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Unversöhnlichkeitsromane

Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman
»Wilderer«

schreibt die Saga um Jakob Fischer weiter.

Von Lothar Struck
 

2019 verfasste der österreichische Schriftsteller Reinhard Kaiser-Mühlecker den Roman "Enteignung". Hauptfigur ist der Ich-Erzähler Jan, ein etwa 40jähriger Journalist, der zurück in das Haus seiner verstorbenen Tante auf dem Land zieht, in dem er nach dem Unfalltod seiner Eltern aufgewachsen war. Er war erfolgreich bei vielen überregionalen, bekannten Zeitungen und auch einige Zeit in Amerika tätig. Jetzt übernimmt er die lokale Berichterstattung einer Kleinstadt. Er langweilt sich. Immerhin beginnt er ein Verhältnis mit Ines, einer promisk lebenden Lehrerin. Als er erfährt, dass diese auch ein Verhältnis mit Flor, einem ehemaligen Schulfreund hat, verdingt er sich inkognito als eine Art Knecht auf dessen Hof. Teile des Grundstücks des Bauern wurden nach dessen Weigerung, das Land zu verlaufen, enteignet; es sollen Windräder gebaut werden, das Vorhaben stockt allerdings. Flor praktiziert seinerseits zivilen Ungehorsam, in den er gegen die Anordnungen der Behörden einen neuen Stall für eine größere Schweinezucht baut. Jan gefällt wider Erwarten die anfangs schwere Landarbeit und lässt sich in der Zeitung freistellen. Gleichzeitig entwickelt sich ein spannend inszeniertes Liebes-Kammerspiel zwischen Jan, Ines, Flor und dessen Frau. Am Ende der Geschichte gibt es zwei Tote. Am Grab seiner Tante halluziniert er einen Dialog mit ihr. "Kannst du nicht endlich diese Leute lassen?", ruft sie ihm zu. "Das ist doch kein Umgang für dich […] Das sind doch vulgäre Leute." Jan nimmt eine Stelle bei einem Magazin in Berlin an. Und ihm wurde klar, dass er "niemals mehr sein würde" wie er gewesen war. Die Protagonisten gehen zurück in ihre Welten.

Der neue Roman von Kaiser-Mühlecker, "Wilderer", führt den Leser erneut in die ländliche Welt. Hauptfigur ist Jakob Fischer, den der Leser bereits aus dem 2016 erschienenem Roman "Fremde Seele, dunkler Wald" kennt. Kaiser-Mühlecker schreibt die Saga um Jakob Fischer weiter. Man erinnert sich an den Bruder Alexander in Wien, in irgendeiner gehobenen Beamtenposition, verheiratet mit Lilo, der Ex-Frau eines seiner Vorgesetzten. Da ist die Schwester Luisa, in Hamburg lebend, nachdem ihre Ehe in Schweden scheiterte; ihre Anwesenheit auf dem Hof ist für Jakob eine Tortur. Jakobs Vater, der Umtriebige, eine Art Hans-im-Glück, freilich eher einer im Unglück. Und die Großmutter, die nach dem Tod ihres Mannes auf dem Vermögen sitzt, nichts in den Hof investiert, sondern darauf wartet, das Geld der "rechten Partei" zu vererben.

Jakob ist wortkarg, zurückhaltend, menschenscheu. Er hält praktisch alleine den Hof halbwegs am Laufen, beschäftigt sich mit Hühnern, versucht, Teiche und Fischzucht anzulegen, was misslingt (später verpachtet er die Teiche an Städter). Er betätigt sich noch ehrenamtlich als "Schulwart", streicht Gebäude neu, richtet sie wieder her. Und wenn es sein muss, hilft Jakob noch bei anderen Bauern aus. "Er schuftete wie keiner sonst, zugleich nicht anders als zu Hause, machte kürzere Pausen als die anderen und redete nur das Allernötigste, und als Max nach der Fertigstellung zu einem kleinen Fest lud, ging Jakob nicht hin, er habe keine Zeit, sagte er, und auch das angebotene Geld lehnte er ab – empört." Er will kein Geld, sondern Anerkennung. Die gibt es jedoch kaum; immer häufiger fühlt er sich ausgebeutet. Aber sein Pflichtgefühl ist grösser als seine Verzweiflung.

