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Kissingers Dinner for One

In seinem neuen Werk
»Staatskunst« erteilt uns der Darth Vader
der amerikanischen Außenpolitik sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert

Von Lothar Struck
 

Bereits in Henry Kissingers 2014 auf deutsch erschienenem Buch "Weltordnung" tauchte der Begriff der "Staatskunst" als ein Attribut für politisch verantwortungsvolles und weitsichtiges Agieren auf. Die ersten Protagonisten, die sich laut Kissinger diesen Titel verdienen, waren die Mediatoren des Westfälischen Friedens, mit dem 1648 der mörderische und blutige Dreißigjährige Krieg in Europa beendet wurde. In den in jahrelangem, zähen Ringen in Münster und Osnabrück ausgehandelten Übereinkünften (es gab nicht "ein" Friedensdokument) wurden die großen Rivalitäten der beteiligten Großmächte sorgfältig austariert. Die "inhärente Gleichheit zwischen souveränen Staaten [wurde] anerkannt, unbeschadet ihrer Macht oder ihrer inneren Ordnung. Neu aufgetretenen Mächten, wie Schweden oder den Niederlanden, wurde dieselbe protokollarische Behandlung zugesichert wie etablierten Großmächten wie Frankreich oder Österreich." Der Nationalstaat galt jetzt "als Grundbaustein der europäischen Ordnung". Und das "Konzept der staatlichen Souveränität wurde etabliert." Kissinger stellte heraus, worin die "Genialität" der ausgehandelten Vereinbarungen lag: Die "Bestimmungen [waren] auf Verfahrensweisen und nicht auf inhaltliche Fragen gerichtet." Es gab keine festgeschriebenen Allianzen oder Bündnisse. "Im Westfälischen Frieden spiegelte sich eine pragmatische Anpassung an die Realität und keineswegs eine einzigartige moralische Einsicht. Er beruhte auf einem System unabhängiger Staaten, die davon Abstand nahmen, sich in die inneren Angelegenheiten der anderen einzumischen." So wurde "das Gleichgewicht der Mächte zum Ordnungskonzept Europas".

Kissingers Euphorie für die Balance, die gegenseitige Akzeptanz von Grenzen und Staatsgebieten nebst der häufig zitierten Nichteinmischung in andere Angelegenheiten, bezieht sich vor allem auf das Gleichgewicht der Großmächte untereinander. Ausführlich ging er auf die Störungen dieses Systems ein – Napoleon etwa, dessen Ambitionen nach jahrelangen Kriegen im Wiener Kongress korrigiert wurden, aber auch die Bildung des Deutschen Reiches 1871. Hier lobte er Bismarck, der mit seiner Bündnispolitik Deutschland als neue Großmacht etablierte und zugleich die Balancen neu justierte. Seine Nachfolger konnten dieses fragile Gleichgewicht nicht mehr aufrecht erhalten und stolperten 1914 von einem Regionalkrieg um Serbien in den Ersten Weltkrieg. Die Großmächte hatten die "westfälischen" Prinzipien verlassen. Nach vier Jahren und Millionen von Opfern versagte dann noch einmal die Diplomatie, in dem die Implementierung einer neuen Nachkriegsordnung scheiterte, nicht zuletzt deswegen, weil die neue Großmacht USA, die der Entente von Großbritannien und Frankreich zum Sieg über die Mittelmächte verhalf, sich wieder zurückzog. Die neu geschaffenen internationalen Institutionen waren zu schwach, um den faschistischen Strömungen zu widerstehen. Europa versank abermals im Chaos; ein neuer Krieg war die Folge. Kissinger nennt die Zeit von 1914 bis 1945 den zweiten Dreißigjährigen Krieg.

