler begangen habe; es wird ausdrücklich auf den schlechten ökonomischen Status hingewiesen und die grassierende Korruption. Natürlich rechtfertigt dies in keiner Weise die russische Kriegspolitik.

Manfred Quiring schreibt an einer Stelle, das wichtigste Exportgut Russlands sei nicht Öl oder Gas, sondern "Angst" – die Angst des Westens, genauer: der Bevölkerung des Westens vor einen atomar bewaffneten Russland, vor einem "Weltkrieg". Die rhetorischen Wortgewitter aus Moskau haben nach dem Ukraine-Feldzug noch zugenommen; im Staatsfernsehen ergötzt man sich an Drohgebärden gegenüber dem Westen und äugt auf die Reaktionen.

Was man nicht unbedingt erwarten konnte: Russlands Schulterschluss mit dem autoritären, in Bezug auf Taiwan ebenfalls imperialistischen China. Jetzt verdingt sich das rohstoffreiche aber ansonsten ökonomisch eher zurückgebliebene Russland als Energielieferant Chinas. Auch Indien, die größte Demokratie der Welt, orientiert sich nicht nur im Rahmen des BRICS-Verbunds mehr Richtung Russland und China. Realisten sehen dies mit Besorgnis, zumal die Europäische Union als geopolitischer Akteur weiter ausfallen wird. Insgesamt hat sich der Westen zu lange im Spiegel selber bewundert; der Sündenfall der USA 2004, die mit Lügen begründete Invasion des Irak durch die USA, sitzt tief.

Wie die Politiker waren auch die meisten Publizisten, insbesondere in Deutschland, naiv und blauäugig. Selbst nach der Krim-Annexion und dem Donbass-Krieg ab 2014 glaubten sie, Putin einhegen zu können – noch bei Gloger klingt dies an. Fast alle unterschätzten die großrussische Strategie der "Föderalisierung der Ukraine mit Moskauer Vetorecht" (Stefan Meister). Rückwirkend kommt es einem vor wie einen langen Weg, den Putin zielgerichtet vor mehr als zwanzig Jahren aufgenommen hat.

Daher ist die Lektüre der zeitlich zurückliegenden Bücher durchaus lohnend. Man lernt, wie Putins Russland sowohl innen- wie außenpolitisch immer weiter an der Eskalationsspirale gedreht hat. Der vorläufige Höhepunkt ist der 24. Februar 2022. Eine nachhaltige Strategie des Westens existiert nicht; er kann nur auf den Aggressor reagieren. Die Ukraine wird militärisch unterstützt, aber es wird unterschieden zwischen Defensiv- und Offensivwaffen – was in der Praxis kaum möglich ist. Freilich ist zu berücksichtigen, dass die Ukraine kein NATO-Mitglied ist und insofern auf das Goodwill der führenden NATO-Länder – insbesondere natürlich der USA – angewiesen bleibt. Im Gegensatz zu den westlichen Regierungschefs, die sich Wahlen zu stellen haben, braucht Putin keinerlei diesbezügliche Rücksichten nehmen. Solange das Geschäft der Oligarchen läuft (der Ölpreis hoch bleibt), kann er weiter Krieg führen. Eine zivile Opposition existiert in Russland nicht mehr; ihre Protagonisten sind entweder tot, im Exil oder im Gefängnis. Trübe Aussichten.

Artikel online seit 11.08.22
 

John Sweeney
Der Killer im Kreml
Intrige, Mord, Krieg
Wladimir Putins skrupelloser Aufstieg und seine Vision vom großrussischen Reich
Heyne
336 Seiten
14,99
978-3-641-30183-5

Catherine Belton
Putins Netz
Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste
Übersetzt von Elisabeth Schmalen & Johanna Wais
Harper & Collins
704 Seiten - 26,00 €
9783749903283

Katja Gloger
Putins Welt
Das neue Russland und der Westen
Piper Verlag
400 Seiten, Broschur
978-3-492-31040-6


Manfred Quiring
Putins russische Welt
Wie der Kreml Europa spaltet - Ch. Links Verlag
264 Seiten - 18, 00 €
978-3-86153-941-4

Oliver Stone
Die Putin-Interviews
- Übersetzt von Peter Hiess
Mit einem Vorwort von Robert Scheer
Kopp Verlag
368 Seiten - 9,90

Andreas Heinemann-Grüder, Claudia Crawford, Tim Peters
Lehren aus dem Ukrainekonflikt
Krisen vorbeugen, Gewalt verhindern
Verlag Barbara Budrich - 34,90 
978-3-8474-2555-7


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