Von Himmels- und Horizontmetaphern
Romantik ist ein
vieldeutiger Begriff. Er bezeichnet eine Epoche, meint aber ähnlich wie in
Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie es für die antiken Griechen
formuliert, ihre Kunstauffassung. Das heißt zunächst, Ökonomie, Politik und
Recht bleiben in solcher Fokussierung weitgehend außen vor, sie sind nicht
romantisch; nur von einer romantischen Wissenschaft kann in Grenzen gesprochen
werden. Stefan Matuschek erkennt das genau. Er rührt in seiner Darstellung daher
nicht, wie es oft genug der Fall ist, alles zusammen, sondern er legt den Akzent
souverän auf eine moderne Perspektive, die ihm die Gegenstände der Epoche
verbindet. Entgegen einer Vorstellung, die von der Romantik als dunkler und
irrationaler Kehrseite der hellen und vernunftgeleiteten Aufklärung ausgeht,
begreift er deren Dichtungen, Musikstücke und Gemälde selbst als eine andere
reflektierte Bewegung zum Fortschritt hin, gleichsam als den ungeteilten Himmel
einer Moderne im 19. Jahrhundert.
Zunächst konstatiert auch Matuschek im Übergang vom 18. Aufklärungsjahrhundert
für die Romantik insgesamt einen Hang zur Allegorie, zum Witz und zum Bruchstück
als Folge des Verlusts symbolischer Ganzheit der Kunst; das sei auch eine
Reaktion auf eine „metaphysische Obdachlosigkeit der Epoche“. Romantik kommt von
Roman: damit variiert Matuschek ein Wort von Georg Lukács, welcher den Horizont
der Romanform der Literatur als eine „transzendentale
Obdachlosigkeit“ bezeichnet hatte. Matuschek fasst Romantik als ein Verfahren,
diesen Mangel an sinnstiftender Objektivität des stürzenden Himmelsgewölbes
durch eine subjektive „imaginäre Bautätigkeit zu beheben.“ Entsprechend nennt er
seine Geschichte der Romantik hintersinnig Der gedichtete Himmel:
„Romantik ist die Kunst, metaphysische Luftschlösser zu bauen. Sie wirkt, auch
wenn man weiß, dass es Luftschlösser, also Einbildungen sind.“ (S. 12) Georg
Lukács hatte 1954 in seiner Zerstörung der Vernunft eine deutsche
Einbahnstraße der Romantik von Schelling zu Hitler konstruiert. Mit ihm ist
zugleich der Antipode genannt, von dessen wirkmächtigen ideologischem Verdikt
gegen Romantik und Avantgarde zu DDR-Zeiten sich Matuschek abwenden will.
Matuschek will gleichsam mit einem Münchhausengriff die Romantik als sich selbst
aufklärende Fortsetzung der Moderne retten. Und mehr noch: auch das ideologisch
separierte Firmament in dem Roman Christa Wolfs mit dem Titel Der geteilte
Himmel überwölbt Matuschek damit nachträglich und schließt damit in gewisser
Weise auch den Himmel über BRD und DDR.
Literarischer Materialismus
Ideologie aber benötigt
Materie, um sich von ihr abzusetzen. Zwar finden sich auch in Matuscheks
Darstellung der Epoche vom späten 18. bis ins mittlere 19. Jahrhundert von
ökonomischer Basis im materialistischen Sinne nur wenige notwendige Spuren.
Dagegen beginnt er sogleich mit dem Materialismusbegriff innerhalb der
Literaturwissenschaft ernst zu machen. Statt idealistische Vorträge zu halten,
zeigt und interpretiert er Eichendorffs Gedicht Mondnacht von 1837. Er
setzt verschiedene Motive daraus mit Grimmelshausens Roman Simplicissimus
von 1668 in Beziehung: Er überbrückt hier einen Abstand von zwei Jahrhunderten
und erläutert, wie sich die Produktionsöffentlichkeit und die Gefühlswelt der
Bürger verändert. Damit reagiert Matuschek auf seine Weise geschickt auf ein
großes Problem, nämlich auf den materialistischen und zugleich
heilsgeschichtlichen Übergang zwischen Barock und Romantik. Dieser hat nicht nur
bei Georg Lukács, sondern auch zwischen Walter Benjamin und Theodor W. Adorno im
Hinblick auf ihr Melancholie-Modell und der damit verbundenen Rettung der Welt
große Wellen geschlagen. Diesen Horizont spricht Matuschek mit seiner
Himmelsmetapher ebenfalls an.