Sechs Portraits = "sechs Lektionen"

Auf die "Staatskunst" der handelnden Politiker nach 1945 geht der inzwischen 99jährige ehemalige US-Außenminister Kissinger nun detaillierter im neuen, gleichnamigen Buch ein (Übersetzung von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm, Karlheinz Dürr, Anja Lerz, Karsten Petersen, Sabine Reinhardus, Karin Schuler und Thomas Stauder). Hierfür zeichnet er die historischen Verdienste von sechs Staatenlenkern nach: Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon, Anwar el-Sadat, Lee Kuan Yew und Margaret Thatcher, die er als "Lektionen" verstanden sehen möchte. Bereits in "Weltordnung" hatte Kissinger auf die Verdienste von Adenauer und Lee hingewiesen – von Nixon, dem er immer noch Lorbeerkränze flicht, ganz abgesehen. Thatcher und de Gaulle kamen damals kaum vor; fast im Gegenteil, denn Kissinger nannte die europäische Einigung in "Weltordnung" eher als Werk von Adenauer, dem Italiener de Gasperi und, auf französischer Seite, Robert Schuman. Auch Sadat wurde nur am Rande erwähnt.

Zu Beginn entwickelt Kissinger zwei Archetypen politischer Führung. Zum einen den Visionär oder Propheten, der sich auf "transzendente Visionen" beruft (er nennt hier u. a. Lenin und Gandhi) und zum anderen den "Staatsmann", der Verantwortung übernimmt, "Wandel und Fortschritt" fördert und gleichzeitig Grenzen erkennt. Beispielhaft werden hierfür mit Bismarck und Disraeli Politiker des 19. Jahrhunderts genannt, und später dann Theodore und Franklin Roosevelt, Atatürk und Nehru. Im weiteren Verlauf des Buches wird diese Typisierung nur noch wenige Male erwähnt. Schließlich wird eine Mittelposition eingenommen: Staatskunst, wie Kissinger sie versteht, besteht darin, "einen ausgeprägten Sinn für die politischen Realitäten" zu haben und gleichzeitig "eine starke Vision" über die Zukunft eines Gemeinwesens zu entwickeln und beides zu verbinden.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Wie nähert man sich der Auswahl? Welche Gemeinsamkeiten gibt es; welche Unterschiede? Nixon und Sadat bilden (großzügig betrachtet) eine Generation (1913 bzw. 1918 geboren), Lee und Thatcher (1923/1925) sind Kissingers Generation, während de Gaulle (1890) und Adenauer (1876) Männer des 19. Jahrhunderts sind. Einige mussten Staaten aufbauen bzw. nach Kriegen neu konstituieren (Lee, Adenauer, de Gaulle) oder formten bestehende Systeme um (Thatcher). Sadat und Nixon "erbten" von ihren Vorgängern Verwicklungen in Kriegen – und betrieben teilweise sogar noch Eskalationen. De Gaulle organisierte während der Besatzung den Widerstand gegen die Nazis und setzte sich in kühnen, heute noch zeitgemäss anmutenden selbstermächtigenden Medieninszenierungen (insbesondere über das Medium des Radios) an die Spitze. Sadat und Lee waren keine dezidiert demokratisch orientierten Politiker, was Kissinger durchaus konzediert.

"Als Erben einer Welt, deren Sicherheiten sich durch den Krieg aufgelöst hatten, definierten sie nationale Aufgaben neu, eröffneten neue Perspektiven und gaben einer Welt im Übergang eine neue Struktur", so wird das Verbindende formuliert. Ihre politische Macht erstreckte sich letztlich nur im schmalen Korridor zwischen 1949 und 1990. Ansonsten versucht Kissinger erst gar nicht, Temperamente und Handlungen der sechs Persönlichkeiten in ein Übereinstimmungskorsett zu zwängen. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit: Er kannte alle sechs Politiker persönlich und führte mit ihnen Gespräche und/oder Verhandlungen (zur Regierungszeit von Thatcher war er ohne Amt). Mit Nixon war es speziell: Er war Kissingers als Nationaler Sicherheitsberater und später, in dessen zweiter Amtszeit (die 1974 mit Rücktritt endete), auch noch zusätzlich Außenminister sein Chef. (Kissinger blieb auch unter Gerald Ford Außenminister.)

