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»Bedürfnis nach Verständnis«

Zwei lesenswerte Romane des Nobelpreisträgers
Abdulrazak Gurnah

Von Lothar Struck
 

Es war schon eine kleine Überraschung, als die Schwedische Akademie Abdulrazak Gurnah den Literaturnobelpreis 2021 zusprach. Binnen weniger Minuten waren die Online-Antiquariate mit ihren Restbeständen ausverkauft oder verlangten Mondpreise. Der Preisträger war keiner der üblichen "Verdächtigen" und in Deutschland weitgehend unbekannt.

Geboren wurde Gurnah 1948 in Sansibar, heute Tansania. 1968 Studium in Canterbury und London, Großbritannien. 1980 lehrte er zwei Jahre an der Universität in Kano, Nigeria und ging dann an die University of Kent, wo er bis zu seiner Emeritierung 2017 als Professor für Englisch und postkoloniale Literaturen tätig war. Zunächst erschienen verstreut einige Erzählungen von ihm; zwischen 1987 und 2020 dann zehn Romane in englischer. Bisher wurden fünf Romane ins Deutsche übersetzt, Sie erschienen in vier verschiedenen Verlagen.  

Kurz vor Weihnachten 2021 wurde im Penguin-Verlag "Das verlorene Paradies" (Original-Titel: "Paradise") neu aufgelegt. Der Roman ist von 1994 und war seinerzeit auf der Shortlist zum "Booker-Prize". Er wurde erstmals in einer deutschen Übersetzung von Inge Leipold 1996 im Krüger-Verlag herausgebracht.

Zeitlich umfasst der Roman ungefähr die Jahre zwischen 1909 bis 1914. Erzählt wird aus personaler Sicht des zu Beginn 12jährigen Yusuf, der in der kleinen Stadt Kawa mit seinen Eltern lebt. Sie gelten in Ostafrika als "Mswahili"; es liegt nahe, dass die Ahnen aus Sansibar kommen. Sie praktizieren einen (moderaten) Islam, der sich vom Animismus und Aberglauben der anderen Bewohner unterschied. Der Vater betreibt ein Hotel, ist aber in seinen Unternehmungen eher glücklos. Bisweilen erhält die Familie eines "Onkel Aziz", ein "reicher und berühmter Kaufmann", der, wie sich später herausstellt, kein biologischer Onkel ist. Aziz wird bei seinen Besuchen von der eigentlich eher armen Familie fürstlich bewirtet und am Ende erhält Yusuf immer eine Silbermünze zum Abschied. Dieses Mal ist alles anders. Der Vater erklärt ihm, dass er mit dem "Onkel" mitgehen muss.

Yusuf ist verstört, aber schnell kommt er wieder zu sich und er merkte, "jetzt würden keine Tränen mehr kommen, aber er wollte das Gefühl von Traurigkeit nicht verlieren. Er wischte die Tränen ab und begann, seinen Onkel eingehend zu mustern." Yusuf wird lernen, Beobachtungen rational abzuwägen und seinen Emotionen nicht zu viel Raum einzuräumen. Er kommt im Domizil von Aziz an, dem man die Hände küsst und der wie ein Heiliger verehrt wird. Yusuf gerät in die Obhut von Khalil, der ihn mit Spott, Humor aber auch kleinen Züchtigungen die neue Welt nahebringt und erklärt, was er zu tun habe. Sie arbeiten in einem Laden, der für Khalil die Welt ist. Und "Yusuf lernte, wie man von einem Kunden Geld entgegennahm und wie man einen Geldschein festhielt, damit man ihn sicher in den Fingern hatte." Rasch wird der Junge zum Liebling in der Kundschaft. Nachts plagen ihn allerdings Alpträume, Hunde, die ihn anfallen und zerfleischen wollen. Und Khalil spottet darüber.

Onkel Aziz, der sich Seyyid nennen ließ (das Glossar übersetzt mit "Herr" oder "Meister"), treibt Handel, auch und vor allem mit den "Wilden", wie Khalil die Stämme im Inneren des Landes nennt, die weder Inder noch Araber noch Kolonialherren sind: "Er geht zu den Wilden und verkauft ihnen […] Waren und kauft ihnen dann etwas ab. Er kauft alles … außer Sklaven." Die Expeditionen dauern Wochen, Monate, manchmal Jahre.

