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Eitles Feuilletongesums

Jochen Hörischs eigenwillig inszenierte »Szenen einer riskanten Beziehung«
von Poesie und Politik

Von Lothar Struck
 

Die zahlreichen Publikationen wie beispielsweise die Kulturgeschichte der Hände (2021), die Monografie "Gott, Geld und Medien" (2004), ein Essay über das "Wissen der Literatur" (2007), Martin Luther (2020), Richard Wagners Theorietheater (2015) oder der "Wut des Verstehens" (1988/2011) machen Jochen Hörisch (Jahrgang 1951) zu einer gerne befragten Persönlichkeit. Er erscheint dabei wie eine Art kulturwissenschaftlicher Thermomix des öffentlich-rechtlichen Radiofeuilletons, zumal er geschickt und mit großer Eloquenz scheinbar Abseitiges zu verblüffenden Analogien verknüpfen kann.

Nun legt Hörisch "Poesie und Politik" vor, ein Buch, das er listig mit "Szenen einer riskanten Beziehung" untertitelt. Tatsächlich geht es ihm nie um eine umfassende Darstellung der besprochenen Phänomene, sondern es werden episodenhaft einzelne Beispiele vorgestellt und kommentiert. So kommt das neueste Werk mit Endnoten und Personenverzeichnis auf gerade einmal knapp 160 Seiten.
Es beginnt mit der Einschätzung der Nobelpreiswürdigkeit von Peter Handke, der, so Hörisch, Verständnis für eine Politik geäußert habe, die "Massenmorde nicht scheute". Zwar stimmt das nicht und mit dem gleichen Argument könnte man sich Sartre "beschäftigen", aber das ist ihm egal, denn diese Behauptung ist ein guter Aufhänger.

Immerhin konzediert der Autor: "Dichterische Sätze sind fiktionale Sätze, die sich nicht auf Fakten fokussieren." Literatur ist nicht verpflichtet "Ereignisse und Strukturen sachlich richtig darzustellen." Die Unterschiede zwischen poetischer und politischer Sprachen seien "scharf konturiert", vor allem deshalb, weil die politische Sprache der Entscheidungsträger grundlegende Bedeutung für das Gemeinwesen haben (bspw. in der Gestalt von Gesetzen), während die dichterische Sprache "keine eindeutigen zurechenbare Effekte" haben – was eine schöne Umschreibung von "bedeutungslos" im Sinne unmittelbarer politischer Gestaltung ist. Mehrmals wird Hörisch darauf hinweisen, dass die politischen Urteile von Poeten "sachlich nicht interessanter" sind als die von "normalen" Menschen oder Prominenten, was jedoch nicht bedeuten muss, dass deren Texte zu gesellschaftlichen Fragen irrelevant sind.

Der Anfang wird mit einem Hitler-Gedicht von Luise Rinser gemacht, die sich später als Gegnerin des Nazi-Regimes darstellte und von den Grünen 1984 als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen wurde. Dann folgt eine Stalin-Ode von Johannes R. Becher, dem DDR-Poeten (Becher ist unverfänglicher als Brecht). Fremdsprachige Autoren wie Hamsun, Céline, Pound oder D'Annunzio werden nur kurz gestreift, bevor die Riege der Kriegsbegeisterten von 1914 vorgestellt wird (mit den wenigen Ausnahmen Heinrich Mann, Hermann Hesse, Romain Rolland und Stefan Zweig). Da werden furchtbaren Verse von Gerhart Hauptmann einem literarisch satisfaktionsfähigen Gedicht von Rainer Maria Rilke gegenüber gestellt. Natürlich erfährt man von Thomas Manns Begeisterung für den "Volkskrieg" und als Zugabe gibt es gleich noch ein paar deftige Tagebucheintragungen zu den Protagonisten der Räterepublik dazu, bevor dann Manns Schwenk angerissen wird.  

Wie Hörisch am Beispiel der Akteure während der Münchner Räterepublik 1919 exemplarisch herausstellt, existiert wohl eine Unvereinbarkeit zwischen Politik und Poesie. Tatsächlich stoßen Intellektuelle in Machtpositionen fast immer an realpolitische Grenzen. Als positives Gegenbeispiel, also einem Poeten, der selbst für heutige Verhältnisse eine aktive und erfolgreiche Politik betrieben hat, fällt Hörisch nur Goethe im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach ein, dem er sogar eine "frühfeministische" Politik attestiert. Sicherlich wäre Václav Havel ein weiteres Beispiel gewesen, aber ein deutscher Professor (emeritus) interessiert nun einmal mehr für den Dichterfürsten und wie es aktuell mit Robert Habeck weitergeht, weiß ja noch niemand.