In "Fremde Seele, dunkler Wald" kann man nachlesen, dass Jakob um 1998 herum geboren sein muss. Alexander ist 15 Jahre älter. Zu Beginn des neuen Romans – dumpf dringen Gerüchte über eine neue Seuche zu ihm - ist er demnach ungefähr 22 Jahre alt. Zu seiner ehemaligen Freundin, mit der er angeblich ein Kind haben soll, gibt es keinen Kontakt mehr. In den seltenen Stunden der Muße beschäftigt sich Jakob mit Tinder, aber auch das ödet ihn mit der Zeit an. Der Roman beginnt mit einer unglaublichen Szene, die Jakobs Gleichgültigkeit mit der Welt aufzeigt: "Er seufzte, nahm den Revolver von seiner Schläfe, drehte die Trommel ein paarmal und legte die Waffe in die Lade zurück, ohne sie zuzuschieben."

In diese triste Bauernszenerie taucht Katja auf, eine junge, angehende Malerin und Zeichnerin aus Salzburg, die ein Stipendium gewonnen hat und in einem städtischen Gebäude unterkommen soll, welches Jakob neu gestrichen hatte. Sie ist jedoch mit dem Domizil nicht einverstanden und Jakob soll es noch einmal malern. Katja erinnert sich an Jakob von Tinder. Sie ist interessiert an ihm und auch ihm gefällt sie, "aber sie waren Bewohner unterschiedlicher Welten". Katja hält den Kontakt, schickt ihm Nachrichten, lässt nicht locker. Ist es Exotismus?

Plötzlich tut sich eine Möglichkeit für Jakob auf. Er hilft Fritz, einem kränklichen Nachbarn, der ewig nicht wiederkommt, bei dessen Schweinezucht. Er lernt rasch, ahnt, dass auch sein Hof hier mitmischen könnte. Die Arbeit nimmt überhand; auf seinen Vater Bert, der häufiger für mehrere Tage den Hof verlässt, kann er sich nicht verlassen. Katja bietet sich nun an, ihm zu helfen: "Ich würde zur Abwechslung gerne einmal etwas Sinnvolles tun, Jakob. Ich könnte dir helfen, und du könntest damit mir helfen. Gegen Kost und Logis." Jakob legt seine Vorbehalte ab; die Zusammenarbeit gelingt und nach einigen Wochen bedauern beide, dass es zu Ende sein soll. "Es gefiel ihm nicht, dass sie fuhr."

Und sie bleibt dann doch. Jakob und Katja werden ein Paar; er ist glücklich, aber misstraut dem Glück zunächst noch. Katja entwickelt einen Plan für eine Schweinezucht, verhandelt mit Fritz einen Pachtvertrag. "Jakob schien jetzt manchmal fast alles möglich." Und dann geschieht es doch noch: die Aussöhnung Jakobs mit der Großmutter, kurz vor ihrem Tod. Sie hatte das Geld noch, wusste um Jakobs Eifer, wollte es nicht Bert vererben, daher gibt sie es Jakob. Über die im Dorf gemunkelten Vorbehalte, es sei "Judengeld", setzt er sich hinweg. Er und Katja haben jetzt nicht nur beruflich Erfolg – sie bekommen Marlon,  einen Sohn. Der Hof wird sogar als "Betrieb des Jahres" ausgezeichnet; Honoratioren feiern den jungen Landwirt (listig wird eine Goldberger-Figur aus Kaiser-Mühleckers "Flieder"-Saga eingebaut).

Jakob hat es geschafft. Aus dem schüchternen, hart arbeitenden Bub, der keine besonderen sozialen Status genoss, wurde ein angesehener Hofbesitzer. Kaiser-Mühlecker inszeniert diese Erfolgsgeschichte jedoch mit Widerhaken. Es liegt ein Suspense in der Luft, eine spezielle Form der Nervosität, die zum einen im (selbst)zweifelnden Charakter Jakobs liegt, zum anderen in einer ihm frontal entgegenschlagenden Missgunst durch die häufig ihre Eltern besuchende Schwester. Katjas Versuche, die Angriffe Luisas auf Jakob abzumildern scheitern. Aber Luisa ist der Liebling der Eltern und speziell von Bert, dem Vater. Bei einer Wanderung mit Luisa erfahren Jakob und Katja ein Familiengeheimnis, das die Blicke Berts auf Luisa erklären. Hier kommt es zu einer ersten Szene, die Katja später erst deuten wird, die aber der Anfang vom Ende von Jakobs Glück bedeutet.