In der Abwesenheit des Seyyid entspannt sich die Geschäftigkeit von Khalil. Die beiden besuchen freitags die Stadt, flanieren an der Küste. Yusuf interessiert der ummauerte Garten des Anwesens, ein Paradies, ängstlich bewacht von einem greisen Gärtner. Und dann ist da die sogenannte Mistress, die Frau von Aziz (bzw. eine seiner Frauen), die sich nie zeigt, weil sie gezeichnet ist, ein Mal auf der Backe, eine hässliche Entstellung.

Yusuf lebt sich ein, das Verhältnis zu Khalil, zu Beginn Herr und Knecht, bessert sich. Als Aziz von einer Handelstour zurückkommt und kurz darauf wieder neu, in andere Gefilde aufbricht, nimmt er Yusuf mit. "Du kommst mit uns, um Handel zu treiben und den Unterschied zwischen dem Leben in der Zivilisation und bei den Wilden kennenzulernen. Es ist Zeit, dass du erwachsen wirst und siehst, wie es in der Welt zugeht … statt in dreckigen Läden herumzuspielen."

Was nun folgt ist eine Art Binnenerzählung, eine Abenteuergeschichte. Der stets mit vielen Trägern organisierte Tross macht sich auf den Weg zu einem imaginären Ziel hinter dem Victoriasee. Dabei kreuzt er immer neue Stammesgebiete, die von Sultanen beherrscht werden. Man muss "Geschenke" zum Weiterziehen bereithalten, wobei der Beschenkte die Menge bestimmt. Immer wieder sind sie Bedrohungen ausgesetzt; am schlimmsten schließlich, als ein Herrscher beschließt, die gesamte Handelsware zu beschlagnahmen – als Kompensation für ein Unrecht, dass ihm früher on einem anderen Händler zugefügt wurde. Yusuf ist mittendrin, bewundert das Verhandlungsgeschick und den Mut von Aziz, der sich wehrt, obwohl seine Männer bereits dezimiert wurden. Es ist paradox, dass ausgerechnet ein zufällig eintreffender deutscher Kolonialtross die Lage entschärft und wendet. Aziz kann weiterziehen, aber die Handelsmöglichkeiten sind eingeschränkt; es gibt kaum noch Ware, weil alles vorher verschenkt wurde und die Tauschmöglichkeiten sind begrenzt. Schließlich macht man sich auf den Heimweg, was unter vielen Entbehrungen und Krankheiten gelingt.

Wie immer feiert man die Ankunft von Aziz. Aber er hat Mühe, die Helfer auszuzahlen. Seine Gläubiger, die die Expedition finanziert hatten, kann er nicht befriedigen. Also muss er an geheime Reserven von Rhizoneroshornpulver gehen, die bei einem anderen Kaufmann lagern, bei dem Yusuf ein paar Jahre zwangsverbracht wurde. Aziz verschwindet wieder.

Yusuf entdeckt den Garten, der für ihn ein Fluchtraum ist, ein Garten Eden. Er genießt die "dämmrige Stille, untermalt vom leisen Plätschern des Wassers", den "Wohlgeruch", und den "Duft von Sandelholt und Bernstein" auf der Terrasse. Yusuf und Khalil erzählen sich die Geschichten, man erkennt das "Geschäftsmodell" des scheinbar ehrbaren Aziz, der sich die Schulden seiner Gläubiger mit deren Söhne bezahlen lässt; ein Sklavenhandel der besonderen Art. Versterben die Eltern bevor die Schulden abgearbeitet wurden, bleiben sie ewig in seinen Diensten.

Während Aziz' Abwesenheit kommt es zur Annäherung zwischen Yusuf und der Mistress. Khalil versucht dies zu verhindern, aber die Frau ist besessen von Yusuf. Sie glaubt, er besitze die Zauberkräfte, ihre Krankheit zu heilen. Zunächst soll er Gebete sprechen, dann verlangt sie eine Berührung. Khalil ahnt die Gefahr. Yusuf ist arglos, macht mit, aber auch, weil er Amina kennenlernt, die sogenannte Schwester von Khalil (auch sie eine Frau von Aziz). Er will weg mit ihr, er will diesen Sklaverei-Teufelskreis durchbrechen.

