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Fatalismus im Kubik

Der Auftakt zu einer neuen Oswald-Spengler-Schriftenreihe zeigt den
bekanntermaßen einsamen wie ängstlichen Philosophen des
»Untergangs«
mit letztlich bemerkenswert aktuellen Gedanken.

von Michael Helming
 

Nordfriedhof München. Im Rücken die Sonne in ihrem abendlichen Niedergang, sitzt man auf einer Bank und der Blick geht quer über den Weg: Eines der größten und wohl zugleich schmucklosesten Monumente im näheren Umkreis ist ein schwarzer Würfel mit einer Kantenlänge von einem Meter, darauf vorn der Nachname SPENGLER und an der rechten Seite die Jahreszahlen 1880 und 1936. Lange Risse durchziehen den dunklen Stein. Noch nicht tief, sind diese dennoch ein Indiz für die Wirklichkeit des Phänomens Zerfall und sie bestätigen und widerlegen simultan jene zyklische Morphologie der Weltgeschichte, die unter dem Titel »Der Untergang des Abendlandes« zu den faszinierendsten literarischen Werken des 20. Jahrhunderts gehört. Wer die Biographie des ewigen Grüblers Oswald Spengler ein wenig kennt, der kann sich mit etwas Phantasie vorstellen, wie dieser mit eigenen Händen den gewaltigen Block über seine sterblichen Überreste setzt, um endlich von jener Welt, die ihn nie verstand, vollkommen abgeschirmt zu sein.

Ebenfalls ein Monument, nicht aus Stein, sondern auf 680 Seiten Papier, findet der Leser im jüngst erschienenen ersten Band eines geplanten Reihenwerks, das sich zum Ziel setzt, »den Nachlass, die Schriften und die Wirkung Spenglers kritisch aufzuarbeiten und kulturhistorisch zu verorten und damit zugleich einer schon zu Lebzeiten einsetzenden Hagiografie und der mit ihr einhergehenden ideologischen Vereinnahmung, Vereinfachung und Verharmlosung des spenglerschen Denkens entgegenzuwirken«. Hier also der politische Nachlass »Politica«, der, verglichen mit den 2007 veröffentlichten autobiographischen Betrachtungen »Eis heauton«, von viel voluminöserem Umfang ist. Während letztere damals schon aus einigen Monographien weitestgehend bekannt waren, findet der Leser jetzt manch neue Wortmeldung, auch wenn sich am pessimistischen Grundtenor und am Bild des Mannes hinter dem Text freilich nicht viel ändert. Da Spengler, der meist mehr von seiner Phantasie als von gewissenhaftem Forschergeist geleitet war, stets seine »Unfähigkeit« beklagte, »große Arbeiten abzuschließen«, verwundert es nicht, seine Gedankenwelt in Bruchstücken erhalten zu finden. Im Falle der »Politica« handelt es sich um über 1300 Textfragmente aus immerhin zwei Dekaden; ursprünglich zumeist wohl handschriftliche Notizen, die nach Spenglers Tod von seiner Schwester und vor allem später von deren Tochter abgetippt und in eine grobe Ordnung gebracht wurden. Da die Tesserae undatiert und mit Kürzeln versehen sind, eine Sisyphusarbeit. Teile der Aufzeichnungen gingen bereits im Zweiten Weltkrieg verloren. Der Rest landete im Archiv der Bayrischen Staatsbibliothek und diente jetzt der ersten vollständigen Edition zur Grundlage.

Sinnvoll flankiert wird dieses Sammelsurium, das zwangsläufig Wiederholungen enthält und längst nicht immer Bonmotqualität erreicht – mitunter hat man es mit losen Einfällen, Phrasen oder nur mit einzelnen Worten zu tun –, neben ausführlichen editorischen Angaben von zwei erläuternden Texten, die spannend und hilfreich, oft sogar notwendig für Übersicht und Verständnis des großen Ganzen sind. Da ist zum einen das Vorwort von Gilberto Merlio und zum anderen eine politisch-biographische Skizze des Herausgebers Fabian Mauch. Obendrein enthält dieser Band eine erste vollständige Transkription jener an die NSDAP gerichteten Denkschrift, die Oswald Spengler am 18. Juni 1934 unter der Schlagzeile »Deutschland Mein Deutschland Du darfst nicht untergeh'n!« verfasste und lediglich zwei Wochen später – unmittelbar nach der »Nacht der langen Messer« – um einen Zusatz erweiterte. Ohne jede Frage versammelt diese Ausgabe eine riesige Fülle an Material und bereitet sie übersichtlich auf. Falls dies der editorische Standard der Reihe bleibt, darf man sich in den kommenden Jahren noch auf einige gelungene Veröffentlichungen freuen. Die Aufmachung im Hardcover mit Leseband ist handlich und ansprechend; einige Fehler im Satz, die der Verlag auf einem beigegebenen Lesezeichen bedauert, haben sogar Charme, da sie bei der zweiten Auflage getilgt sein werden, derweil sie den Lesefluss der ersten nicht im geringsten hemmen.

