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Schonungslos kritische Lektüre

Juliane Rebentischs Reverenz an Hannah Arendt »Der Streit um Pluralität«

Von Jürgen Nielsen-Sikora

Für Hannah Arendt ist Pluralität die Grundbedingung menschlicher Existenz und das zentrale Fundament des Politischen. In Arendts Gedankenwelt wird Pluralität zur Grundlage der Interaktion. Diese gelingt insbesondere dann, wenn Menschen neben dem inneren Dialog mit Anderen kommunizieren und sich über verschiedene Meinungen zwecks Gestaltung einer gemeinsamen Welt austauschen. Nur Pluralität gewährleistet Individualität: Gleichheit und Verschiedenheit sind insofern auch die beiden Sphären, in denen Arendts Idee der Pluralität angesiedelt ist. Vorbild für dieses Verständnis von Öffentlichkeit ist die Gestalt des Sokrates, auf den Arendt immer wieder zurückgreift, weil bereits für den antiken Denker Pluralität im Raum des Erscheinens (hier die Agora) lebendig wird.

An dieser Stelle setzt auch Juliane Rebentischs kritische Auseinandersetzung mit Arendt ein. In insgesamt zehn Kapiteln umkreist sie die Denkhorizonte Arendts und beleuchtet Stärken und Schwächen ihrer politischen Philosophie so eindringlich und tiefgreifend, dass man trotz all der Bibliotheken zum Werk von Hannah Arendt immer wieder ins Staunen gerät und Aspekte ihres Denkens entdeckt, die bis dato nicht wirklich präsent waren.

Ein kurzer Abschnitt etwa aus dem siebten Kapitel über Adolf Eichmann bringt im Grunde Arendts gesamte Philosophie auf den Punkt. Rebentisch schreibt, nicht diejenigen, »die aus einer älteren Prägung übernommene Moralvorstellungen so verinnerlicht haben, dass sie auch angesichts einer sich zunehmend gleichschaltenden Umgebung fraglose Gültigkeit für sie haben« seien das Modell moralischen Verhaltens, »sondern diejenigen, denen im Gegenteil nichts einfach fraglos gültig ist, weil sie es gewohnt sind, die Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten.«

Dies ist ein Punkt, den man nur allzu gerne auch allen identitätspolitischen Ansätzen der Gegenwart ins Klassenbuch schreiben möchte. Rebentisch führt diesbezüglich weiter aus: »Nicht fraglose Übereinstimmung mit sich beziehungsweise den eigenen moralischen Standards, sondern die Bereitschaft, die eigenen Selbst- und Weltverhältnisse gegebenenfalls immer wieder auch infrage zu stellen, um sie sich urteilend neu anzueignen, ist dann der entscheidende Zug des moralischen – und zugleich autonomen – Menschen.«

Rebentisch äußert sich aber auch unzählige Male schonungslos kritisch zu Arendt selbst. Zum Beispiel zu deren Aufsatz »Die Krise der Erziehung«, in dem die Diskrepanz des Inhalts zur Idee der Pluralität offensichtlich wird. Rebentisch schreibt, in »Die Krise der Erziehung« plädiere Arendt für ein konservatives Erziehungsideal, während »sie sich für den Bereich des Politischen eine Welt wünscht, die sich nicht zuletzt im Streit pluraler Perspektiven bilden und erhalten soll.«

Auch den Aufsatz zu »Little Rock«, der zuletzt wegen seines angeblich rassistischen Duktus ein großes Thema in der Arendt-Forschung war, betrachtet sie als misslungen. Hier ist es jedoch die Gegenüberstellung von antiker und moderner Welt, die Rebentisch mit Judith Shklar kritisiert, denn so plural, wie Arendt es sieht, war die antike Welt nicht. Auch Arendts Denken in absoluten Gegensätzen, ohne Abstufungen und Nuancen, sei problematisch.

Die kritische Distanz zu Arendts Texten ist wohltuend. Sie tröstet über kleinere Nachlässigkeiten hinweg. So übersetzt Rebentisch zum Beispiel οἶδα οὐκ εἰδώς fälschlicherweise mit »Ich weiß, dass ich nichts weiß«. Doch von »nichts« steht hier in der Tat nichts.

Auch dass sie Bettina Stangneth im Eichmann-Aufsatz nicht zu Wort kommen lässt, verwundert zumindest. Und schließlich ist es einigermaßen albern, Quellen zu schwärzen. Denn Arendt sprach tatsächlich von »Negern« in »Elemente und Ursprünge…«, und nicht von »N****«, genau so wie Muhammed Ali behauptete: »No Vietcong ever called me a Nigger«.

Doch ob hier ein übereifriger Lektor des Verlags aus Gründen der political correctness ins Original eingriff, und dennoch die Anführungszeichen beibehielt, oder ob es Rebentischs eigene Schere im Kopf war, lässt sich von außen nur schwer sagen.

Artikel online seit 01.04.22
 

Juliane Rebentisch
Der Streit um Pluralität
Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt
Suhrkamp Verlag
287 Seiten
28,00 €
978-3-518-58781-2

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