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Amerikanist & Flaneur

»My idea of heaven is to settle down in a jet with a book, a notebook and a martini.«
Die Bücher des Chronisten jüdischen Lebens und Literaturkritikers Alfred Kazin sind nur noch antiquarisch lieferbar. Das muß sich ändern.

Ein Plädoyer von Stefan Geyer
 

Es ist traditionelle literarische und verlegerische Aufgabe, vergessene Bücher vergessener Autorinnen und Autoren aus der Versenkung zu holen, zu veröffentlichen, vor dem Vergessen zu bewahren und der Öffentlichkeit bekannt und wieder zugänglich zu machen. Es gibt Verlage, bei denen das ein fester Programmpunkt ist. Exemplarisch seien die Andere Bibliothek und der Schöffling Verlag genannt. Dieser war mit der Wiederveröffentlichung von u.a. Herbert Heckmann (Benjamin und seine Väter), Valentin Senger (Kaiserhofstraße 12), Gabriele Tergit (Die Effingers) sehr erfolgreich, die Bücher wurden Bestseller. Mit Sicherheit warten etliche weitere literarische Schätze ihrer Wiederentdeckung und darauf gehoben zu werden. Einer dieser Autoren, die darauf harren, neu entdeckt und wiederbelebt zu werden, ist Alfred Kazin.

Alfred Kazin war ein amerikanischer Literaturwissenschaftler und Kritiker. Er wurde am 5. Juni 1915 als Sohn polnisch-russischer Einwanderer in New York geboren. Seine Mutter war Schneiderin, sein Vater Anstreicher. Aufgewachsen ist Kazin in Brownsville, einem armen Stadtteil von Brooklyn, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Großteil jüdisch geprägt war. Man sprach vom „Jerusalem Amerikas“ oder auch vom „American Shtetl Brunzvil“.

1942 veröffentlichte Kazin im Alter von 27 Jahren eine dreibändige amerikanische Literaturgeschichte unter dem Titel On Native Grounds, die die Jahre 1860–1940 behandelt. (in der gekürzten deutschen Ausgabe als Amerika – Selbsterkennung und Befreiung, by Karl Alber Verlag, Freiburg, München, 1951). Diese Veröffentlichung machte ihn zu einem anerkannten Intellektuellen in New York und darüber hinaus. Sein Lebenslauf ist dem von Didier Eribon (Die Rückkehr nach Reims) ähnlich, der sich ebenfalls aus seiner ärmlichen Herkunft buchstäblich herausgelesen hatte, und zu einem der wichtigsten Intellektuellen Frankreichs wurde. Die New York Times schrieb im Nachruf auf Kazin: „He escaped the poverty of his youth trough the pages of books.“

Von 1952 an lehrte er als Gastprofessor an diversen amerikanischen Universitäten. In den 60iger Jahren war Kazin der wichtigste Rezensent der USA. Kritiken und Essays erschienen unter anderem im New Yorker. Neben diesen Tätigkeiten schrieb er sein Leben lang Tagebücher und autobiographische Texte. 1951 erschien der erste Teil dieser Autobiographie, A Walker in the City. 1965 folgte Starting out in the Thirties und 1978 New York Jew. Alle drei Bände sind bis heute in den USA lieferbar. 2011 wurde bei Yale University Press unter dem Titel Alfred Kazin`s Journals eine Auswahl aus den sechs Bände umfassenden Tagebücher veröffentlicht. Alfred Kazin ist ein moderner Klassiker der amerikanischen Literatur. Sich selbst bezeichnete er als „a child of Jewish history und literary journalist“. Kazin hielt sich regelmäßig in Deutschland auf, unter anderem lehrte er Anfang der Fünfzigerjahre an der Universität Köln Amerikanistik.