Aber auch hier ist er rational und grübelt: "Wo auch immer wir hingehen, es gäbe dort keinen ummauerten Garten mit hochgewachsenen Zypressen und raschelnden Büschen und Obstbäumen und plötzlich aufleuchtenden Blumen. Auch nicht den bitteren Geruch von Orangenharz am Tag oder den betörenden Duft von Jasmin in der Nacht, nicht den Duft der Granatapfelkerne oder den süßen Geruch der Kräuter in den Beeten. Auch nicht das Wasser im Teich und den Wasserrinnen. Nicht die satte Zufriedenheit des Dattelhains in der grausamen Mittagshitze. Es gäbe keine Musik, die unsere Sinne entzückt. Es wäre wie eine Verbannung, aber wie könnte sie schlimmer sein als das hier?" Aber alles kommt anders. Am Ende besetzen die Deutschen den Ort und Yusuf sucht Deckung. Es muss wohl das Jahr 1914 sein; Deutschland und Großbritannien sind im Krieg – nun auch in Ostafrika.

Im englischen Original ist nur von einem "Paradise" die Rede – im Deutschen ist es "verloren". Es spricht für den Roman, dass die Interpretation für dieses Paradies offen bleibt. Ist es tatsächlich der im märchenhaften Duktus erzählte Garten? Oder ist es dieses Handelsgewimmel im Krämerladen mit den freitäglichen Ausflügen zur Küste? Eine Zeit, die für immer verloren scheint. "Das verlorene Paradies" ist ein vielschichtiger Roman mit mehreren doppelten Böden. Mal erinnert es an eine Abenteuergeschichte zwischen Karl May, Joseph Conrad und Rudyard Kipling. Dann wieder an ein Märchen oder an ein Sozialdrama. Es ist eine Kunst, wie Gurnah die Balance der verschiedenen Genres und Tonlagen zu einer fesselnden und faszinierenden Einheit schnürt.

Im März 2021 erschien ebenfalls im Penguin Verlag in einer Neuauflage "Ferne Gestade" (im Original von 2001 "By the See"; deutsche Übersetzung von Thomas Brückner). Dieser Roman stand einst auf der Longlist zum Bookerpreis; auch hier gab es den Preis nicht. "Ferne Gestade" gliedert sich in nur drei Kapitel. Zunächst erzählt ein Flüchtling mit dem (falschen) Namen Rajab Shaaban von seiner Ankunft in Großbritannien, irgendwann Anfang oder Mitte der 1990er Jahre. Shaaban ist Mitte 60, ein ungewöhnliches Alter für eine Flucht. Bei der Ankunft behält der Beamte ein kleines Kästchen mit einem Duftstoff (Ud-al-qamari), der bei Shaaban einen an Proust erinnernden Effekt auslösen kann: "Unerwartet und in den sonderbarsten Augenblicken steigt mir sein Duft als Erinnerung in die Nase wie der Nachhall einer Stimme oder die Erinnerungen an den Arm meiner Liebsten, wie er sich mir um den Nacken legt." Das Kästchen mit dem kostbaren, Jahrzehnte alten Stoff, wird er nie mehr zurück erhalten. Aber seine Erzählungen von Gerüchen – in Räumen, Geschäften, Gefängnissen, Marktplätzen und – bei diesem Autor immer wieder – Gärten, sind kleine, große Pretiosen.

