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Hin zu einer neuen Sprache

Zur Neuausgabe der »Werke« des russischen Revolutionärs

und Erneueres der Sprache Velimir Chlebnikov


Von Herbert Debes

 

»Chlebnikovs Ruhm als Dichter ist unermeßlich viel geringer als seine Bedeutung. Von den hundert, die ihn gelesen haben, nannten ihn fünfzig einfach einen Graphomanen, vierzig haben ihn als Unterhaltung gelesen, und sich gewundert, weshalb sie von alldem keine Unterhaltung hatten, und nur zehn (die Futuristen-Dichter, die Philologen des »Opojaz«) kannten und liebten diesen Kolumbus neuer poetischer Kontinente, die jetzt von uns besiedelt und urbar gemacht werden.«
(Vladimir Majakovskij, 1922)

Velimir Chlebnikov war ein Rastloser im vorrevolutionären Rußland, immer »on the road«, ohne
festen Wohnsitz. Gelegentlich ging er seinen Freunden regelrecht verloren, tauchte plötzlich wieder auf.
Materieller Besitz war ihm gleichgültig. Seine poetischen Ideen gab er großzügig an Freunde weiter.

»Zum Korrekturlesen, war er unmöglich zuzulassen - er strich immer alles durch, alles, und schrieb dann einen neuen Text. Wenn Chlebnikov eine Sache für den Druck anbrachte, sagte er meistens: 'Wenn was nicht so ist - ändert es.' Wenn er las, brach er manchmal mitten im Wort ab und gab den Hinweis: 'Na, und so weiter.'
In diesem 'usw.' steckt der ganze Chlebnikov: er stellte die poetische Aufgabe, gab ihrer Lösung eine Form - die Nutzung dieser Lösung zu praktischen Zwecken überließ er den anderen.»
(Vladimir Majakovskij, 1922)

In seinem Manifest »Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack« forderte Velimir Chlebnikov 1912, »die alten Großen« – Puschkin, Dostojewski, Tolstoi usw. »vom Dampfer der Gegenwart zu stoßen«. Der Generationengenosse von Franz Kafka und James Joyce, von Kurt Schwitters und Raoul Hausmann, träumte von einer radikalen poetischen Erneuerung der Sprache. Chlebnikov wollte die Sprache vom »Ballast der Bedeutung« befreien, das »Wort als solches«, seinen Klang, seine Wirkung analysieren und die Wörter auf ihre Wurzeln zurückführen. Er gilt heute als Begründer des russischen Futurismus, Wegbereiter der konkreten Poesie und des Surrealismus. In seinen Gedichten kombiniert er die sich an mathematischen und kosmischen Gesetzen ausrichtende »Sternensprache« mit der Alltagssprache, den »Zaum« (eine Sprache der Laute und der Zufallsschöpfungen) mit der »Zahlenrede«. Ja, er verfaßte sogar ein »Alphabets der Sterne«, mit dem Ziel, eine allgemein verständliche Weltsprache zu kreieren.
Mit Aleksei Krutschonych (Text) und Michail Matjuschin (Musik), mit Kostümen und Bühnenbild von Kasimir Malewitsch, gehörte er zu den Autoren der »ersten futuristischen Oper« Sieg über die Sonne (Pobeda nad solnzem); einem Schlüsselwerk der russischen und europäischen Avantgarde, uraufgeführt in Petersburg im Dezember 1913.

Nun ist z
u seinem 100. Todestag und zum 50. Geburtstag der legendären 2-bändigen Gesamtausgabe, die Peter Urban 1972 im Rowohlt Verlag als übersetzerisches Kollektivunternehmen realisiert hat. Mitwirkende waren damals u. a. H.C. Artmann, Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Franz Mon, Oskar Pastior und Gerhard Rühm. Ein anarchisches Experiment, in dessen Bahnen sich die translinguale Poesie bis heute bewegt.
Lesenswert sind insbesondere auch die jeweiligen instruktiven Nachworte von Peter Urban und Marie Louise Knott, die uns Nachgeborenen die spannende und problemreiche Editionsgeschichte der deutschen Übersetzung als wahre Herkulesaufgabe nahebringen.

Sonderlich bibliophil und lesefreundlich kommt diese Jubiläumsausgabe leider nicht daher. Bei dem beträchtlichen Umfang, einem Ladenpreis von immerhin 68,- € und dem zu erwartenden anspruchsvollen Sammler- und Leserkreis, wäre eine lesefreundlichere, 2-bändige Ausgabe mit wenigstens je einem Lesebändchen sicher angemessen gewesen.
(In dem herstellerischen Kontext wäre es interessant zu erfahren, ob das Textkonvolut neu gesetzt wurde oder von der Ursprungsausgabe stammt.)
p.s. auf unsere Nachfrage hin teilte uns Suhrkamp mit, daß es sich bei der Neuauflage um den Originalsatz der 2-bändigen Rowohlt-Ausgabe handelt.


Artikel online seit 14.09.22
 

Velimir Chlebnikov
Werke
Herausgegeben von Peter Urban
Mit einem Nachwort von Marie Luise Knott und zahlreichen Abbildungen
Suhrkamp
1168 Seiten
68,00 €
978-3-518-43049-1

 


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