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Verschwörungstheorie ohne
Verschwörer
Von Jürgen Nielsen-Sikora |
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»Zynische Theorien« ist ein überaus wichtiger Beitrag in Bezug auf die Entwicklung der Debattenkultur insbesondere im akademischen Milieu. Pluckrose und Lindsay widmen sich in ihrem Buch jenen Theorien, die die postmoderne Idee, in der objektive Wahrheit ein inzwischen überholtes Konzept der Aufklärung sei, aufgreifen. Namentlich zählen hierzu zunächst moderne Klassiker wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Judith Butler, Richard Rorty, Jean-François Lyotard, Jean Baudrillard, Gilles Deleuze und Roland Barthes, die seit den 1960er Jahren den philosophischen Diskurs maßgeblich mitgeprägt, und einen gravierenden Wandel im Denken der Geistesgeschichte vorangetrieben haben: An den Universitäten setzte ein neuer radikaler Skeptizismus ein, der sich in Fragen nach der Funktion von Sprache, von Realität, Wahrnehmung und Diskurs äußerte. Auch ging damit eine erste Kritik am Wissenschaftsbetrieb selbst einher. Zudem erhielten kulturelle und ethnische Unterschiede sowie gesellschaftliche Machtstrukturen im Kontext der Migration vermehrte Aufmerksamkeit. Der Konstruktivismus und andere relativistische Positionen waren bald en vogue. Die Thesen: Das Selbst (Ich) ist sozial konstruiert, die Identität das Ergebnis kultureller Einflüsse. Auch das Wissen sei durch Kulturen geprägt und produziere Machtsysteme. Letztlich sei auch die Moral ein Konstrukt (vgl. S. 31), Wahrheitsansprüche allein die Folge kultureller Prägungen. Michel Foucault spricht in diesem Zusammenhang von »Wahrheitsregimen«, sprich: von einer Gesellschaft, die auf Machtsystemen und Hierarchien aufruhe (vgl. S. 32). Diese Systeme seien letzten Endes verantwortlich für Repressionen, weshalb es notwendig sei, jene Diskurse zu analysieren und zu dekonstruieren. Pluckrose und Lindsay sezieren nun diese Theorien und sprechen von einer »Verschwörungstheorie ohne konkrete Verschwörer« (S. 38). Denn Begründungen und Argumente blieben stets unterbestimmt. Zwar seien all diese Debatten theoretisierend, ihnen fehle allerdings der Wahrheitsanspruch, der allein sie zu ernsten Kandidaten überprüfbarer Thesen werden lässt. Sie bedienten sich vielmehr einer Verunklarung wissenschaftlicher Kategorisierungen, lebten von künstlichen Problematisierungen und der Verneinung objektiver Gültigkeit. Im Fokus stünden Diskurse, Sprachspiele oder die »Grammatologie« (Derrida), die Sprache als hierarchisch strukturiertes Phänomen begreife, in der Bedeutung durch Wertung erzeugt werde.
In der Fortentwicklung dieser Theorien habe sich sodann der angewandte
Postmodernismus entwickelt, worunter Pluckrose/Lindsay die Queer-Theorie, die
Gender Studies, die Fat Studies, die Critical-Race-Theory und ähnliche Theorien
zählen. Bereits hier sei es zu einer ideologischen Zuspitzung gekommen.
Einerseits wollte man zwar Hierarchien abbauen, auch Wahrheitsansprüche seien
wieder möglich gewesen, ebenso moralische Überzeugungen über die Zulässigkeit
von Macht und Privilegien (vgl. S. 51). Doch statt der reinen Beobachtung und
einer theoretischen Anklage im Sprachspiel, wie in der ersten Phase postmodernen
Denkens, haben ihre Vertreter nun den Versuch einer Neuordnung der Gesellschaft
unternommen, Definitionen eines Soll-Zustands der Gesellschaft erprobt und teils
selbst heftige Angriffe auf die Legitimität bestimmter Machtdiskurse über die
Begriffe Race, Gender, Sex und andere geführt. Von nun an stand insbesondere die
kulturelle Macht im Fokus. Moralische Visionen einer neuen Gesellschaft, die
sich vom alten Klassenkampf gelöst hatten und zunehmend verschiedenste
Identitäten in den Blick nahmen, sich hierbei aber von universalistischen
Prinzipien abkehrten und kulturalistische Prämissen in Anschlag brachten,
standen im Zentrum wissenschaftlicher Aktivität. Pluckrose und Lindsay sehen – interessanterweise – einen Grund für diese Diskursverschiebung im Scheitern des Marxismus und der Notwendigkeit, eine neue theoretische Rahmung für linke Positionen zu gewinnen, die sich vornehmlich auf dem Feld der Kultur verortet: »Das Leugnen objektiven Wissens oder der Wahrheit, die Hinwendung zum kulturellen Konstruktivismus und die Überzeugung, dass das, was wir als Wahrheit bezeichnen, lediglich das Konstrukt einer Kultur darstellt, die es als Wahrheit bezeichnet, hat auch der angewandte Postmodernismus behalten, allerdings mit einem wichtigen Vorbehalt: Das angewandte postmodernistische Denken behandelt Identität und identitätsbezogene Unterdrückung als bekannte Fakten einer objektiven Wirklichkeit. Das Konzept einer Gesellschaft, die aus Machtsystemen und Privilegien besteht, von denen unser Wissen abhängt, gilt daher als objektiv wahr und intrinsisch verbunden mit der sozialen Konstruktion von Identität.« (S. 64) Daraus folgt, dass Theorie nicht mehr als Beschreibung von Wirklichkeit verstanden wird, sondern als eine Vorschrift, wie Wirklichkeit auszusehen hat. Es kommt in der Folge – konsequent und fatal – zur »Diskurskontrolle« (vgl. S. 67).
