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Auftanken

Florian Werners Liebeserklärung an »Die Raststätte«

Von Wolfram Schütte

Ihre ultimative Reise unternahmen Julio Cortázar & seine Lebensgefährtin Carol Dunlop 1981 in ihrem Wohnmobil von Paris nach Marseille. Das pataphysische Mitglied von Oulipo hatte sich als Aufgabe gesetzt, während der mehrtägigen Reise in den Süden die Autobahn nicht zu verlassen & sich wenn nötig von Freunden auf den angesteuerten Rastplätzen mit Lebensmittel versorgen zu lassen.

Es ist wohl das erste & einzige Mal, dass die Autobahnraststätte literaturfähig geworden ist - bis zu Florian Werners »Liebeserklärung« an »Die Raststätte«. Ein Zitat aus Cortazars »Autonauten auf der Kosmobahn« dient Werner als Begleitschutz & Eingangssegen. Der Schriftsteller wird im launigen Klappentext als »Autor erzählender Sachbücher« bezeichnet & gehört zusammen mit seiner Frau Svenja Flaßpöhler (wie das Paar Rolf-Bernhard Essig & Gudrun  Schury oder das wandernde Herrendoppel Kromschröder/Henschel) zu der schmalen Riege deutscher Autoren, deren humoristische Neigung sie zu einer ebenso phantasievollen wie jokosen »Fröhlichen Wissenschafts«-Literatur befähigt. Bevorzugt wenden sie sich ebenso kundig & gebildet wie ernsthaft & ironisch dem »Abseitigen«, Unscheinbaren zu. Sie entdecken dabei Ungeahntes, nicht nur Kurioses. Eine menschenfreundliche literarische Kunst der Anteilnahme & Ehrenrettung des Unkrauts des Lebens.

Der gewissermaßen »perverse« Titel von Werners Buch – »Die Raststätte. Eine Liebeserklärung« – erweckt durch seine paradoxe, um nicht gleich zu sagen: surrealistische Begriffs-Kombination gespannte Neugier. Das Buch wird sie auf die vielfältigste journalistisch-literarische Art stillen & dabei auch noch mit einem Portfolio von atmosphärisch intensiven Farbbildern Christian Werners aufwarten. Sie führen Details & das Ambiente der Autobahnraststätte Garbsen Nord vor Augen.

Der in Berlin ansässige Autor hat eben diesen Ort unter den rund 430 bewirtschafteten deutschen  Autobahnraststätten ausgewählt, weil er (in der Nähe Hannovers) an der A2 etwa in der Mitte Deutschlands liegt. Auf dieser »Warschauer Allee« fließen die Warenströme der Vierzigtonner quer durch Europa. Nicht weit von Garbsen kreuzt sie die Nord-Süd-Verbindung der A5 bzw. A7.

Der »Hohen Kunst des Herumlungerns« (Gay Talese) verdanke sich Werners buntes Kaleidoskop des »literarischen Journalismus«, bemerkt er selbstbezüglich über die spezifische journalistische Vorgehensweise & die literarisierte Form seines Buchs. Dessen Grundlage legte er im heißen Sommer 2019 im Motel von Garbsen Nord, wo er sich für ein paar Tage einquartiert hatte. Sogleich entwirft er ein Porträt des derzeitigen Pächters, der in dritter Generation (seit den Fünfziger Jahren) hier lebt. Später fügt Werner noch den Lebensbericht von dessen »rechter Hand« hinzu – stilistisch attraktiv gemacht, indem die namenlose »rechte Hand« auf Thomas-Bernhardsche Weise von sich berichtet.

Florian Werners Ortsbesichtigungen & Personenbeschreibungen sind das eine; das andere seine gründlichen Recherchen nicht nur über Garbsen Nord, sondern auch über Herkunft, Geschichte & Gegenwart der deutschen Autobahnraststätte im Allgemeinen.

So erfährt man, dass »die Mutter aller unserer Raststätten« am Chiemsee zur Welt kam & Hitler, auf dem Weg von Berlin nach seinem Obersalzberghof, ihr Pate war. Garbsen Nord verdankt seine Existenz einem Zufall: als sich eine ausgebaggerte Kiesgrube neben der Autobahntrasse mit Grundwasser füllte & ein attraktiver See entstanden war, bauten die Niedersachsen auf der gegenüber liegenden Autobahnseite eine Raststätte mit Seeblick, weil sie den Einwohnern Garbsens »ein leicht erreichbares, lohnendes und interessantes Ausflugsziel mit Badegelegenheit im Freien biete«. Heute wirbt das Motel damit, dass es für 62€ das Zimmer auch zu Messezeiten (!) für jeden Hannover-Besucher attraktiver, will sagen billiger sei, als jedes der teuren Innenstadt-Hotels – wie ich der Homepage entnehme.

Zu den Grotesken der deutschen Geschichte unterm Blickwinkel Autobahn-Raststätten zählt, was nach Kriegsende in der BRD & der DDR mit ihnen geschah. In der Bundesrepublik gehörten sie dem Staat, der sie unterfinanzierte, während im »real existierenden Sozialismus« der DDR sie von der Mitropa privatwirtschaftlich betrieben wurden. Nach der Wiedervereinigung ist die Mitropa von dem westdeutschen Staatsbetriebsbetreiber geschluckt worden & 1998 das daraus entstandene Konglomerat zum Schnäppchenpreis von 600 Mio. € privatisiert.