Lass die Religion frei
Als zweites Beispiel
nennt Matuschek Friedrich Schleiermachers Reden über die Religion. Deren
Essenz fasst er mit einem Zitat, das gleichsam eine ästhetische Produktionslogik
des protestantischen Pastors einer einfachen Rezeption gegenüber stellt: „Nicht
der hat Religion, der an eine Heilige Schrift glaubt, sondern welcher keiner
Bedarf und wohl selbst eine machen könnte.“ Das zielt auf etwas Aktualisierendes
in der Epoche der Romantik. Auch darin besitzt diese ein Erbstück des Barock,
allerdings ohne dessen Katastrophik mitzuübernehmen. Matuschek nennt
Schleiermacher, um zu dessen Freundschaft mit Friedrich Schlegel und damit zu
dessen Kreis zu kommen: die frühromantischen Konstellationen in Jena und in
Berlin: „Lasst die Religion frei und es wird eine neue Menschheit beginnen“,
schreibt der junge Friedrich Schlegel dort, wo freilich der späte von der Fessel
der Religion wieder eingefangen wird.
Augenschein: Romantik als Moderne
Vielleicht auch, weil
Matuschek in Jena lehrt, gibt er dieser Szene freimütig einen Vorrang. Das teilt
er mit dem gleichfalls mit einigem Recht lokalpatriotischen Philosophen Klaus
Vieweg, der zusammen mit einem Fotografen ein Buch darüber herausgegeben hat,
welche Szenerie die von Matuschek genannten Philosophen vor Augen hatten, als
sie schrieben.
Matuscheks Schreibstil jedenfalls orientiert sich an einer sachlichen und
unaufgeregten Prosa und setzt sich damit von dem ab, was in anderen Schriften
über die Romantik als unendlicher Rausch herausgearbeitet wird.
Voraussetzungen und Kennzeichen der Romantik
Das für die Frühromantik
so wichtige revolutionäre Denken in Jena und in Berlin aber ist nicht exklusiv
deutsch, sondern ein internationales Phänomen, das allerdings nicht immer und
überall so heißen muss. Zu den politischen Voraussetzungen der Epoche zählen die
Französische Revolution 1792 und die Hinrichtung Ludwig XVI. ein Jahr später
ebenso wie die Einführung des säkularen Rechts, des Code Napoléon, im
anschließend französisch besetzten Europa. Dagegen entwickelt sich aggressiver
Nationalismus in Deutschland und Italien; in Deutschland vor allem gepaart mit
Franzosenhass und Antisemitismus – Tendenzen, die latent oder manifest bis heute
anhalten. Das verschweigt Matuschek nicht, er weist aber auch auf die zugleich
entstehende Entwicklung der bürgerlichen Buch- und Lesekultur hin. Er verweist
auf Niklas Luhmann und die moderne Literatur als fortschreitende funktionale
Ausdifferenzierung des autonomen Teilsystems der Gesellschaft. Deren Autonomie
behauptet Friedrich Schlegel als Erster, nachdem allerdings Kant in der
Aufklärungsepoche diese Entwicklung bereits angebahnt hatte. Der Berliner
Geograf und Verleger Friedrich Nicolai als Vertreter der vorherigen aufgeklärten
Generation beschreibt die wichtigsten Tendenzen seines Zeitalters: Friedrich der
Große, die Amerikanische Republik und die Kartoffeln, die Friedrich anbauen
lässt, um damit die ärgste Hungersnot in Preußen erfolgreich zu. Schlegel hält
im Jahre 1798 dagegen: die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre
und Goethes Roman Willem Meister. Hier deutet sich für Matuschek ein
Wechsel zu einer neuen Aufklärungsepoche an.
In der Romantik findet sich ein Interesse an nationaler Geschichte und den
nationalsprachlichen Überlieferungen. Dass die Romantik deutsch ist, steht für
Matuschek außer Frage, auch wenn es eine englische, französische, italienische
usw. gibt. Aber dass der Faschismus zwangsläufig aus dieser folge, wie Peter
Viereck es in seinem Buch Metapolitics von den deutschen Romantikern zu
Hitler von 1941 ebenso nahelegt, wie 14 Jahre später Georg Lukács, stimmt
Matuschek nicht zu.
Er nimmt damit auch eine Gegenposition zu Rüdiger Safranski ein, der 2007 in der
Romantik ebenfalls zuvörderst „eine deutsche Affäre“ sehen wollte.
Vom alten Kant zum jungen Schlegel
Hinter diesem Diskurs
steht für den Germanisten Matuschek vielmehr eine ältere Auseinandersetzung um
das antike oder das moderne Leben, die bereits im 17. Jahrhundert beginnt.