Eine grundlegende Annahme dieser Diskursmacht, die keine sein will, ist, dass
marginalisierte Identitäten über ein Wissen verfügten, das sie aus ihrer eigenen
Unterdrückung gewönnen. Diejenigen, die diese Repression nicht selbst erlebt
hätten, könnten sie auch nicht wirklich nachvollziehen. Postkoloniale Theorien als Anwälte dieser Identitäten haben es sich nun zur Aufgabe gemacht, das Hegemonialsystem mittels identitätsbasierter Standpunkte zu dekonstruieren (vgl. S. 88). Andere Methoden, Argumentationen, Diskursivität, Hermeneutik, Klarheit und universelle Werte spielen hierbei, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle, weil sie mitunter dem Gerechtigkeitsempfinden und der Vorstellung, wie etwas sein soll, zuwiderlaufen. Die Dekonstruktion ist darüber hinaus schier grenzenlos, da die »ungerechte Macht« immer und überall sei (vgl. S. 111). Sie manifestiere sich »in Vorurteilen, die weitgehend unsichtbar sind, weil sie als normal internalisiert wurden. Daraus folgt, dass die Sprache genau überprüft werden muss, um herauszufinden, welche Diskurse sie aufrechterhält, und zwar unter der Prämisse, dass Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie oder andere latente Vorurteile in diesen Diskursen enthalten sind.« (ebd.) Pluckrose und Lindsay sprechen hier sicher nicht zu Unrecht von einer »paranoiden Geisteshaltung« (S. 152), die davon ausgehe, dass derartige Diskriminierungen immer da sind und sie nur aufgedeckt werden müssten. Die Suche danach wird genau dann zum Fetisch, wenn man selbst Menschen, die sich gegen Diskriminierung engagieren, vorhält, sie seien latente Rassisten, Sexisten etc. Problematisch ist insbesondere der Double-Bind-Charakter jener Vorwürfe: Stellt man kulturelle Differenzen in Abrede, ist man rassistisch; hebt man sie hervor, ebenso: Es gibt wieder einmal kein richtiges Leben im falschen. Die Fallstricke all der vermeintlichen Diskriminierungen zu entschlüsseln, ist weder möglich, noch wirklich gewollt, weil nur Unklarheit jene Sprachspiele, aus denen man die eigene Legitimation schöpft, aufrechterhält. Konkret bedeutet dies: Identität und ihre Rolle in der Gesellschaft, das heißt ihre Positionalität, sind in diesen politisch motivierten Theorien zur Obsession avanciert. Einige pseudowissenschaftliche Ansätze begnügen sich inzwischen gar damit, Identitätspolitik zu betreiben. Was einst als radikale akademische Theorie, die mit den Traditionen brach, anfing, ist also, wie Pluckrose und Lindsay resümieren, zunächst in der Praxis erprobt und schließlich als grundlegende Wahrheit auch jenseits der Universität im Kontext von Kultur- und Identitätspolitik behandelt worden (vgl. S. 211). Das mit den Identitäten zusammenhängende Wissen muss nicht mehr mühsam erlernt, es kann subjektiv erfahren werden: »Folglich gilt die Überzeugung, die Gesellschaft sei durch partikulare, aber weitgehend unsichtbare identitätsbasierte Systeme der Macht und Privilegierung strukturiert, welche wiederum durch die Art, in der über etwas geredet wird, Wissen konstruieren, mittlerweile in der Social-Justice-Forschung und im Aktivismus als objektiv wahr.« (ebd.)
Man kann diesen Theorien mithin eine gewisse Schizophrenie nicht ganz
absprechen: Der Kulturrelativismus wird als objektive Wahrheit veranschlagt, mit
allen sich aus dieser Prämisse ergebenden politischen Folgen. Die Verteidigung
dieser fragwürdigen These wird sodann mit allen Mitteln, doch selten mit
Argumenten, verteidigt. Wer sich gegen die Annahmen dieser »Forschungen«
ausspricht, wird in der Regel mundtot gemacht. Denn wie etwas gesagt und woran
geglaubt werden darf, diktieren nun identitätsbasierte Theorien: »Gespräche sind
nur in der offiziell genehmigten Terminologie möglich, Standpunkttheorie und
Identitätspolitik müssen als valide bestätigt werden.« (S. 231) Jegliche Kritik
bedeutet fehlendes Verständnis für die Belange von Minderheiten,
schlimmstenfalls ein moralisches Fehlverhalten.
Pluckrose und Lindsay gelingt mit der kritischen Analyse angewandter
postmoderner Diskurse ein fundierter und kenntnisreicher Beitrag über die
geistes- und kulturwissenschaftlichen Themen der letzten Jahrzehnte. Sie decken
die teils absurden Debatten innerhalb der Universitäten auf, die inzwischen auch
die Öffentlichkeit in Atem halten. Dass es sich hierbei oftmals um
Nebenkriegsschauplätze und reine Sprachspiele handelt, die wenig bis gar nichts
an echter Diskriminierung ändern, lässt sich mit »Zynische Theorien« sehr gut
nachweisen. |
Helen
Pluckrose,
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