Erste Erinnerungen brechen sich Bahn, an die Collegezeit in Kampala etwa. Später dann, an den Kaufmann, von dem er einst das Ud-al-qamari erhielt und dessen Schicksal mit dem seinen verknüpft sein wird. An die Geschäftswelt, die er als "grausam, gnadenlos und raubtierhaft" charakterisiert. Shaaban war Möbelhändler, ist gebildet, kennt und schätzt Melvilles "Bartleby" (das bekommt im Roman unterschwellig eine Bedeutung). Aber er verbirgt dies; der Schleuser hatte ihm gesagt, dass er sich verstellen und nicht englisch sprechen sollte. Er handelt wie ihm geraten wurde und beschränkt sich auf das Wort "Asyl". Die Odyssee, die er im Asylverfahren in Großbritannien durchläuft, wird nicht ohne Humor erzählt. Betreut wird er schließlich von Rachel, einer jungen, engagierten Frau, die ihm als Rechtsbeistand zur Verfügung steht. Von einem "Internierungslager" kommt er in eine englische Kleinstadt an der Küste, zu einer Familie, die Flüchtlingen in ihrem heruntergekommenen Haus Quartier gibt und dies zum Geschäftsmodell gemacht hat. Shaaban zieht sich, soweit es geht, zurück, pflegt seine Marotten und erträgt alles stoisch.

Eines Tages erzählt Rachel ihm, dass man einen "Experten für Ihre Gegend" in London gefunden hatte und dass dieser demnächst als Übersetzer helfen soll. Shaaban stört sich an den despektierlichen Unterton, mit dem seine Heimat als "Gegend" bezeichnet wird und überrascht Rachel in perfektem Englisch, dass dies nicht notwendig sei. Der "Experte", so erklärt ihm Rachel nach der ersten Enttäuschung und Wut, sei ein gewisser Latif Mahmud gewesen. Shaaban kennt ihn.

Im zweiten Kapitel erzählt dieser Latif Mahmud. Er ist Professor für englische Literatur in London und vor vielen Jahren aus Tansania nach Großbritannien gekommen. Er hat Eigenschaften von Gurnah (sogar das Geburtsjahr kann man mit 1948 ausrechnen). Das Kapitel beginnt mit einer rassistischen Beschimpfung Latifs auf der Straße. Das verwendete Wort ist ihm unbekannt und er schlägt es nach. Es "tauchte gedruckt erstmals im Jahre 1501 auf und ist seitdem solchen Würdenträgern der englischen Literatur wie dem menschenfreundlichen Sidney, dem unvergleichlichen William Shakespeare, dem besonnenen Pepys und einer ganzen Reihe kleinerer Lichter aus der Feder geflossen." Die Aussage, dass dies seine Stimmung gehoben habe, entspricht der in diesem Roman stellenweise blitzenden Ironie. So beispielsweise als Latif, der Literaturdozent, bekennt, dass er Gedichte hasst, und dies obwohl er sogar welche schreibt.

Latif ist neugierig geworden. Da er von Rachel hört, dass der Flüchtling, den er übersetzen sollte, angab, ihn zu kennen, nimmt er Kontakt mit der Ausländerbehörde auf. Er erfährt den Namen, den er bei der Einwanderung angegeben hatte – es ist der Name von Latifs Vater.

Jetzt beginnt das Erinnerungskarussell bei Latif, der in Wirklichkeit Ismail Rajab Shaaban Mahmud heißt, zu kreisen. Er weiß den richtigen Namen des Gestrandeten: Der sich "Shaaban" nannte heißt in Wirklichkeit Saleh Omar. Und plötzlich verdichten sich die Geschichten, die bereits in Salehs Erzählung aus dem ersten Kapitel angeklungen waren. Es geht vordergründig um ein Ebenholztischchen, später dann um den Besitz eines Hauses, eine Erbschaftsangelegenheit, um Ansprüche, Betrug und Ränke. Während der Vater immer weiter verfällt und im Haus ein gewisser "Onkel Hussein" versorgt wird (das ist der, der einst Saleh das Duftharz verkauft hatte), sorgt seine Mutter als Geliebte eines Ministers dafür, dass Latif Zahnmedizin studieren kann – im Rahmen eines sozialistischen Projekts in der DDR. Der Leser erhält einen ausführlichen Einblick in die Szene der ausländischen Studenten in der DDR von Mitte der 1960er Jahre. Latif lernt seine "Brieffreundin" kennen, die nur wenig entfernt von seinem Studentenwohnheim lebt – und erlebt eine große Überraschung: Die Freundin ist ein Mann; es ist Jan, der auf Anregung seiner Mutter dem Jungen geschrieben hatte. Die Mutter, die auf einer Farm in den Ngong Bergen in Kenia während der britischen Kolonialzeit aufwuchs und dort mit ihren Eltern von 1919 bis 1938 lebte, erzählt Latif ihr abenteuerliches Leben. Latif liebt ihre Geschichten aus einer vergangenen Zeit, die einher gehen mit der ehrlichen Zerknirschung über das Unrecht der Kolonialisten. Man verbringt die studienfreie Zeit miteinander und reist. Zunächst in die osteuropäischen Staaten, dann nach Österreich. Jan und seine Mutter bleiben in Graz, Latif macht seinen Weg nach Großbritannien.