Anhand von Friedrich Schlegels Verteidigung der Unverständlichkeit in
seiner Zeitschrift Athenäum arbeitet er heraus, dass die Romantiker im
Wesentlichen das fortsetzen, was Kant in seinen drei Kritiken angestoßen hatte:
»Wer
schon bei der Kantlektüre den Kopf schüttelt, schüttelt ihn noch mehr bei
Schlegel. […] Wer die ersten beiden Kantischen Kritiken kennt, sieht den Bezug
und versteht diesen Aphorismus ganz im Sinne des Königsberger Aufklärers.«
(S. 39)
Mit Ludwig Tiecks
Märchen erläutert Matuschek den neuen ironischen Ton, der sich bei den
Romantikern Bahn bricht und sich gegen den Commonsense einer etablierten
Aufklärung richtet. Zwar existiere ein europäischer Kontext der Romantik, in
Frankreich aber bedeute diese durchaus etwas anderes. Matuschek zitiert Stendal:
Die romantische Literatur sei diejenige, die den Zeitgenossen gefalle, die
klassizistische dagegen diejenige, die deren Urgroßvätern zusage. Romantik
bedeutet hier also modern, so wie später Hegel in seiner Ästhetik
ebenfalls den Begriff verwenden wird. Zugleich verweist Matuschek auf Germaine
de Staël, die Tochter des letzten Finanzministers von Ludwig XVI. Mit ihren
berühmten Berichten Über Deutschland von 1813 gilt sie als Pionierin
einer Literatursoziologie, die zwischen Frankreich und Deutschland vermittelt.
Sie lobt den deutschen Enthusiasmus und dessen Einfluss auf die französische
Aufklärung. Das Gegenbuch dazu schreibt 1835 Heinrich Heine mit Die
romantische Schule. Der Emigrant Heine betrachtet Schlegel von seinem
erzkatholischen Engagement für Graf Metternich aus und hält dagegen, dass die
französische Romantik im Sinne der französischen Revolution agiere. Matuschek
verweist aber auch darauf, dass Heinrich Heine selbst Romantiker war. Er fasst
deren wichtigsten Beitrag zur europäischen Moderne im Hinblick auf die
Philosophie und Religion erneut in einer Kantischen Formel:
»Als
Konsequenz der Aufklärung und deren Selbstkritik entwickelt die Romantik eine
ganz neue, kreative, subjektive und damit potenziell freie Form von Metaphysik.
Insofern auch diese Art von Metaphysik zu unserer heutigen Kultur zählt, sind
wir nicht nur Kinder der Aufklärung, sondern zugleich Erben der Romantik.«
(S. 47)
Moderne als Darstellungsform: Projektion, Kippfigur und Gedichteter Himmel
Matuschek bindet so
Motive der Aufklärung und der Gegenaufklärung geschickt zusammen. Er legt sein
Buch in dieser Exposition an und arbeitet das vorgestellte Programm in den
einzelnen Kapiteln so ab, dass die Leserinnen und der Leser dessen klarer und
distinkter Schreibweise gut folgen können. Die Lektüre wird so bereits selbst zu
einer Aufklärungsangelegenheit für die oft genug einer Irrationalität
gescholtene Epoche der Romantik. Die sich anschließenden Kapitel beschäftigen
sich mit den essentials der Epoche: das zweite Kapitel zeigt die Romantik
im europäischen Kontext, das dritte widmet sich der neuen marktgestützten
europäischen Literaturöffentlichkeit auf politischer Ebene, im vierten geht es
dann um die neuen Lesewelten. Recht, Geschichte, Politik, Wissenschaft und
Populärkultur bearbeitet Matuschek im fünften Kapitel. Die Kapitel sechs und
sieben schließlich befassen sich mit dem Nach- und Weiterleben der romantischen
Stilprinzipien in den nachfolgenden Epochen; es ist das eine Linie, die bis zu
unserer heutigen Zeit gezogen wird.
Anschlussfähigkeit: Avantgarde als radikalisierte Romantik
Für das doppeldeutige
Weiterwirken der Romantik über den chronologischen Epochenbegriff hinaus,
verwendet Matuschek die Vorstellung einer Kippfigur. Diese entwickelt sich
jeweils im Auge des Betrachters. Insofern hat er ganz recht, wenn er zunächst in
der Lyrik nach Charles Baudelaire auch Rainer Maria Rilke in die Linie dieses
späteren Wirkens der Romantik stellt, um sich anschließend den
Avantgardebewegungen der Literatur und der Kunst zuzuwenden: „Eine Extremform
ihrer Fortsetzung findet die Romantik im Surrealismus.“ (S. 358). Das steht in
einer Linie mit Walter Benjamins Kritik am symbolischen Kunstbegriff, Peter
Szondis Entwürfen zur Gattungspoetik oder Christa und Peter Bürgers Prosa der
Moderne.