Kissinger schreibt keine journalistischen Portraits. Privates kommt sparsam vor (die Ausnahme ist im Text über de Gaulle dessen Verhältnis zur früh verstorbenen Tochter). Man erfährt von de Gaulles Kälte, Adenauers Schlauheit trotz seiner einfachen Sprache, Lees Intelligenz und Durchsetzungsstärke, Sadats Kühnheit und Zähigkeit und Thatchers Sturheit. Nixon attestiert er eine zeit seines Lebens eine "kritische Selbstwahrnehmung", die ihn "geplagt" habe. "Dieser Aspekt von Nixons Persönlichkeit bewirkte eine rastlose Suche nach Anerkennung." Das Nixon-Kapitel bietet, wenn man die Memoiren Kissingers gelesen hat, keine neuen Erkenntnisse.

Betont wird ausdrücklich, dass die Politik der portraitierten Staatenlenker "mitunter gesellschaftsspaltend" wirkte. Sie interessierten sich nicht für momentane Stimmungen und Wählerumfragen. "Für sie waren Kontroversen das unvermeidliche Nebenprodukt der umfassenden Veränderungsprozesse, die sie anstrebten." Sie wichen nicht ab vom dem Weg, den sie für wichtig und richtig einschätzten. Da erstaunt es kaum, dass vier der sechs ihre politischen Ämter vorzeitig aufgaben; Alwar el-Sadat fiel einem Attentat zum Opfer.

Worin lagen die besonderen Leistungen? Da wäre Konrad Adenauers demutsvolle Integration des moralisch diskreditierten Deutschlands durch die Westbindung, insbesondere die Aussöhnung mit Frankreich. Hierfür akzeptierte er zunächst einige Demütigungen; er war sich der historischen Schuld der Deutschen durchaus bewusst. Innenpolitisch setzte er sich gegen die nationalistischen Töne der Schumacher-SPD durch, die über Stalins Wiedervereinigungsangebot von 1952 zu Gunsten einer deutschen Neutralität verhandeln wollte.

Charles de Gaulles Verdienste liegen zum einen in seinem kühnen Widerstand gegen die Nazis, den er größtenteils aus den Kolonien heraus organisierte, und schließlich, viele Jahre später, die Erschaffung der Fünften Republik und die (nicht unumstrittene) Lösung des Algerien-Konflikts. Natürlich wird Richard Nixon von Kissinger die Beendigung des Vietnam-Krieges angerechnet (hierüber wäre einiges zu sagen). Noch wichtiger scheint ihm jedoch der strategische Schachzug zu sein, China auf die Weltbühne zu holen, um damit die Sowjetunion geopolitisch zu schwächen. Anwar el-Sadat wird als rastloser Friedenssucher gegenüber Israel beschrieben, der sich gegen Widerstände im eigenen Land wie auch bei den Nachbarstaaten durchsetzte und dies, obwohl er zunächst 1973 mit einem Krieg gegen Israel begann. Lee Kuan Yew schuf mit dem Stadtstaat Singapur mit geschickter Wirtschafts- aber auch Geopolitik innerhalb einer Generation aus einer "Malaria-Insel vor der südlichsten Spitze der Malaiischen Halbinsel" das "reichste Land Asiens auf Pro-Kopf-Basis und de facto zum Handelszentrum Südostasiens". Bei Margaret Thatcher schätzt er den Umbau und Neuaufbau der britischen Wirtschaft und ihren Durchsetzungswillen im Nordirland-Konflikt, den er als Basis für das viele Jahre später von Blair abgeschlossene "Karfreitag"-Abkommen hält. Thatchers Verhalten im Falkland-Krieg nötigt Kissinger immerhin Respekt ab, wobei man zwischen den Zeilen zu erkennen glaubt, dass er damit weniger einverstanden war. Fehleinschätzungen der Staatskunst-Protagonisten werden von Kissinger – wenn überhaupt – nur sehr sanft angesprochen. Am nachhaltigsten wirkt seine Kritik an Margaret Thatchers Verhalten zur deutschen Wiedervereinigung 1989/90.

