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Schwache Schutzgeister

Auf den Spuren von Isidor. Geschichte und Geschichten aus einem jüdischen Leben

Von Wolfgang Bock


 

Die deutsch-jüdische Journalistin Shelly Kupferberg, die sich beruflich mit Raubkunst beschäftigt, legt einen Roman über ihre eigene Familiengeschichte vor. Das Romanhafte besteht in einer Identifikation mit dem Familienkollektiv, hauptsächlich mit den Figuren des eigenen Großvaters Walter und des Urgroßonkels Isidor. Sie leben in Wien und müssen 1938 den „Anschluss ans deutsche Reich“ über sich ergehen lassen: Walter und seinen Eltern gelingt die Flucht nach Palästina, während Isidor von den Nazis gefoltert wird und an den Folgen stirbt. Vorher hat man ihn um sein Hab und Gut gebracht. Die Autorin zeigt die Monstrosität des NS-Verwaltungsapparats, mit dem dieser bei der „Arisierung“ die Juden belegt, die Flüchtlinge auspresst und die Daheimgebliebenen schließlich in die Lager deportiert. Die Details sind dabei kaum zu ertragen, bleiben doch zur Erinnerung an die Menschen nur Verwaltungsdokumente in Archiven, Bücher und Fotografien. Oder, wie im Fall von Isidor, ein Besteckkasten, der sich auf dem Hängeboden der Familie in Tel Aviv erhalten hat. Vor allen Dingen aber findet die Autorin Geschichten. Unter diesen stechen diejenigen hervor, die sich um den mondänen Urgroßonkel Isidor ranken. Dessen vita erzählt sie in diesem Buch als Ein jüdisches Leben, wie der Text im Untertitel heißt.

Isidor ist ein Dandy. Er emanzipiert sich im Aufstieg vom Schtetl aus dem Rayon in die Donaumetropole Wien, die 1912 mit ihren zwei Millionen Einwohner die sechstgrößte Stadt der Welt ist. Isidor ist ein typischer Vertreter der jüdischen Zirkulationssphäre. Die Juden dürfen bekanntlich seit dem Mittelalter nicht produzieren. Wenn sie ihre Sphäre verlassen und sich assimilieren, so tun sie es als Kleider- und Lederfabrikanten, Rechtsanwälte, Wissenschaftler, Künstler, Sekretäre oder Banker. Isidor wird dadurch reich, dass er sich vor dem Ersten Weltkrieg in die Lederindustrie einkauft. Der promovierte Jurist steigt rasch vom Sekretär zum Direktor auf und managend das kriegswichtige Geschäft mit den Lederhäuten für Stiefel, Rucksäcke und Pferdesättel so gut, dass er aus dem Krieg als Millionär hervorgeht. Dazu verhelfen ihm Schwarzmarktgeschäfte ebenso wie Spekulationen, deren Gewinne er auf Depots in die Schweiz verschiebt. Fortan braucht der 1926 zum Kommerzialrat aufgestiegene Isidor nicht mehr zu arbeiten und mietet sich im Palais von Baron Rothschild ein, kümmert sich um seine Bibliothek und seine Kunstsammlung, führt einen der größten Salons Wiens und pflegt seine Verbindungen zur Oper und zum Theater inklusive der Sängerinnen und Tänzerinnen. Er führt ein rauschhaftes Leben, wie es auch Marcel Proust anhand seines Protagonisten Charles Swann und Alban Berg in seiner Oper Lulu nach Frank Wedekinds Erdgeist beschreiben. Isidor gibt den typischen jüdischen Aufsteiger ab: klug, freundlich, gebildet, gewinnend, auf dessen Rat in Geld- und Aktiengeschäften man hört. Die Nazis machen mit diesen Expertisen in Österreich spätestens 1938 ein Ende. Sie jagen die überflüssig gewordenen Juden erst außer Landes und ihnen eine „Reichsfluchtsteuer“ hinterher.

Das äußere Böse ist überstark; eine Kritik an den jüdischen Binnenverhältnissen findet man hier, ähnlich wie in Roberto Benignis Film Das Leben ist schön von 1997, weniger. Das Buch ist vielmehr aus der Perspektive eines Familienmitglieds, des Kindes einer Überlebenden also, geschrieben. So erzählt Shelly Kupferberg die Geschichte ihrer jüdischen Familie mit Witz, Hingabe und Chuzpe. Es sind Erzählungen vom Durchkommen, vom Überleben, von der List, wie sie eben jede Familie sich so konstruiert wie der Chronist der Nation, wie Sigmund Freud es einmal treffend ausgedrückt hat. Der Gestus dieser Überlebenden ist zusammengefasst in einem Witz, den der Schneider Kurt Goldfarb Isidors großen Bruder David erzählt, der sich auf den Weg nach Amerika macht:

