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Gesucht & gefunden: Momentaufnahmen, literarisch

Katja Petrowskajas Sammlung »Das Foto schaute mich an«

Von Wolfram Schütte
 

»Mit ihren Fototexten«, schreibt der Verlag, »hat Katja Petrowskaja ein eigenes Genre geschaffen«. Der Neologismus »Fototext« ist vage genug, um die 57  jeweils mit einem Bild versehenen kurzen Texte von maximal 3 Seiten zu bezeichnen, die sie nun mit dem animistischen Titel »Das Foto schaute mich an« in der Bibliothek Suhrkamp vorgelegt hat. Katja Petrowskaja hatte 7 Jahre lang alle drei Wochen in der FAS Fotos eigener Wahl literarisch reflektiert: auf die unterschiedlichste Art. Die 1970 in Kiew geborene, seit 1999 in Berlin lebende & deutsch schreibende Autorin aus einer jüdischen Familie hat 2014 mit dem Erzählungsband »Vielleicht Esther« glanzvoll debütiert.

»Ein einzelnes Foto zu besprechen«, schreibt sie am Ende ihrer Sammlung, «war mein Versuch, innezuhalten und zu verweilen. Ich wollte die Inflation der Bilder bremsen, nicht weltweit, sondern für mich, als wäre das Betrachten ein langsamer, etwas altmodischer Prozess. Es ging mir dabei um Begegnungen mit dem Visuellen: Krieg in der Ukraine, Enigma der Frauenkörper oder eine Wolke am Himmel. Im Laufe der Zeit sind diese punktuellen Kolumnen (…) zu einem Tagebuch des Nachdenkens geworden«.

Ihres Nachdenkens über sich, ihre Familie, die miterlebte Zeitgeschichte oder die Kunst & die Fotografie. Petrowskaja  hat im estländischen Tortu, in Moskau & dem kalifonischen Stanford Literaturwissenschaft studiert, teilt ihr Verlag mit - & als ihr Leser hat man aufgrund ihrer zahlreichen Anspielungen z.B. auf Breughel, Magritte u.a. oder Tarkowski  & Antonioni den Eindruck, dass sie kunsthistorisch ebenso kundig ist wie als Cinephile.

Obwohl das Buch nicht vom (gegenwärtigen) Krieg handelt, wird es doch »vom Krieg umklammert«. Den ersten Text schrieb Katja Petrowskaja, als Russland in der Ostukraine einfiel. Als dann die Erzählerin mit ihrem Debüt die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wachrief, in dem die UdSSR den deutschen Faschismus unter riesigen Opfern niedergerungen hatte, war jedoch das postsowjetische Russland dabei, auf heimtückische Weise die Krim der Ukraine zu entreißen.

Wider die Fassungslosigkeit, Ohnmacht & die Wut, die die gebürtige Ukrainerin über den unvorstellbaren Krieg in ihrem Geburtsland empfand, suchte sie eine neue literarische Form, mit der sie ihre künstlerische Lähmung durch den weltgeschichtlichen Schock bewältigen konnte - & fand die Erlösung in der meditativen Beschäftigung mit den Bildern.

Es sind gewissermaßen Ersatzhandlungen, Fluchtpunkte der Erinnerung & des Eingedenkens: intime Selbstgespräche anhand von Fotos: Träumereien, Recherchen, philosophische Nachdenklichkeiten »Krieg möchte unsere leisen Worte löschen«, schreibt sie. Dieser kriegerischen Gewalt, mit der Russland eben ukrainische Orte wie Mariupol dem Erdboden gleich machte, stellt sie ihre 57 Miniaturen anhand von Fotos entgegen.

Auf dem Farbfoto, das dem Buch den Namen gab, schaut das schwarze Gesicht eines Zigarette rauchenden Bergmanns hinter dem gerade ausgestoßenen Rauch in die Kamera, wobei seine Augen jeden zu fixieren scheinen, der das atmosphärisch dichte Bild betrachtet. »Das Foto schaute mich an«: mit dieser paradoxen Behauptung setzt die erste literarische Begleitmusik des Bilder-Kaleidoskops ein.

Die Autorin beginnt ihren Kommentar mit dem Geständnis ihrer Faszination & ihres Erschreckens vor dem geheimnisvollen Bild, von dem sie wünschte, der Rauch löste sich auf, damit sie sähe, »ob er lächelt oder grinst«. Eine feine & doch fast fundamentale physiognomische Differenz, die auch die emotionale Beziehung der Betrachterin zu dem rätselhaften Porträt bestimmen würde, meine ich.