Es gibt sie aber: die Schriftsteller, die mit ihren politischen Urteilen "schlicht recht" hatten – und gleichzeitig mit ihren Werken Veränderungen anstießen, etwa Emile Zola mit "J'accuse", seinem Text zur Dreyfus-Affäre, oder Alexander Solschenizyn im "Archipel Gulag". Bei "Onkel Toms Hütte" von Harriet Beecher Stowe attestiert der Autor zwar einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um die Sklaverei (zehn Jahre später begann der amerikanische Bürgerkrieg), schreckt aber aus einer seltsamen Rücksicht auf heutzutage "politisch inkorrekte" Passagen vor einer rundum positiven Bewertung zurück. Inwiefern Hochhuths "Eine Liebe in Deutschland" in diese Reihe passt, muss jeder Leser selber entscheiden. Allerdings entspricht die poetische Qualität dieser Werke, so Hörisch abschließend, "nicht unbedingt ihrer beeindruckenden Wirkung".

Zola markiert für ihn noch eine andere Zäsur: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betritt der Intellektuelle die Bühne. Es sind nicht nur mehr Dichter, die sich mit ihrer "engagierten Literatur" zur Wort melden, sondern auch Gelehrte, Philosophen und Künstler. Mit der abnehmenden Wirkungsmacht der "Gutenberg-Galaxis" (deren Hochzeit markiert Hörisch interessanterweise von 1770-1920) wird diese Rolle zunehmend von Schauspielern, Drehbuchautoren, Journalisten und Fernsehmoderatoren übernommen. Süffisant die Anmerkung, dass Fernsehserien wie "Tatort" oder "Lindenstraße" zu einer stärkeren Verbreitung progressiver gesellschaftlicher Werte beigetragen hätten als die Romanbestseller aus der Zeit. Das Beispiel der amerikanischen Serie "Holocaust" darf natürlich auch nicht fehlen. Hörischs Einwurf übersieht die kurze Renaissance der Buchkultur nach dem Zweiten Weltkrieg, die immerhin die außerparlamentarische Opposition formieren half und schließlich fortschrieb, weil die aufkommenden Leitmedien (Radio aber vor allem Fernsehen) deren Programmatik übernahmen. Das Stichwort wäre hier "Marsch durch die Institutionen" gewesen – was nicht nur politische, sondern am Ende auch kulturpolitische Institutionen meint.

Immer wieder erneuert Hörisch seine Vorbehalte gegenüber "politischen Dichtern" und ihre vermeintliche "Allzuständigkeit", zeiht sie gar als "Dilettanten" – und führt Heinrich Heines Spottgedicht über Atta Troll an, um die Kritik gegen die "Gesinnungskundgabe in politischer Gestalt" und die Diskrepanz zwischen "Genios" und "Talent" aufzuzeigen. Das ist ein brillanter Move, weil sich der immer wieder vor vermeintlichen politischen Inkorrektheiten furchtsame Hörisch hinter Heines Spottlust aus dem 19. Jahrhundert verstecken und er damit zugleich Beispielen aus der unmittelbaren Gegenwart ausweichen kann. Wie Poesie und Politik heutzutage im Verhältnis zu Stipendien, Preisen und Zuwendungen stehen, wird nicht einmal angerissen.

Als Grund für den Interventionsdrang der Dichter wird eine Mischung aus heiliger Dreifaltigkeit (dem Schönen, dem Wahren und dem Guten – Hörisch verwendet hierfür den sperrigen wie unnötigen Begriff der "Kalokagathie"), Geniekult (eine "Kunstreligion"), "Musenkuss"-Gehabe und der Wunsch nach einer "Ein-Personen-Autorität" genannt. Es sind allesamt Kriterien, die auf die Rezipienten zielen. Umso erstaunlicher, dass er hier nicht tiefer geht. Denn tatsächlich füllt der "wissende" Intellektuelle besonders in politisch turbulenten Zeiten eine Lücke. Wo bestehenden Institutionen nicht mehr als handlungsmächtig wahrgenommen werden, ist der Intellektuelle, der das Bedürfnis nach einem (vermeintlich) überparteilichen Gemeinsinn anspricht. Es ist die (zumeist nur rhetorische) Opposition gegen arrogante, selbstherrliche oder einfach nur überforderte politische Akteure. Musterbeispiel hierfür wären Ende der 1960er Jahre die Kampagnen von bekannten Prominenten, die sich offensiv für die Wahl der SPD und Willy Brandt als Kanzler engagierten. Damit sollte eine bisher politisch eher passive und in den Medien weniger vertretene Öffentlichkeit mobilisiert werden, die mit den beginnenden politischen Umwälzungen unzufrieden waren. So wurde vermittelt, dass man nicht alleine stand. Hörisch berücksichtigt diesen Aspekt merkwürdigerweise nur ex negativo: Das einzige Bild in diesem Buch ist ein Foto einer Kampagne der "Jungen Union", der Jugendorganisation der CDU, aus dem Jahr 1976. Es zeigt einen Karton mit Eiern, die mit Gesichtern bemalt sind und trägt die Überschrift "Am 3. Oktober hauen wir sie in die Pfanne". Dies war eine Anspielung auf die hohe Professorenquote im damaligen sozial-liberalen Kabinett. Hörischs Bilderklärung ist leider falsch, weil er es als Anspielung auf das Kabinett Brandt ansieht – dabei war seit 1974 Helmut Schmidt Bundeskanzler. (Interessant ist das Beispiel dennoch, weil sich in Bezug auf den Bildungsgrad der politischen Klasse in den letzten fünfzig Jahren einiges verändert hat und auch beruflich ungelernte Kräfte in wichtige Positionen aufrücken können.)

