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Das Wunderbare in der Welt des Kleinen

Der Roman »Bernard der Faulpelz« als gelungener
Einstieg in die literarische Welten des
André Dhôtel

Von Lothar Struck
 

"Bernard arbeitete in einem Büro im ersten Stock der Firma Barraudat. Bernard Casmin war der Sohn eines Volksschullehrers, der im Départment Somme gearbeitet hatte und dort nun im Ruhestand lebte. Er hatte sieben Brüder, die allesamt recht gut dastanden."

So beginnt André Dhôtels 1952 erstmalig in Frankreich erschienener Roman "Bernard der Faulpelz". Bernard galt als höflich, hatte aber nur wenige Freunde. Zwei davon, die Geschwister Lance, waren gerade nach Madagaskar ausgewandert. In Mariette hatte er sich ein bisschen verliebt, was später im Roman noch eine Rolle spielt. Man könnte Bernard auf Anfang/Mitte 20 schätzen. Die Zeit, in der der Roman spielt (es geht über mehrere Jahre), bleibt zwar unklar, aber es dürfte sich um die 1920er Jahre handeln. Als Ort wird die fiktive Kleinstadt Bautheuil und, später, in dessen Umgebung genannt. Ob André Dhôtel (1900-1991) die Landschaft der Ardennen paraphrasiert, in der er aufwuchs und immer wieder zurückkehrte, ist nicht klar.

Zu seinen Eltern und Brüdern hatte Bernard nur sporadisch brieflichen Kontakt; Besuche werden nicht erwähnt. Zu Beginn der Erzählung lebte er bei den Garois', seinen Cousins, die ein bürgerliches, dörfliches Leben führten und denen Bernard die Anstellung beim angesehenen Tuchhändler Barraudat verdankte. Cousine Noémi schmiedete im Stil aristokratischer Heiratspolitik des 19. Jahrhunderts Pläne für Bernard. So sollte er sich mit Estelle Jarraudet, einer 18jährigen Tochter aus wohlhabender Familie, verheiraten. Sie verbreitete bereits dementsprechende Nachrichten als Gewissheiten.  

Bernard war daran nur mäßig interessiert. Seine Arbeit im Vorzimmer des Inhabers strengte ihn nicht an und entfachte keinen besonderen Ehrgeiz. Er hatte sogar Zeit, sich mit Gaston, einem jugendlichen Herumtreiber, anzufreunden. Schon früh wird Bernard daher als Faulpelz bezeichnet, wobei, wie es einmal listig heißt, "am Grund der Faulheit eine Art Weltsicht zu finden" sei. Sein Tagesablauf war streng getaktet. Nach der Arbeit besuchte er seinen Freund Blaiseau im Café Terminus, bevor er dann mit dem Motorrad pünktlich zum Abendessen nach Hause kam. "Alles in allem ein Tag voller verstreuter Worte und Vorhaben, die wie Funken über der Feuerstätte der Gewohnheit aufblitzten" – so lautet einmal die Tagesbilanz des auktorialen, aber nicht immer allwissenden Erzählers.  

Aber Bernard "ahnte nicht, dass sich gewisse Ereignisse anbahnten". Noémi schien ihre Heirats-Erzählungen und -Bemühungen überzogen zu haben. Eines Tages besuchte die junge Estelle Barraudats Büro und beschwerte sich über Bernard. Dabei waren die beiden sich vorher nur einmal eher zufällig am Schaufenster eines Ladens begegnet. Das Zusammentreffen im Vorzimmer wird erzählt als "eine Art umgekehrte Liebe auf den ersten Blick", der Ursprung eines dauerhaften gegenseitiges Hasses, der beiden offensichtlich sogar stellenweise Vergnügen zu bereiten schien. Blicke genügten; Worte fielen kaum. So wird es fast bis zum Schluss auch bleiben. Dieses seltsame Verhältnis verhärtete sich, färbte auf die Familie Jarraudet und sogar auf Bernards Cousins (die eigentlichen Urheber der Missverständnisse) ab und trug zu den Herabsetzungen bei, denen Bernard ausgesetzt war.