Als nächstes informiert sie darüber, dass die Fotografin, die es »geschossen« hat, viele Fotos in der Gegend gemacht hatte. Es ist das mittlerweile weltbekannte Gebiet Donezk/Luhansk in der Ost-Ukraine.

Obwohl die Kumpel seit Oktober letzten Jahres kein Gehalt mehr bekommen hatten, informiert Petrowskaja, sind sie dennoch weiter zur Arbeit gegangen, »denn Arbeit war Frieden und der Krieg absurd«. In dieser Gegend war die urbane Intellektuelle aus dem Kiewer Kulturmilieu nie gewesen. Auf der Landkarte findet sie den Ort, wo das Bild entstanden war, er heißt »Glück«. Dort waren an einer Bushaltestelle, hieß es in jüngsten Nachrichten, »rein zufällig« zwei Menschen umgekommen. «Zerbombte Häuser, freiwillige Kämpfer, Flüchtlinge, Feldzüge, Bilder über Bilder. Warum ausgerechnet dieses Foto?« – fragt sich Petrowskaja, die sich von den Augen über Monate hinweg »verfolgt« fühlte. Sie rätselt darüber, was der Blick dieses Bergmanns signalisiert: »Verzweiflung? Vorwurf?, Weisheit? Tollwut? Glauben? Ist ihm alles egal? Sind da Tränen? Oder sehe ich etwas, das nur in dem Foto entstanden ist – die widersprüchliche Botschaft einer Fotografin?«

Dies wohl nicht nur! Es könnte ja zumindest auch der Versuch der Betrachterin sein, denkt ihr Leser, das Rätsel des fixierten Moments spekulativ oder durch Selbstprojektionen (»Vorwurf«) interpretativ zu lösen. Sie deutet es an, wenn sie vom Bild in einer verblüffenden metaphorischen Wendung zu sich kommt: »Der Bergmann ist schwarz, und seine Augen sind weiß, aber er ist nicht blind, ich bin es, mit meinem Unwissen, mit meiner Ignoranz gegenüber dieser Region, gegenüber diesen Menschen. Die Erkenntnis war schwarzweiß, aber das Foto war farbig, daraus blickte mir meine eigene Blindheit, meine eigene Ohnmacht entgegen«.

Mit einer brillanten Schlusspointe beschließt die Autorin ihre ausgreifende Betrachtung über das Foto, auf das sie zuerst im Internet gestoßen  war & das ihr dann wieder – »als hätte es selbst Karriere gemacht« – im ukrainischen Pavillon  der venezianischen Biennale begegnet ist. Hinter einer Glasfront ist es auch nachts zu sehen: »Man kann zusammen mit dem Bergmann rauchen, vielleicht wird sein Gesicht im gemeinsamen Rauch verständlicher. Ich habe mit ihm geraucht, als es dunkel wurde«.

Diese Eingangskolumne (ihre tastende Interpretation, ihre Informationen & ihre intime Beziehung zu dem Foto) ist in jeder Hinsicht – thematisch & ästhetisch – idealtypisch für das Besondere dieser hybriden literarischen Form., die sich aus einer journalistischen Serie entwickelt hat. Wie variabel Katja Petrowskaja mit ihren »Fototexten« umgeht, zeigen beispielhaft drei ganz unterschiedliche ihrer literarischen Miniaturen.

In »Kafkas Ohren« schaut ein gegen den Hintergrund einer zerschossenen Wohnhausfassade mit leeren Fenstern in Untersicht aufgenommener alter Mann in die Kamera. Es ist die Kamera des tschechischen Fotografen Josef Koudelka, der im August 1968 die Okkupation des Warschauer Pakts in der CSSR in zahlreichen, berühmt gewordenen Bildern aus Prag dokumentiert hatte. Dies ist eines davon.

Koudelka  ging 1970 ins Exil, seine Eltern haben deshalb keines seiner Bilder je gesehen – weil der Fotograf, um  die in Prag gebliebenen Eltern vor Repressalien zu schützen, sein grandioses fotografisches Zeitdokument mehr als 14 Jahre nicht mit seinem Namen zeichnete.

Bemerkenswert ist der Autorin aber noch etwas, was ich im pataphysischen Sinn als »Koinzidenz« schätze: Die Initialen des Fotografen erinnerten sie an die Hauptfigur »Joseph K.« in Kafkas »Process«, der alte Mann des Bildes mit seinen großen Ohren an die Fledermausohren auf dem bekannten frühen Kafka-Foto & die Kafka-Konferenz 1963 in Liblice war ein vorauseilendes Zeichen für den Prager Frühling 1968. Aus diesen Fakten & einer phantasievollen Träumerei über das Foto hat Petrowskaja eine poetische Vignette über ein mehr als ein Halbjahrhundert zurückliegendes politisches Ereignis wachgerufen, bei dem (wie heute) russische Truppen über Nacht ein Land überfallen hatten.