Irgendwann wird die Intellektuellenebene wieder verlassen und das Buch kehrt zu den Schriftstellern und Dichtern zurück. Hörisch unterscheidet zwischen "poetischem Sprechen" und "Tendenzpoesie" und bricht durchaus eine Lanze für den Autor, der ersteres wagt. Betont wird der abseitige, indirekte Weg: "Die poetische Methode ist der Umweg". Weiter heißt es emphatisch: "Groß sind Werke zu nennen, deren ästhetische Reize sich mit an- und aufregenden, sachlich-fachlich ernst zu nehmenden Einsichten verbinden. Diese müssen nicht mit denen von Fachdisziplinen übereinstimmen – Poesie ist etwas anderes als Wissenschaft, aber das in ihr angelegte dissidente Wissen verdient die Aufmerksamkeit der Wissenschaften", und zwar vor allem der Literaturwissenschaften, denn die Interpreten von Texten verstünden mitunter mehr davon, als der Verfasser selber. Das sind gut versteckte Tadel gegen den Feuilletons- und Alltagsjournalismus, der mit seinen fallbeilartigen, affektiven Urteilen rasch zur Hand ist (wobei Hörisch dann doch bisweilen wieder in die Reihe eintritt).

Bleibt die Frage, wer diese literarische Größe und die "politische Urteilskraft" eines Dichters bestimmt. Im Zweifel ist es derjenige, der darüber schreibt. Und so findet Hörisch Thomas Manns Essay "Bruder Hitler" als Beispiel. Er analysiert den Essay als Ansprache des Künstlers Mann an den gescheiterten Künstler Hitler. Er befragt hier nicht nur seinen Hass auf Hitler, sondern entdeckt widerstrebend in ihm einen "peinlichen, unangenehmen, ihm selbst aber in mancher Hinsicht gespenstisch nahen Bruder", zumal er selber an seine "frühen reaktionären Einstellungen" erinnert wird. Hitlers Einmarsch in Wien wird von Mann als Triumph gegen die verhasste Psychoanalyse Freuds interpretiert. Eine weitere Deutungsebene, in der Thomas Mann von seiner Bisexualität eine Parallele auf eine mögliche Homosexualität Hitlers suggeriert, verbietet sich Hörisch weiterzuspinnen. Im übrigen betont er mehrmals, wie "politisch inkorrekt" und "skandalös" der "Klartext" von Thomas Mann sei; eine Bemerkung, welche die Dimensionen dieses Textes auf unser heutiges spießiges Triggerniveau herunterbricht. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, dem Leser den gesamten Essay von Thomas Mann zur Verfügung zu stellen und danach die Interpretation auszubreiten.  

"Poesie und Politik" ist ein leichtes, leider aber auch mitunter allzu seichtes Buch. Etwa wenn da ein "Dichterkabinett" aufgestellt wird (mit Herta Müller als Kanzlerin und Peter Handke als Außenminister). Oder die Veralberung der Idee des Parlamentspoeten, pardon: der Parlamentspoetin. Wenn Hörisch lateinische Begriffe in Kursivschrift einflechtet, die rein nichts aufzeigen, außer die vermeintliche Gelehrsamkeit des Autors, bricht die Eitelkeit des Autors hervor. Über sein häufiges Kokettieren mit der "PC", was bisweilen zur deutlich herausgestellten Selbstkasteiung führt, die dann das Gegenteil bezeugen soll, schüttelt man  genervt den Kopf. Immerhin fallen ihm zur Charakterisierung des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Trump acht politisch korrekte Adjektive ein; nur ein Beispiel für die bisweilen ausufernde Aufzählungslust.

Was Hörisch vollkommen vernachlässigt, ist die Unterscheidung zwischen dem schriftstellerischen Genre des Essays und fiktionalen Texten. Die meisten dezidiert politischen Äußerungen von Schriftstellern finden sich außerhalb des Erzählungs- bzw. Romangenres. Ansonsten hätte man beispielsweise Günter Grass' "Ein weites Feld" heranziehen müssen (oder Christa Wolfs "Was bleibt", wobei Hörisch hier in den Anmerkungen von einer Begegnung mit Wolf spricht und ihre Novelle als Hölderlin-Zitat ausweist). Überhaupt findet eine literarische Bewertung bestimmter, als Referenz herangezogener Autoren nicht statt; sie dienen dem Autor nur als Pappfiguren, die er beliebig auftreten und wieder abtreten lässt. So bleibt das Buch trotz etlicher erhellender Momente am Ende nur ein verkrampftes, eitles Feuilletongesums. Schade.

Artikel online seit 25.09.22
 

Jochen Hörisch
Poesie und Politik
Szenen einer riskanten Beziehung
Hanser Verlag
160 Seiten
24,00 €
978-3-446-27417-4

Leseprobe & Info

 

 


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