Trotz der Erfolge bleibt Jakob innerlich ein Getriebener. Den neuen Hund Alex, den er abgerichtet hat, muss er, weil der Vater es will, seinem Bruder Alexander geben. Diese scheinbar belanglose Szene bekommt am Ende des Romans Brisanz. Da Alexanders Frau allergisch auf Hundehaare reagiert, kommt das Tier zurück auf den Hof. Aber die Abrichtung misslingt; Alex ist ein "Wilderer" und es scheint ein unausgesprochenes Gesetz zu sein, wie man mit derart unzuverlässigen Tieren verfahren muss. Luisa beschimpft Jakob als "Versager".

"Das alte Leben musste beendet werden, und das hier war das Letzte, was noch zu tun war" - so wird eine Szene eingeleitet, die den Leser noch lange nach der Lektüre verstören wird. Jakob glaubt danach:  "Es war vorbei damit. Mit all dem. Nie mehr." Eine Prophezeiung, die sich anders als er denkt erfüllen wird. Irgendwie wird Luisa von Jakobs Handlung ein Handyvideo aufnehmen. Und alles wird sich ändern. Jakob wird plötzlich wie ein wildes Tier betrachtet und er "fiel und fiel und fiel. Er stand still, aber er fiel immer tiefer in einen schwarzen lichtlosen Trichter." Kurz schwankt Jakob und man befürchtet Schlimmes, aber im letzten Moment rettet ihn ein unverhofft gefundenes Plüschtier seines Sohnes. Es ist großartig, wie Kaiser-Mühlecker diese Rettungsszene erzählt. Wie auch immer - das Wildern in den unterschiedlichen Welten ist zu Ende; man ist wieder zurück in seinen je eigenen Kosmos.

Reinhard Kaiser-Mühleckers lakonisch daherkommendes, aber stets doppelbödiges psychologisch-realistisches Erzählen fesselt den Leser. Den in anderen Romanen bisweilen unterschwelligen Mystizismus hat der Autor abgelegt. Sein auf Jakob ausgerichteter personaler Erzähler lässt der Figur trotz so manch detaillierter Beschreibung ihre Tiefe und Rätselhaftigkeit, ihren ernsthaften Starrsinn. Er weiß, dass er Katja praktisch alles zu verdanken hat, aber als sie ihn bittet, sich auch wegen des Kindes gegen die "Seuche" impfen zu lassen, lehnt er das ab. Für den Leser bleibt Jakob unnahbar, sein Eigensinn wirkt jedoch dabei nie aufgesetzt. Und genau deshalb mag man nicht ablassen von der Lektüre. Freilich für den Preis, dass man sich vorkommt wie ein "Wilderer" in dieser Welt; ein Wilderer wie der Journalist Jan aus "Enteignung" von 2019.

Kaiser-Mühlecker schreibt keine "Bauernromane" und weder das Attribut "Heimatroman" noch das Gegenteil, der "Anti-Heimatroman", funktionieren hier als zutreffende Genrebezeichnung. Es gibt weder falsche, restaurative Idyllen noch Empörungsreden oder Moralpredigten. Kaiser-Mühlecker hatte mit seiner Goldberger-Saga begonnen eine ganz eigene Form zu kreieren, die er nun mit dem zweiten Jakob-Fischer-Roman fortführt. Es sind Unversöhnlichkeitsromane; flirrende und schonungslose, aber gleichzeitig verblüffend lakonisch daherkommende Darstellungen der ewigen und nicht überwindbaren Entfremdungen zwischen Stadt und Land, Digitalismus und Agrargesellschaft, Hedonismus und Abhängigkeit von der Natur.

Vor einhundertfünfzig Jahren konnte sich Isak noch auf den "Segen der Erde" zurückbesinnen und trotzte den Irrungen der aufkommenden Moderne – damals schon ein Unikat, längst nur mehr Beschwörung als Ideal. Denn wenn man Hamsuns Epos genau liest, wird deutlich wie die Landwirtschaft bereits damals in ökonomisch-kapitalistischem Wachstumsdenken verstrickt war; die Protagonisten, die Erfolg haben wollten, mussten ständig vergrößern, bauen, investieren. Isaks (biblischer wie literarischer) Nachfolger im 21. Jahrhundert, Jakob Fischer, weiß genau, dass die Phrase von einer "Versöhnung zwischen Ökologie und Ökonomie" nur ein Sedativa für ahnungslose Politiker und grünlackierte Wohlstandstrottel darstellt. Die Kommerzialisierung des primären Sektors geht in die Endphase. Was bleibt, sind die Verstörungen der Menschen.

Artikel online seit 06.03.22
 

Reinhard Kaiser-Mühlecker
Wilderer
S. Fischer
352 Seiten
24,00 €
978-3-10-397104-0

 


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