In der Kolumne »Kindheit verkehrt« ist sie von dem Foto schockiert, das sie als kleines Schulmädchen zeigt. Vom über sie gebeugten Vater beschützt, hält sie in der linken Hand einen Farbstift. Während sie etwas malt, lächelt sie in die Kamera. War die kleine Katja etwa  eine Linkshänderin? Und hatte man ihr diese angeborene Abweichung von der »Normalität« mit Gewalt ausgetrieben (wie es Usus in der UdSSR war)? Was sie als erstes verblüffte, als ihre Familie nach Deutschland emigrierte, erinnert sie sich jetzt, war »die erstaunliche Menge von Apotheken und Frisörsalons und die unbegreiflich vielen Linkshänder«.

Erst als es durch eine »pedantische« Analyse des Bildes dem Vater gelingt, das irritierende Foto als »seitenverkehrt« zu erkennen, weicht der Choc des falschen Verdachts: «Die Möglichkeit, linkshändig zu sein, war jedoch so nahe gewesen, dass sie ein bisschen in mir geblieben ist« – als geheimer Wunschtraum, ursprünglich Linkshänderin gewesen & durch gesellschaftlichen Zwang traumatisiert worden zu sein.

Nach diesem »Scherzo« verblüfft einen als Leser das Foto der Kolumne »Endloser Regen« besonders. Es zeigt eine Ansammlung von Menschen unter Regenschirmen. Sie stehen zu beiden Seiten einer Straße, die gerade von einigen erkennbaren Frauen überschritten wird. Bei genauerem Sehen erkennt man an den Kleidern der Frauen, dass es sich um ein historisches Ereignis handeln muss.

Es ist das Zeugnis eines kollektiven sympathetischen Eingedenkens. 6 Stunden haben in strömendem Regen 400.000 vor allem New Yorkerinnen am 5. April 1911 schweigend sieben Särgen das letzte Geleit durch Manhattan gegeben. Das waren die letzten von 146 Todesopfern, die beim Brand in einer Nähfabrik vor 10 Tagen ums Leben gekommen waren. Fast alle der meist frischimmigrierten jungen Frauen waren von Verwandten oder Freunden beigesetzt worden. Nur sieben blieben übrig. »Die Stadt adoptierte sie. Die New Yorker verabschiedeten sich von ihren anonymen Mitbewohnern, mit denen sich jeder identifizieren konnte«: durch diese einfühlsamen Worte gibt Katja Petrowskaja dem nichtssagenden Bild eines Massenauflaufs unter Regenschirmen historische Tiefe, emotionale Intensität & poetische Schönheit.

Ob heute noch jemand bei uns von dem Ereignis (sowohl des Massentods als auch der erstaunlichen Massendemonstration) wüsste? Oder auch, dass offenbar, wie die Autorin erwähnt, am Washington Square (nicht Place, wie sie schreibt) kürzlich eine Gedenkveranstaltung stattfand? Jedenfalls hatte die grauenvolle New Yorker Katastrophe – der in unseren Tage identische in Bangladesch & Pakistan folgten - damals Gewerkschaftsgründungen, die Sozialversicherung & neue Sicherheitsnormen bis hin zur New Yorker Feuertreppe zur Folge – obgleich wir letztere zumeist nur als Fluchtweg in Gangsterfilmen kennen. Auch derartige faktische Informationen enthalten zahlreiche Texte unter der Hand, gewissermaßen nebenbei. Erstaunlich, was die Autorin alles um ihre Fotos versammelt hat!

Man bewegt sich durch diese Wunderkammer von Buch wie durch eine Fotogalerie, jeweils ummantelt von scheinbar assoziativ herbeigerufenen Gedanken & Phantasien der Autorin - & trifft immer wieder auf überraschende literarisch-philosophische Fundstücke. Man kann diese hybriden Impromptus »just for fun« mehrfach lesen. Ich habe es mit Gewinn immer wieder getan.

Artikel online seit 18.10.22
 

Katja Petrowskaja
Das Foto schaute mich an
Kolumnen
Suhrkamp Verlag
254 Seiten, zahlr..Abb.
25,00 €
978-3-518-22535-6

 

 


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