Zurück in die Gegenwart erinnert sich Latif an die Begegnung mit Saleh vor vielen Jahren, "dem Mann, der nach jahrelangen Konflikten und Demütigungen meinen Vater seines Hauses und dessen ganzer Einrichtung beraubt hatte und über den ich endlose Geschichten von kaltschnäuzigen Betrügereien, Verderbtheit und schamloser Gier gehört hatte." Er erbat sich ein Ebenholztischchen, im Namen seiner Mutter. Saleh lehnte ab. Und dieser Mann war nun in einem Haus untergebracht und hat Asyl beantragt?

Im dritten Kapitel, dass fast die Hälfte des ganzen Romans ausmacht, treffen die beiden nun in mehreren Sitzungen aufeinander. Latif besucht Saleh. Sie erzählen sich gegenseitig ihre Geschichten bzw. die Versionen ihrer Geschichten. Vieles greift ineinander – anderes bleibt umstritten. Denn beide sind nicht immer zuverlässige Erzähler. So ist nicht zweifelsfrei festzustellen, wann Saleh geboren ist (mal ist es 1929, dann 1931). Gänzlich verworren ist die Situation um den wechselnden Besitz des Hauses, die Vereinbarungen und juristischen Spitzfindigkeiten. Der Leser muss höllisch aufpassen, um die Feinheiten des Erbrechts und der jeweiligen Situation über den Hausbesitz über die Jahrzehnte hinweg zu verstehen (vielleicht macht man sich eine Übersicht – ähnlich dem Personenregister bei russischen Romanen). Die beiden raufen sich trotz bisweilen giftiger Auseinandersetzung immer wieder zusammen. Teilweise gibt es allerdings lange, ausholende Binnenerzählungen.

Die großartigste ist die von Salehs Erzählung vom Gefängnisaufenthalt zwischen 1968 und 1979 – erst auf einer Insel, dann in mehreren Lagern. Verhaftet wurde er auf einer Sitzung der Partei. Auch hier spielen das Haus und die Besitzdokumente eine gewisse Rolle; es ist ziemlich klar, wer hier die Fäden gesponnen hatte. Sein "Verbrechen bestand offenbar darin, im Besitz von Staatspapieren gewesen zu sein, die zum Glück von nur geringem wirtschaftlichen Interesse waren." Absicht wäre gewesen, "mit diesen Papieren […] Betrügereien zu begehen". Eine kafkaeske Situation, denn der Angeklagte erfährt weder den Urteilsspruch noch hat er die Möglichkeit, Kontakt zu seiner Frau und der kleinen Tochter aufzunehmen. Als er entlassen wird, muss er erfahren, dass beide tot sind. Salehs Leben ist zerstört.

Der Leser lernt einiges über den im Westen (und auch in der katholischen Kirche) immer noch verehrten ersten Präsidenten Julius Nyerere. Zwar wird der Name Nyerere nie erwähnt, aber Gurnahs Erzähler hegt keinen Zweifel daran, dass dessen Regime keinen würdigen Übergang von der britischen Kolonialdiktatur darstellte. So berichtet Saleh: "In der dritten Woche, die ich dort zubrachte, kam der Präsident der Republik vorbei. Er tat das manchmal aus reiner Freude, all seine Feinde sicher verwahrt zu sehen, allesamt erbärmlich und in Angst und Schrecken, und um zu erleben, wie sie um Gnade und Entlassung bettelten."