Eine deutsche Ausgabe von A Walker in the City erschien 1966 im Walter Verlag, Olten und Freiburg, unter dem Titel Meine Strassen in New York, übersetzt von Erika Meier. Kazin lebte bereits einige Jahre in Manhattan, als er nach Brownsville zurückkehrte und die Straßen und Umgebung seiner Kindheit und Jugend erneut zu Fuß durchstreifte. In A Walker in the City schildert er sein Heranwachsen in Brownsville. Er beschreibt eine untergegangene Welt und ihre Bewohner, denen der Sozialismus näher steht als die Religion. Es geht um das Stummfilmkino, die heruntergekommene Synagoge sowie den Überlebenswillen der armen Bevölkerung, die sich mit Humor und Lebensenergie über Wasser zu halten versucht. All das ist eine liebevolle Hommage an das jüdische Leben und die Umgebung, in der dieses Leben stattfindet. Mit aufmerksamem, genauem Blick und Empathie beschreibt Kazin die Welt und die Menschen seiner Kindheit und Jugend. Kazin war Stotterer und notierte: „Es bedrückte mich, daß ich nur in einsamen Straßen laut und ungehemmt sprechen konnte.“ (S. 35).

A Walker in the City handelt von New York, von Migration und von jüdischem Leben aus der Sicht eines Beteiligten und Flaneurs. Es ist vergleichbar mit Texten berühmter Flaneure wie beispielsweise Franz Hessel, Spazieren in Berlin, Louis Aragon, Der Pariser Bauer, Léon-Paul Fargue, Der Wanderer durch Paris sowie Walter Benjamin, Berliner Kindheit um 1900. Daher ist das Buch auch aus heutiger Sicht aktuell und lesenswert.

Alfred Kazin verband eine jahrelange Freundschaft mit Hannah Arendt. Sie lernten sich 1946 auf einer Dinerparty in N.Y. kennen. Für die nächsten zehn Jahre sollte Arendt und Kazin eine innige Freundschaft verbinden, die sich auch in insgesamt 40 Briefen manifestierte. Der letzte Brief datiert vom 24. Mai 1974 und enthält Genesungswünsche Kazins an Hannah Arendt. Es sind vorwiegend kurze Briefe. Arendt und Kazin waren quasi Nachbarn und haben sich regelmäßig gesehen. Da gab es nicht so viel zu schreiben. Dieser Briefwechsel ist komplett im Netz nachzulesen.

Anfang der 60iger Jahre wurde die Freundschaft der beiden Intellektuellen brüchig. Genaue Gründe für diese Entfremdung sind nicht bekannt, sie könnte aber durch Arendts Bericht Eichmann in Jerusalem ausgelöst worden sein, über den Kazin schrieb, der Tonfall, in dem sie über die Ermordeten schrieb „made me suffer“. Dennoch waren die Jahre ihrer engen Freundschaft für beide Seiten überaus fruchtbar. Arendt hatte den ersten Teil von Kazins New-York-Trilogie A Walker in the City, um den es hier geht, durchgesehen und teilweise korrigiert. Kazin seinerseits vermittelte Arendts Manuskript ihres Totalitarismus-Buches an den amerikanischen Verlag Harcourt and Brace, der das Buch dann auch veröffentlichte. Er hatte zuvor ebenfalls das Manuskript redigiert.

Alfred Kazin starb an seinem 83. Geburtstag 1998 in New York. Philip Roth sagte über ihn: „He was America`s best reader of American Literature in his century.
Vielleicht hat er seinen Himmel ja so vorgefunden, wie er ihn sich gewünscht hat: „My idea of heaven is to settle down in a jet with a book, a notebook and a martini.“

Der Autor und Übersetzer Hennig  Ahrens, hat einige Kapitel aus der deutschen Übersetzung und dem amerikanischen Original gelesen. Sein Urteil lautete: „....habe mir nun endlich den Kazin angeschaut: Ein sehr charmantes, anschauliches Buch, gar nicht nostalgisch, obwohl es sehr liebevoll ist. Ich war sofort drin, und damit auch im New York jener Zeit. Man kann es noch heute mit Gewinn und Vergnügen lesen, denke ich.“

Es wird Zeit, dass sich ein deutscher Verlag diesem Autor widmet und ihn dem deutschsprachigen Publikum bekannt macht. Verdient hätte Alfred Kazin es, zumal er stets aktuelle Themen behandelt wie Jüdisches Leben, Migration, flanieren und nicht zuletzt New York.

Artikel online seit 08.11.22
 

 

 


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