Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik |
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Wer schreibt? |
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Weder die Antike noch das Mittelalter kannten das, was wir heute gemeinhin »Ich« nennen. Erst mit der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes erhält die immaterielle, denkende Ego-Substanz als alleiniger Träger von Bewusstseinszuständen, die sich im Zweifel ihrer selbst gewahr wird, Einzug in die philosophische Reflexion. Für Leibniz ist im Anschluss an Descartes die Selbstreflexion und somit die Möglichkeit theoretischer Einsicht das herausragende Merkmal des Ich-Begriffs. Von Kant über Husserl bis hin zu Wittgenstein, Derrida und Strawson taucht das Ich (verteidigt, kritisiert, halbiert, gevierteilt und am Ende wieder zusammengeflickt) sodann in seinen verschiedenen philosophischen Facetten auf, und mit ihm am Ende die Frage nach der Selbstreferenz des Sprechers und den damit verbundenen epistemischen Einstellungen. An diese philosophische Tradition knüpft Frank Witzel an, wenn er seinem Essay den provokanten Titel »Die Unmöglichkeit eines Ich« gibt, und im Untertitel von »Blessuren, Klammern und Beharrungen« spricht. Im Zentrum steht die Frage, ob es überhaupt so etwas wie ein real existierendes Ich gibt. Die Kernthese des Buches: »Die Annahme, es gäbe ein Ich … ist irrig. Das Ich ist nicht zuerst da und denkt und will, vielmehr konstituiert sich dieses Ich erst aus dem Denken und Willen.« Wer bzw. was also ist dieses Ich, und welche Erlebnis- und Erinnerungszustände gehen mit der Ich-Konstruktion einher? Was schon den großen Philosophen Kopfzerbrechen bereitete, treibt Witzel noch einmal auf die Spitze, wenn er dem realen Ich das literarische Ich beiseitestellt, ihre Beziehung reflektiert, und mit Houellebecq nach der »Präsenz« des Autors im Text fragt. Dies geschieht vorrangig deshalb, weil die Probleme der Literatur die Probleme der Existenz abbildeten und insofern von Bedeutung seien: Die Literatur stelle die Realität infrage.
Witzel umkreist diese
Annahme sowohl unter Rekurs auf verschiedene Textgattungen wie Biografie und
Autobiografie, als auch auf existenzielle Phänomene wie den Traum, die
Wiederholung und die Erinnerung, die er als einen Versuch versteht, in sich
selbst hinabzusteigen, um sich dem zu nähern, was verdrängt wurde, doch nur, um
es »dort unten zu betrachten, so wie man über einen Friedhof geht und die Gräber
betrachtet.« Es sind die großen literarischen Themen, wie sie auch bei Proust,
Kafka, Walter Benjamin u.a. auftauchen. Seine Reflexionen sind insofern nicht zuletzt auch ein Stück Trauerarbeit. Durch einige Passagen schimmert eine Melancholie, die mich beim Lesen merkwürdigerweise an die Netflix-Serie »Dark« erinnert hat, in der die Zeit ihr eigenes, perfides Spiel mit den Protagonisten treibt, die als Gefangene ihrer selbst scheinbar sinnlos durch Raum und Zeit irren.
Und dann gibt es da
diese schönen Bilder in Witzels Text, etwa, wenn er von der »Tavor-Ruhe« der
Seele spricht, wobei man wohl einmal in seinem Leben eine solche Tablette
geschluckt haben muss, um zu verstehen, was er meint.
Artikel online seit 01.07.21 |
Frank
Witzel
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