Adenauers Unterricht bei Kissinger
und die Wankelmütigkeit der USA

Bei allen historischen Reminiszenzen bilden vor allem die persönlichen Eindrücke Kissingers und die Spiegelung der jeweiligen Aktionen der Akteure für die USA die besondere Essenz dieses Buches. Etwa in Bezug auf die Skepsis Adenauers nach der Suez-Krise 1956 hinsichtlich der Bündnistreue der USA, die damals Großbritannien und Frankreich gegen Ägypten nicht unterstützten, um die Sowjetunion nicht zu reizen. Für Adenauer war dies ein Zeichen für eine latente Unzuverlässigkeit der Amerikaner. Wie wäre die Reaktion der Vereinigten Staaten, wenn West-Berlin angegriffen würde? Würde man tatsächlich bereit sein, auch eine nukleare Verteidigung vorzunehmen – trotz des Risikos, dass die Sowjetunion auf amerikanischem Gebiet zurückschlagen könnte? Kissinger wurde seinerzeit von der Regierung beauftragt, Adenauers Skepsis zu auszuräumen. Der deutsche Kanzler erhielt von ihm eine Privatstunde über die Fähigkeiten der amerikanischen Nuklearstreitkräfte, in der streng geheime Informationen zur Beruhigung weitergegeben wurden. Adenauer erkannte, dass die Sowjets technologisch unterlegen waren und war zufrieden. Jahre später allerdings, im letzten Gespräch Kissingers mit dem Privatmann Adenauer kurz vor dessen Tod war der Alte erneut voller Skepsis. In einem unlängst wieder veröffentlichten Interview mit der ARD aus dem Jahre 1962 wurde Kissinger ebenfalls mit der Frage der Zuverlässigkeit der Amerikaner konfrontiert.

Interessant, dass, wenn auch aus anderen Gründen, Charles de Gaulle sich ebenfalls die Frage stellte, "ob Amerika sein umfassendes Engagement in Europa für immer aufrechterhalten könne oder wolle, vor allem im Bereich der Nuklearwaffen." Um ihre Unabhängigkeit zu betonen, trat Frankreich aus der gemeinsamen Kommandostruktur der NATO aus; de Gaulle wollte die Befehlsgewalt über die französischen Atomwaffen behalten und sich nicht den Amerikanern (oder Briten) unterordnen.

Indem Kissinger diese vergangenen Sorgen artikuliert, schlägt er, ohne es direkt anzusprechen, einen Bogen zu den aktuellen Diskussionen, die seit der Invasion der russischen Truppen in der Ukraine und dem sich offen zeigenden Imperialismus des Putin-Regimes, kursieren. Die zentrale Frage lautet auch hier: Inwieweit werden die Vereinigten Staaten angegriffenen osteuropäischen Ländern wie Polen oder dem Baltikum im Rahmen der NATO auch mit ihren Nuklearwaffen beistehen? Oder wird man die Eskalation scheuen und sich zurückziehen?

USA und China

Auch im Kapitel über Lee Kuan Yew, dem langjährigen Premierminister von Singapur, glaubt der Leser in einigen Bemerkungen Kissingers aktuelle Bezüge herauszulesen – sowohl über die Bündniszuverlässigkeit der Vereinigten Staaten wie auch über das geopolitische Verhältnis zwischen den USA und China.

Lee besuchte 1968 im Rahmen eines kurzen Sabbaticals Harvard. Er war seit 1959 Premierminister von Singapur. Der Stadtstaat war erst 1965 in die Unabhängigkeit entlassen worden. Lee beeindruckte Kissinger durch seine ungewöhnlich direkte Art und die nüchternen, ideologiefreien Analysen. Im Gegensatz zum Mainstream der Zeit verteufelte er nicht per se die amerikanische Intervention in Vietnam, sah jedoch die Gefahren. Schon ein Jahr zuvor hatte Lee bei einem Staatsbesuch in Washington dezent die USA darauf hingewiesen, dass ihr Engagement bereits seit anderthalb Jahrzehnten bestand. "Die Vereinigten Staaten hätten", so zitiert Kissinger Lee in Bezug auf die USA in Vietnam, "sämtliche Haltestellen verpasst, an denen sie hätten aussteigen können; die einzige Möglichkeit bestehe nun darin, bis zur Endhaltestelle weiterzufahren."