»Ob David den Witz vom Juden kenne, der aus der Sowjetunion auswandert und an der Grenze sein Gepäck vorzuzeigen hat? Der Grenzbeamte fragt ihn, was das für eine Büste sei, die er mit sich trage. Darauf korrigiert ihn der Jude: »Nicht was ist das, sondern wer ist das?: Lenin!« Der Grenzbeamte ist entzückt und beeindruckt von so viel politischem Rückgrat und wünscht dem Juden alles Gute im Exil. Als dieser in die USA einreist und auch dort vom Zollbeamten befragt wird, wer denn das sei, den diese Büste darstelle, korrigiert der Jude: Nicht wer ist das, sondern: Was ist das?, sei die richtige Frage, und die Antwort dazu laute: Platin! Typisch Goldfarb, dachte sich Isidor und lachte herzlich.«

So denkt sich auch Shelly Kupferberg die Sache und auch der Leser und die Leserin werden in das Lachen mit einbezogen, wenn den Bürokraten diesseits und jenseits des Atlantiks ein Schnippchen geschlagen wird. Es ist die in Prosa gebrachte Atmosphäre des jüdischen Witzes, die im Wortsinne auf einem Galgenhumor beruht. Denn nicht allein David kommt nicht nach Amerika, sondern auch Isidor nicht. Seine Geliebte Ilona von Massey wird von Talentscouts aufgespürt und in Amerika ein Hollywoodstar. Isidor aber verliert all das zusammengewirtschaftete Vermögen durch die Nazis wieder und stirbt arm und gebrochen. Der Schluss dieser Aufsteiger Geschichte ist grausam genug und erinnert nicht allein motivisch, sondern auch stilistisch an die entsprechenden Szenen aus Robert Seethalers Roman Der Trafikant von 2012. Doch etwas ist auch anders.

Bevor die Geschichte Isidors mit seinem Tod 1939 endet, schaltet die Autorin eine dramatische Episode aus dem Leben ihres Großvaters Walter von 1938 ein. Der 19-Jährige wurde von Nazischergen auf offener Straße Weg gefangen und in eine Turnhalle gebracht. Dort hatten diese zuvor extra in die Ecken geschissen und zwangen die Juden nun, ihren Dreck wegzumachen. Zu seinem Glück kannte Walter einen der Braunhemden aus der Schule, dem die Sache anscheinend peinlich war und der ihn aus dieser Hölle entließ. So sehr man die Situation verstehen kann, so sehr wird daran zugleich das Wundmal der familiären und biographischen Erzählperspektive insgesamt deutlich. Diese Szene steht bereits unter den existenziellen Überlebensbedingungen des KZs, in denen jeder zuerst versucht, seine eigene Haut zu retten. So verbleibt die Autorin in dieser Episode, im Banne der Drastik der Geschichte, ebenfalls ganz bei ihrem Großvater. Kein Gedanke gilt an dieser Stelle denen, die in der Halle verbleiben, weiter gefoltert werden oder umkommen. Dieses Detail zeigt, wie weit die Verwundung auch die nächsten Generationen, die sich mit einer Chronik abmühen, noch erreichen. Was an Emphase den Opfern der eigenen Familie konkret zuteilwird, bleibt für die Zurückgebliebenen in einer seltsamen Abstraktion befangen. Das Kollektive im Judentum aber rettet sich auch im Einzelnen.

Unter solchen Bedingungen erzählt die Autorin die Geschichte ihrer Familie in Geschichten. Die allerletzte dieser Geschichten gilt ihrem Besuch des jüdischen Zentralfriedhof in Wien. Sie besucht das Grab Isidors und trifft dabei zu ihrer Überraschung auf Rehe und Hasen, die dort friedlich grasen. Das deutet auf eine unerwartete Idylle hin. So steht sie am Ende Aug in Aug mit einem Reh, das wie ein Seelentier das Grab des Onkels bewacht. Bald aber stellt sich das Grauen auch hier ein, als sie erfährt, dass einmal im Jahr Jäger auf den Friedhof kommen, um die Tiere vor Ort zu erlegen. Die erschossenen Kadaver der Tiere auf den Gräbern der Menschen! Was für schwache Schutzgeister! denkt der Leser, die in dieser Welt selbst so fragile Geschöpfe sind! So gemahnt der Schluss an die Gebrochenheit der Schrift insgesamt, die hier zwar als ein gedrucktes Buch mit einem Verlag im Hintergrund daherkommt. Shelly Kupferberg erinnert aber zugleich daran, dass die scheinbar sicheren zivilisatorischen Verhältnisse insgesamt sehr schnell wieder auf solche von Gewalt und Opfern heruntergebrochen werden können.

Artikel online seit 19.09.22
 

Shelly Kupferberg
Isidor
Ein jüdisches Leben
Diogenes
Hardcover Leinen
256 Seiten
€ 24.00
978-3-257-07206-8

Leseprobe & Infos

 


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