Seltsam und fast bewundernswert dieser Gleichmut der Erzähler – und dies im Angesicht des Erlebten. Beide haben Wunden und ihr gegenseitiges Erzählen zeigt dem Gegenüber dies an. Aber eine Versöhnung unterbleibt. Eher eine Art Katharsis, ein gegenseitiger Respekt und Selbstreflexion, das Erkennen, nicht immer alles richtig gemacht und eingeschätzt zu haben und dann doch eher nur Spielball anderer gewesen zu sein. Einmal heißt es von Saleh vor sich selber bekennend: "Ich bedurfte der Erlösung von der Last der Ereignisse und der Geschichten, die ich niemals erzählen konnte und die allein schon dadurch, dass ich mich ihrer entledigte, das Bedürfnis nach Verständnis befriedigen würden." Und gegen Ende, als Latif seinem Gegenüber vorwirft, etwas Neues nur aufgrund der Dramaturgie verspätet erzählt zu haben, sagt dieser: "Ich wollte, dass Sie den Augenblick […] miterleben können. Ich wollte, dass Sie erkennen, was dieser Augenblick bedeutete".

Abdulrazak Gurnah schafft es, dass auch der Leser die wichtigen "Augenblicke" im Leben seiner Figuren erkennt und nachvollziehen kann. Die Begründung der Nobeljury lautete, dass man Gurnah "für seine kompromisslose und mitfühlende Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Kolonialismus und dem Schicksal des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten" ausgezeichnet habe. Daran ist vieles richtig. Aber es ist mehr. Gurnahs Kompromisslosigkeit zeigt sich darin, den Leser nicht mit vorgefertigten Haltungen zu langweilen und politische Plattitüden in Prosa zu verpacken. In "Ferne Gestade" dekonstruiert er sukzessive die Gewissheiten seiner Figuren. Am Ende wird sogar der Islam literarisch befragt. Latif fragt Saleh: "Ist Ihnen schon aufgefallen, wie eng die Geschichte des Islam mit Familiengezänk verwoben ist? Lassen Sie es mich anders ausdrücken, für den Fall, dass Sie das verletzt. Ich weiß, was für ein verletzlicher Haufen wir Muslime sind. Sind Ihnen die unglaublichen Auswirkungen von Familienstreitereien in der Geschichte islamischer Gesellschaften aufgefallen?"

Gurnah verpflichtet sich, zu erzählen und zugleich sinnliche Literatur zu schreiben. Genau dieses Vorgehen hinterlässt beim Leser einen größeren Nachhall, als es predigerhafte Moralerzählungen könnten.

Leider findet dieser Autor immer noch nicht die Widmung und Sorgfalt, die geboten wäre. Die Übersetzungen beider Bücher wurden zwar, wie es heißt, "gründlich durchgesehen" und jeweils um ein Glossar von Thomas Brückner erweitert. In den E-Books sind allerdings die Begriffe nicht mit den Erläuterungen in den Glossaren verknüpft. Weiterhin sind beide Bücher mit einer überflüssigen "editorische Notiz" versehen, die in vorauseilendem Gehorsam vor irgendwelchen Falschverstehern und Dilettanten erklärt, was eine Erzählstimme ist und warum in der Literatur auch nicht mehr genehme Wortschöpfungen sinnvoll sein können. Sie hinterlassen den Eindruck, den Autor nachträglich maßregeln zu müssen. Lektorialer Kolonialismus könnte man dazu sagen. Schade. Im übrigen wäre es dringend geboten, auch die anderen Romane Gurnahs zu übersetzen bzw. wieder herauszubringen. Immerhin wird am 14.9. "Nachleben" erscheinen – ebenfalls bei Penguin.


Artikel online seit 20.04.22
 

Abdulrazak Gurnah
Das verlorene Paradies
Aus dem Englischen von Inge Leipold
Penguin
336 Seiten
25,00
978-3-328-60258-3

Abdulrazak Gurnah
Ferne Gestade

Roman
Aus dem Englischen von Thomas Brückner
Penguin
416 Seiten
26,00 €
978-3-328-60260-6

 

 


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