Es begann ein sozialer und ökonomischer Abstieg. Er verlor seine Tätigkeit bei Barraudat und auch die Anstellung bei einem Antiquar wird nach einigen Monaten gekündigt. Er musste sein gerade erst erworbenes Auto verkaufen. Sogar die Cousins verstießen ihn – er durfte nicht mehr bei ihnen wohnen. Stellenweise war Bernard fast mittellos, was die Wohnungssuche erschwerte. Sein Ruf war, warum auch immer, ruiniert. Selbst Blaiseau rückte ein wenig von ihm ab. Man legte ihm schließlich nahe, die Stadt zu verlassen, was er jedoch trotzig ablehnte. Die Gründe für diese Ächtung bleiben diffus. Weitere, zufällige Begegnungen mit Estelle verbesserten Bernards Lage nicht; der Hass glühte weiterhin zwischen den beiden. Parallel spitzt sich die Geschichte eines vorehelichen Sohnes Jarraudets zu, mit der der vermögende Mann erpresst wurde. Womöglich, so denkt sich der Leser, wird Bernard hiermit in Verbindung gebracht. Der Erzähler klärt auch dies nicht auf.

In der größten Not bekam er etwas außerhalb von Bautheuil überraschend eine neue Arbeit und eine Wohnung. Er war jetzt Regionalvertreter für Küchenmaschinen. Ohne Auto klapperte er potentielle Kunden mit Bus und zu Fuß ab. Dabei entwickelte er einigen Erfolg; das Faulpelz-Image kann nicht mehr aufrecht erhalten werden (denkt sich der Leser). Ein Jahr vergeht und er wurde sogar befördert; sein Gebiet erweitert. In seinem neuen Liefersektor fiel auch wieder Bautheuil.

Sofort nahmen die Verwicklungen um Bernard wieder zu. Er geriet sogar zwischenzeitlich in Lebensgefahr und musste sich bei neu gefundenen Freunden fast verstecken. Bernard sah für seine  Rehabilitierung seine einzige Chance darin, den unehelichen Sohn Jarraudets zu finden; hier lag ein gemeinsames Interesse mit Estelle, die ebenfalls ihren Bruder suchte.

Und plötzlich entwickelt der "Faulpelz", der stellenweise in seiner schicksalhaften Ausweglosigkeit an eine Emmanuel-Bove-Figur erinnert, aus seinem "Verhängnisballett" (Peter Handke über Boves Helden) auszuscheren. Die lebenslustigen Freunde, die er mit Hilfe Gastons gefunden hatte, erweisen sich als zuverlässig. Mit der organisierten, fast detektivischen Suche nach Adrien, dem "Bankert", bekommt dann auch der Roman eine unverhoffte Spannung. Das Ende freilich (keine Sorge, das wird nicht verraten) ist furios und rätselhaft.

Im neuesten Notizband von Peter Handke kann man einige Eintragungen zu Dhôtel-Büchern (inklusive übersetzter Zitate) lesen. So lag es nahe, dass er zu diesem Buch ein Vorwort verfasst (welches natürlich genau das nicht sein soll). Handke lobt diese Form der "epische[n] Expeditionen" und stellt André Dhôtel in eine Reihe mit Sartre, Camus und Mauriac – und wenn man genau liest, dann sogar noch höher. In diesen leicht rätselhaften Büchern findet Handke eine "Frische", obwohl er – vielleicht zu Recht – den Leser vor den Verästelungen, die sich bisweilen finden, zu warnen bemüßigt sieht.

Auf der französischen Wikipedia-Seite kann man das enorm umfangreiche Œuvre des Autors nachlesen; unter anderem 60 Roman- und Erzählungsbände, dazu Gedichte und Essays. Mit "Bernard der Faulpelz" wurde jetzt hoffentlich begonnen André Dhôtel für den deutschsprachigen Leser sukzessive erfahrbar zu machen. Es wäre ein Grund zur Freude. Und noch freudiger wäre es, wenn Anne Weber weiter die Übersetzungen übernehmen könnte.

Artikel online seit 20.06.22
 

André Dhôtel
Bernard der Faulpelz
Übersetzt von Anne Weber
Matthes&Seitz, Berlin
282 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
24,00 €
978-3-7518-0073-0

 

 

 


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