André Bretons Romanfiguren und Subjekte der Manifeste und Louis Aragons
Pariser Bauern setzen für Matuschek Novalis‘ Romantisieren fort und
bemühen den Mythos und das heute wieder inflationär gehandelte
Narrativ in neuen Zusammenhängen. Ähnliches deutet Matuschek in Salingers
Roman Fänger im Roggen von 1945 und in einem weiteren Exkurs für die
Arbeiten von Wolfgang Hilbig (1941-2007) an. Dessen romantischen Stil bezieht
Matuschek wieder auf die in der DDR zur Doktrin gewordenen
anti-avantgardistischen Tendenzen von Georg Lukács Zerstörung der Vernunft.
Hier schließt sich ein Kreis. So hat Lukács einer ganzen Generation in
der DDR den Zugang zur Moderne teils verstellt, teils in der widerständigen
Rebellion neu geöffnet. Wenn es Matuschek also um die Romantik als besondere
Darstellungsform einer Kippfigur aus Realismus und Transzendenz geht, so wird
deutlich, dass seine Studie einen kritischen Gegenentwurf zu derjenigen von
Lukács darstellt. Matuschek schließt damit gleichsam den verfemten Teil der
Moderne auf. Das begreift auch seine klugen Überlegungen zum Traditionsbegriff
mit ein:
Die Beispiele geben einen kleinen Einblick, wie sich Romantisches in der
modernen Literatur fortsetzt. Es ist eine Farbe in deren breitem
Möglichkeitsspektrum, zu dem auch Aufklärerisches, Realistisches,
Surrealistisches, Expressionistisches und so vieles mehr gehört. Um noch genauer
zu sein: Das Romantische selbst hat ein Möglichkeitsspektrum, in dem
verschiedene Tendenzen nebeneinander laufen und auf verschiedene Weisen
aufgegriffen und fortgeführt werden. Dass und wie Romantisches fortwirkt, ist
keine Eigenschaft der ersten Romantiker selbst. Verantwortlich dafür sind die
Entscheidungen und Werke der späteren Generationen. Sie wählen aus und geben dem
Überlieferten ihre eigene Richtung. Die Romantik ist kein Schicksalszusammenhang
und keine Affäre. Sie erfindet und eröffnet um 1800 neue Möglichkeiten, die in
den je eigenwilligen Auffassungs- und Verwendungsweisen jüngerer Generationen
weiterleben. In diesem Prozess hat das vorliegende Buch seine eigene Auswahl
getroffen und seine eigenen Akzente gesetzt. Sie sammeln sich im Modell der
Kippfigur und im Begriff des „selbstgemachten Jenseits“. (S. 368).
Der Begriff des
„selbstgemachten Jenseits“ läd ebenso wie der des „gedichteten Himmels“ zu
weiteren Spekulationen ein.
Wie man in die Literatur hineinruft, so schallt es heraus: Modern, wenn Ihr es
seid
Der Autor macht die
Romantik und ihre Stilprinzipien damit für die aktuellen
literaturwissenschaftlichen und politischen Debatten produktiv. Er gewinnt auf
diese Weise zugleich einen nüchternen und produktiven Standpunkt, der über die
Epoche hinausweist. Die Romantik ist durch eine Überbetonung des
Rauschhaft-Dionysischen schon immer dafür prädestiniert gewesen, von
Schwarmgeistern für sich reklamiert zu werden. Insofern tut Matuscheks
apollinische Darstellung dem Gegenstand gut und rettet seinen aufklärerischen
Schein. Mit Recht sieht Matuschek in der Romantik also eine Fortsetzung der
Aufklärung mit anderen Mitteln: den zweiten Impuls der europäischen Moderne:
»Sie
[die Romantik] entsteht aus der neuen, subjektivierten Verwendung alter Mythen,
Glaubens- und Aberglaubensmotive. Sie schafft eine individualisierte, freie,
interpretationsoffene Form von Metaphysik. Wenn dabei Märchenhaftes und
Wunderbares zur Sprache kommt, führt es nicht zurück in eine voraufklärerische
Welt. In stilistischer Erneuerung reagiert es vielmehr auf ein kritisches
Bewusstsein von den Grenzen der aufgeklärten Vernunft.«
(S. 370)
Das ist klug
ausgedrückt, denn es kann als eine Metapher für die selbstreflexive Ironie der
Frühromantik gelten; ein Gefühl, mit dem sie sich gegen Fehlschläge und
Missinterpretationen von vornherein zu wappnen versucht. Ironiker wird niemand
allein aus einer positiven und optimistischen Überzeugung, sondern immer auch
aus blanker Not. Die Witzkraft ist ein Abkömmling der Vernunft unter schwierigen
und ungerechten Bedingungen. Da diese noch nicht beendet sind, steht sie noch
jeder Epoche gut an.
Artikel online seit 05.01.22
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Stefan
Matuschek
Der gedichtete Himmel
Eine Geschichte der Romantik
C.H. Beck
400 Seiten
28,00 €
978-3-406-76693-0
Leseprobe
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