Der Autor, 1976
in Frankfurt am Main geboren, promovierter Germanist, lebt als Schriftsteller
und Literaturvermittler in Bamberg. Er hat Romane, Erzählungen und Kinderbücher
veröffentlicht. Sein neuer, dritter Roman umspannt einen weiten historischen
Bogen, der auch die »Affen für den Vietcong« einschließt, die einst, weithin
sichtbar, die Fassade der Frankfurter Mensa an der Bockenheimer Warte in erst
langsam verblassender roter Leuchtschrift zierten.
Das »W«, das vor den Affen stand, hatten die Spontis vorher kassiert.
Kurz vor dem
Ende fängt es an. Die Erzählung beginnt sehr spät. Sie endet sehr früh, in der
Kindheit. Dazwischen geht es hin und her. Mit einer bildreichen Sprache, über
Orte und Personen, über Kontinente und Schicksale hinweg. Familiengeschichten.
Kapitel 1. 2018. Stau in New York. Nichts geht mehr. Eigentlich nichts
Besonderes, aber diesmal kommt zu dem täglichen Verkehrschaos noch eine
Sitzblockade von Aktivisten dazu, die sich gegen die Superreichen wendet. Der
achtundzwanzigjährige Alexander ist auf dem Weg zu seinem Vater, Inhaber einer
gut gehenden Firma, Le May Kitchens. Der Vater möchte, dass Alexander endlich
als Juniorpartner in die Firma einsteigt, doch der hat andere Interessen und
Pläne.
Kapitel 2. 2009.
Alexander, neunzehn Jahre alt, reist nach Deutschland, um in Heusenstamm, bei
Frankfurt, die siebzigjährige Helene Klasing zu treffen, seine Tante, wie sich
erst im Fortgang der Geschichte herausgestellt hatte.
Kapitel 3. 1962 bis 1965.
Wir lernen die dreiundzwanzigjährige Kunststudentin Helene näher kennen. Eine
überraschende Entdeckung verändert ihr Leben schlagartig. Usw. Usw.
Beyer erzählt eine wahrlich nicht gewöhnliche Familiengeschichte in elf
Kapiteln. Er erzählt sie aber nicht chronologisch. Ständig springt er zwischen
Gegenwart und den verschiedenen Stufen Vergangenheit hin und her. Erst
allmählich ergeben die Puzzleteile einen Sinn. Erst vom Ende her versteht man
die ganze verworren verwirrende Geschichte dieser Familie. Dabei sind Dreh-und
Angelpunkt Helene Klasing und ihr Neffe Alexander Le May. Die
dreiundzwanzigjährige Helene studiert an der Werkkunstschule in Offenbach und
lernt den vierundzwanzigjährigen Studenten Harald Kaufmann, der Lehrer werden
will, kennen. Die beiden wollen heiraten. Bei dieser Gelegenheit erfährt Helene,
dass das Ehepaar Klasing sie gleich nach der Geburt adoptiert hat. Ihre
leibliche Mutter ist eine gewisse Margarethe von Weißhaupt.
Durch diese Erkenntnis gerät Helenes gesamtes bisheriges Leben ins Wanken. Jetzt
erklärt sich für sie auch das strenge, oft lieblose Verhalten ihrer Mutter und
der wahre Sinn mancher Äußerungen, die sie Helene im Streit an den Kopf warf:
»Du bist nicht mein Kind.« Ich habe einen Fehler gemacht, »der nicht mehr
rückgängig zu machen ist.«
Gleichzeitig entfernen sich auch Harald und Helene immer mehr voneinander. Ihr
Lebensinhalt ist die Kunst. Er engagiert sich immer mehr in der politischen
Arbeit, organisiert Protestaktionen, negiert etablierte Trennungen: »Das Private
und das Politische« lösen sich auf. Beyer nimmt uns mit in die Welt der 68er.
Wir erfahren etwas über »entfremdete Arbeit«, über Ausbeutung und
Selbstverwirklichung und wie man »das Bürgerliche« in sich abstreifen muss.
Helenes Dreifachbegabung ermöglicht ihr zusammen mit ihrer engen Freundin Heidi
eine Boutique aufzumachen. Sie schneidert, malt und gestaltet Bücher.
Mit vierzig Jahren schließlich nimmt Helene Kontakt zu ihrer 60 jährigen
leiblichen Mutter Margarethe auf, die nach der Geburt in die USA ausgewandert
war. Margarethe heiratet dort, bekommt eine Tochter, Theresa, ihr Sohn ist
Alexander. Alexander ist klar, wenn er ins Geschäft des Vaters einsteigen würde,
wäre das »etwas Falsches, aber was ist das Richtige?«
Als Helene 2018, fast achtzigjährig stirbt, erbt er das kleine Haus in
Heusenstamm, aber auch ein 2000 Seiten dickes Buch, das »Buch der Kreise«, das
Helene nicht mehr zu Ende führen konnte. Sie konnte die losen Enden nicht mehr
zusammen führen. Das erhofft sie sich jetzt von Alexander. Sie selbst hat ein
Leben »mit Brüchen, Rissen, Lücken« geführt. Am Ende ist es eben kein
wohlgeformter Kreis. Sie sieht Leben eher als Spirale, die Kreis und Linie
zusammenführt. Und Alexander weiß jetzt, was »Das Richtige« für ihn ist. Er wird
aus dem Laden, den seine Großmutter in New York begann, den seine Mutter eine
Zeit lang weiterführte, in eine Galerie umwandeln und dort unter anderem Helenes
Bilder verkaufen. Das heißt: Die losen Enden haben sich schließlich doch zu
einem Kreis gefügt.
Artikel online seit 13.05.22
Wir danken
Strandgut - Das Kulturmagazin für Frankfurt &
Rhein-Main
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Martin Beyer
Tante Helene und das Buch der Kreise
Roman
Ullstein Verlag, Berlin 2022
416 Seiten
23,00 €
9783550201356
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