Detailliert schildert Kissinger wie Lee aus einem ethnisch diffizilen Gebilde sukzessive ein (wirtschaftlich basiertes) Gemeinschafts- und Nationalgefühl schuf, in dem er beispielsweise Anreize für ausländische Investoren einräumte. Singapur entwickelte sich zu einer "Stadtgesellschaft von Hausbesitzern". Kissinger beschreibt ein innenpolitisches Konstrukt, welches kommunitaristische, bisweilen auch autoritäre Züge zeigt. Außenpolitisch balancierte Lee zwischen dem in den 1980er Jahren aufkommenden China und den USA. Dabei biederte er sich weder dem autoritären China an, noch verschonte er die USA mit Kritik. Ihm war klar: "[W]enn die Elefanten […] randalieren, kann es für eine Maus, die die Gewohnheiten der Elefanten nicht kennt, sehr schmerzhaft werden." Lee sei, so Kissinger, "auf ständiger Suche nach einer Weltordnung" gewesen.

Die "amerikanischen Tugenden Großmut und Idealismus" reichten, so hatte Lee einmal gesagt, nicht aus. "Es bedurfte als Ergänzung geopolitischer Erkenntnisse, damit Amerika seine Rolle ausfüllen konnte." Auch warnte Lee davor, dass eine moralische amerikanische Außenpolitik  "in Neo-Isolationismus umschlagen könnte, wenn es angesichts der Weltlage enttäuscht würde." Auch hier also die Furcht vor dem Wankelmut des Verbündeten.

Kissinger bilanziert Lees geopolitische Ansichten und sie erscheinen wie ein Spiegel seiner eigenen Einschätzungen: "Lees Haltung gegenüber China – genauso wie seine Analyse Amerikas – war völlig unsentimental. Während die Herausforderung Amerikas in Lees Augen in seinem Schwanken zwischen unzureichend reflektiertem Idealismus und gewohnheitsmäßigen Anfällen von Selbstzweifeln lag, bestand die Problematik Chinas in der Wiederbelebung eines traditionellen Imperialismus." Wenn Kissinger konstatiert, dass sich die Aufmerksamkeit der USA in den letzten Jahren auf die "Definition und Aufrechterhaltung des asiatischen Gleichgewichts" konzentriert (gipfelnd in der "Pivot to Asia"-Politik), so ist damit die Gefahr einer Konfrontation mit der sich entwickelnden Supermacht China gegeben. Lee hatte hierzu 2011 angeregt, dass die USA ihre "Vormachtstellung im westlichen Pazifik und vielleicht auch in der ganzen Welt mit einer neuen Supermacht zu teilen" und China als neue Großmacht zu respektieren soll, weil ein Krieg zwischen den beiden nur als "apokalyptisches Szenario" vorstellbar sei. Man kann vermuten, dass dies auch Kissingers Sichtweise ist.

"Meritokratische Revolution"

Im Nachwort kommt Kissinger auf eine weitere Gemeinsamkeit der sechs portraitierten Staatenlenker zu sprechen: Die entstammten alle der Mittelschicht. Kissinger spricht von der "meritokratische Revolution". Politische Handlungsmöglichkeiten wurden nicht mehr "dem Geburtsrecht, sondern zunehmend der Intelligenz und der eigenen Anstrengung zugeschrieben, und gute Bildung wurde zum Königsweg des beruflichen Aufstiegs." Alle entwickelten "ein festes Wertesystem" welche sie von Kindheit an prägten: "persönliche Disziplin, Selbstvervollkommnung, Wohltätigkeit, Patriotismus und Selbstvertrauen." 