Der CDU-Verkehrsminister (& Lobbyist der Automobilindustrie) Matthias Wissmann hatte das Geschäft eingefädelt, sein sozialdemokratischer Nachfolger Franz Müntefering durfte den Vertrag nur noch unterzeichnen. So kam es dazu, dass ausgerechnet der Politiker, der die Metapher der »Heuschrecke« für internationale Hedgefonds in die Welt gesetzt hatte, mit seinem Namen »einen Staatsbetrieb zu Fluginsektenfutter verwandelte«, ironisiert Werner, was er bei einem von ihm erzählerisch verfassten Besuch bei dem »Linken«-Bundestagsabgeordneten Victor Perli von diesem darüber erfahren hatte.

Dieser ausgepichte politische Kenner der Materie weist den staunenden Autor darauf hin, dass der »Rast & Tank«-Konzern, der mittlerweile als Monopolist ca. 95% alle deutschen Raststätten bewirtschaftet, u.a. von einem kanadischen Pensionsfonds, dem Staatsfonds von Abu Dhabi & einem Tochterunternehmen der Allianz angezapft wird.

Obwohl dem Bund gesetzlich pro 100 Liter Kraftstoff 1,53€ & für alle anderen Einnahmen der Tank-& Raststätte eine Umsatzbeteiligung von 3% vertragsgemäß zuständen, kassiert er nur 23 Cent (!), bzw. nur 1,1% (!) - & das schon seit Jahren! Auf Anfragen beim Bundesverkehrsministerium zu diesen eigentümlichen Rabatten auf Öffentlichem Eigentum erhält Werner Antworten, die ich – auf die Gefahr hin, eines Kalauers bezichtigt zu werden, nur bescheuert nennen kann.

Das ist umso skandalöser, als die jährlichen Kosten, die der Staat für den Unterhalt der Tank- & Raststätten ausgibt, diese Summen weit überschreitet. Außer Victor Perli scheint diese freiwillige Staatspende zugunsten des Profits des privaten Monopolisten aber niemand unter den deutschen Politikern zu kümmern.

Ein weiteres Zentralkapitel beschäftigt sich alltagspsycho- & -philosophisch mit dem ausgeklügelten System von »Sanifair« - der Bezahltoilette, die ihren aus leiblicher Not bedürftigen Besucher erst einmal zur Kasse bittet & dann automatisch in einen »konsumistischen Teufelskreis« schickt.

Aus dem amüsanten Gespräch mit einem Plastikflaschen-Sammler, der wohl der einzige sei, der auf Garbsen Nord mit dem Fahrrad unterwegs ist, entnimmt er dessen Liebe zu den »Holländern«, die ihm reiche Ausbeute versprechen (weil sie die deutschen Plastikmüll-Gesetze nicht durchschauen).

Neben den kleinen Erleuchtungen, die Werner in seinen Gesprächen mit einem Brummifahrer, einem Notfallseelsorger & einem Autobahnpolizisten zuteilwerden, ist das Gespräch mit einem Ingenieur für Landespflege & Vegetationskunde wohl das erstaunlichste journalistische Mitbringsel Werners von seiner Expedition in das Biotop Garbsen Nord.

Dieser Kenner sieht in dem stark versiegelten & damit sich aufheizenden Boden der Autobahnraststätten ein Vorschein der »Futurlandschaften« Deutschlands, nachdem durch den Klimawandel »unsere Kulturgräser eingegangen sind«. Allerdings hat der Biologe festgestellt, dass sich die Zahl der jetzt dort gedeihenden 260 Pflanzenarten im Lauf der vierzig Jahre, seit es den Ort gibt, um ein Drittel erhöht hat (& sich laufend verändert durch den transeuropäischen Frachtverkehr & was die Brummireifen so anschleppen).

Florian Werner macht sich & uns aus dieser Information das Sprachvergnügen, auf mehr als drei Seiten einen Bunten Strauß von floralen Namen zu sammeln & sie auf einer semantischen Sprachwiese poetisch zum Erblühen zu bringen. Wenn man in Garbsen Nord  z. B. auf den »stechende Hohlzahn«, den »Westfälische Schwingel« oder die »Kleine Braunelle« stößt, glaubt man sich fast im Elfriede-Mayröcker-County zu befinden.

Neben einigen lustig-lobhudelnden Prominentendankesworten im alten Gästebuch, deren eine (von einem längst vergessenen Rocksänger) der gewesene Altphilologe Werner fachgerecht in einer Fußnoten hermeneutisch analysiert, hat der Autor auch noch selbst zur Feder gegriffen & seine Liebeserklärung im Stil eines englischen Sonetts gedichtet. Da er zurecht vermutet, dass die Leser zu ungebildet sind, seine literarische Leistung zu erkennen & dadurch würdigen zu können, liefert er gleich das formale Rezept dazu.

Zum Dessert (oder Kehraus) widmet der gewiss nicht automobil-affine Autor dem »Kleinod der Autobahnnebenbetriebe«, dem »Rasthof Avus«, eine liebevolle Betrachtung.

Artikel online seit 16.05.21
 

Florian Werner
Die Raststätte
Eine Liebeserklärung
Hanser Berlin,
2021
160 Seiten, zahlr. Abb.,
22,00 €
978-3-446-26794-7

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