Den Politologen Yuval Levin zitierend, sieht Kissinger (in einem sehr kurzen Kapitel) diese meritokratischen Errungenschaften auf dem Rückzug. "Zumindest im Westen mehren sich die Anzeichen, dass die Bedingungen, die dazu beitrugen, die sechs hier beschriebenen Führungsfiguren hervorzubringen, nun allerdings selbst von einem evolutionären Niedergang erfasst werden. Der staatsbürgerliche Patriotismus, der dem Dienst am Gemeinwohl einst sein Prestige verlieh, scheint nun von einem identitätsbasierten Parteigeist und einem mit diesem konkurrierenden Kosmopolitismus überflügelt zu werden."

Geopolitisches Beziehungsdreieck

Deutlich fällt das im Nachwort zum Ausdruck gebrachte Urteil über die russische Invasion in der Ukraine als "ungeheuerliche[n] Verstoß gegen das internationale Recht" aus. Kissinger sieht hierin einen "Auswuchs eines gescheiterten strategischen oder nur halbherzig geführten Dialogs". Wie der Dialog mit einem Aggressor hätte stattfinden können, dem er gleichzeitig eine unheilvollen Mischung aus "mystischen Patriotismus" und "imperiale[m] Anspruchsgehabe" vorwirft und der nichts außer der Aufgabe der Ukraine selber akzeptieren würde, bleibt unklar. In einem aktuellen Interview für den "Spiegel" plädiert Kissinger zur Lösung des Russland/Ukraine-Krieges für Status quo ante vor dem 24.2.2022. Er ist klug genug um zu wissen, dass es für das Putin-Regime schlichtweg unmöglich ist, dies zu akzeptieren; alle Opfer wären praktisch umsonst gewesen und die Gebietsgewinne wird man nicht so einfach wieder aufgeben wollen. Kissingers geopolitischer Besteckkasten hat schlichtweg keine Instrumente für eine solche Situation – außer jenes, welches eine Großmachtbefriedung wie im 19. Jahrhundert vorsehen würde, d. h. Gebietsabtretungen. Dies jedoch lehnt er – mindestens offiziell – ausdrücklich ab.

Stattdessen beschwört er geradezu die Wiederherstellung der "trianguläre[n] Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten, China und Russland." Auffällig, dass Europa in diesem geopolitischen Beziehungsdreieck keine Rolle spielt. Hier ist Kissinger immer noch politischer Realist: Europa soll sich wohl, so dürfte die Idee sein, mit Russland gegen die chinesischen Herausforderungen zusammentun. Wie dies mit dem revisionistischen Putin-Regime funktionieren soll, welches sich gerade wirtschaftlich, politisch und, mindestens teilweise, militärisch gen China orientiert, kann man sich kaum vorstellen. Gerade jetzt, so scheint es, fehlen die politischen Führungsfiguren mit ihrer "Staatskunst".

Manchmal häufen sich in den Portraits additiv die in der jeweiligen Amtszeit der Protagonisten aufkommenden (meist außenpolitischen) Krisen. Dann verfallen die Texte streckenweise in den Berichtsmodus. Zwar wird dadurch die Komplexität der jeweiligen Zeit aufgedeckt, aber es entfällt eine Priorisierung. Auch stimmt man mit den Deutungen nicht immer überein. Dennoch: Kissingers Bücher sind immer lesenswert; so auch dieses. Man mag es in den Zwischentönen als ein Vermächtnis lesen. "Staatskunst" ist auch so etwas wie Kissingers Dinner for One.

Artikel online seit 02.08.22
 

Henry A. Kissinger Staatskunst
Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert
Aus dem Englischen von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm, Karlheinz Dürr, Anja Lerz, Karsten Petersen, Sabine Reinhardus, Karin Schuler, Thomas Stauder
C. Bertelsmann
Hardcover mit Schutzumschlag, 608 Seiten, 6 s/w Abbildungen
38,00 €
978-3-570-10472-9

Henry A. Kissinger Weltordnung
Aus dem Amerikanischen von Karlheinz Dürr, Enrico Heinemann
Pantheon
Paperback
480 Seiten,
16,00 €
978-3-570-55298-8

 

 


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