Am Ende steht jene große Frage, die wichtigste aller Kritik: Was soll der Leser damit? Die positive Antwort berücksichtigt nicht nur den Spengler-Kenner, sondern jeden Leser, sowohl jenen, der um die großen Werke der Weltliteratur gern etwas »drumherum« liest, als überraschenderweise auch den, der tagesaktuellen, lebensnahen Texten den Vorzug gibt. Freilich einlassen muss man sich auf das Format Fragment, in diesem Fall ein Blick in die Werkstatt; manches dürfte der Autor lange in seinem Kopf mit sich herumgetragen haben, anderes gleicht spontanen, unreflektierten Ausbrüchen.
(Die zuweilen später überarbeitet wurden. Streichungen und Änderungen sind dokumentiert.) Wer parallel in Spenglers Hauptwerk blättert, wird es umso mehr für seine Verbindung aus Wucht und Geschlossenheit zu würdigen wissen. Manche Notiz in den »Politica« lädt dazu ein. In den ersten beiden Teilen »Aus der Zeit des Ersten Weltkriegs« und »Eigentum, Wirtschaft und Ideologie« sammelt Spengler unter anderem Entwürfe für Denkschriften an den Kaiser, denn er will nach dem Krieg, von dem er ja glaubt, dass er gewonnen und Deutschland Weltmacht werden wird, politisch Einfluß nehmen. Ein großer Treppenwitz der Literaturgeschichte ist die Tatsache, dass Spengler sein Hauptwerk als Erklärung für einen deutschen Sieg konzipierte, es dann aber als vermeintliche Orientierung in der Niederlage ein Verkaufserfolg wurde. Der »Untergang«, eigentlich nicht als Ende, sondern als Teil einer Dynamik zu denken, bediente das Selbstmitleid und die – nicht zuletzt existentiellen – Ängste und Sorgen einer Generation, deren hochfliegende Träume von Allmacht und Weltgeltung an der Wirklichkeit zerbrachen. Von »Wirklichkeit« oder davon »die Welt so zu sehen, wie sie ist« spricht manches Fragment und damit macht der pedantische Oberlehrer wider Willen deutlich, er akzeptiert allein jene Wirklichkeit, die ihm vorschwebt. Alles andere hält er für Fake-News, würde man heute vielleicht sagen. Ihm ist alles Sein ein Kampf und Krieg. Gegen Pazifisten, Weltverbesserer, Demokratie und Kapitalismus (»die Zerstörung d. Eigentums durch d. Geld«) wettert er in der Weimarer Zeit ohne Unterlass, verdient paradoxerweise Geld mit einer Masse, die ihn anwidert. Er sucht die Nähe zu den Eliten in Wirtschaft, Gesellschaft und Militär, hofft, dort mit seinen politischen Ideen wirken zu können. Ein Platon für Arme. Seine Philosophie ist zu oft ein Sich-in-etwas-hineinsteigern, keine fundierte Entwicklung. Auch deshalb klingt der Ton in seiner Zettelwirtschaft nicht selten verbissen rechthaberisch. Spengler ist kein Praktiker, eher weltfremd, mal selbstbewusst bis zum Größenwahn und dann wieder resignierend. Als er die Elite, die er sucht, nicht in der NSDAP findet und in Hitler nicht seinen Führer, gewinnen seine Aufzeichnungen noch einmal an Energie. Jetzt hat er gute Gründe für seinen Pessimismus.

Am 3. Februar 1930 hielt Spengler vor der »Patriotischen Gesellschaft Hamburg« den Vortrag »Deutschland in Gefahr«, aus dem 1933 das Buch »Jahre der Entscheidung« hervorging, das den Nazis nicht gefallen konnte. Im stillen Kämmerchen sammelte Spengler Ideen für einen zweiten Teil und wo einem Karl Kraus zu Hitlernichts mehr einfiel, drehte Spengler sprachlich auf und vereinzelt schimmert sogar zynischer Humor durch, wenn er etwa aus dem tausendjährigen Reich eines von tausend Tagen macht oder die Zeile »Vom Zuchthaus zum Ministersessel« notiert. Die NSDAP nennt er eine »Bierbanksekte« und Deutschland erscheint ihm »wie ein verwanztes Haus«. Den Verlust von Recht und Ordnung nimmt er deutlich wahr: »Sie wollten ein deutsches Recht schaffen und prahlten jeden Tag damit: Gefangene zu Tode gefoltert, andre in d. Wälder geschleppt, erschossen, geplündert.« Aber Spengler schreibt eben auch: »An den sogenannt. »Ideen« d. Nat Soz. ist vieles richtig – weil sie nicht von seinen Maulhelden stammen. Sie sind z.T. von mir«. Freilich wäre auch der »Preussen-Sozialismus« á la Spengler ein unmenschliches System, nicht besser, nur anders als das Regime der Faschisten. Mit denen passte es ideologisch allerdings an keiner Stelle: Im Großen nicht, da sie eine Bewegung jener Masse waren, die Spengler ablehnte, und auch im Kleinen waren die Schnittmengen auffallend rar. Man verwendete zwar die gleichen Begriffe, interpretierte diese jedoch unterschiedlich, sodass kaum Spielraum für eine gemeinsame Linie blieb. Das beginnt bei der Definition von Rasse (nordisch vs. deutsch) und endet beim Antisemitismus noch lange nicht.

Letztlich war Spengler nur ein Fatalist unter vielen. Politischer Pessimismus lag im Trend; für ihn unterm Strich eher Fluch als Segen. Derweil erlebt fatalistisch versponnener Zeitgeist hierzulande seit einigen Jahren quer durch alle Schichten eine Renaissance. Mehrfach fragte ich mich beim Lesen des vorliegenden Bandes, wo in der Gesellschaft ein Oswald Spengler sich gefunden hätte, wäre sein Geburtsdatum nicht der 29. Mai 1880 sondern 1980 gewesen. Könnte man sich ihn als Amokläufer vorstellen? – Nein. Für einen Theoretiker wäre das keine passende Rolle. Aber wir würden ihn sehr wahrscheinlich unter den Anhängern von Verschwörungstheorien finden, vielleicht als Reichsbürger, Querdenker oder im Think-Tank einer Rechts-Außen-Partei. Stimmung und Schwingungen der spenglerschen Fragmente wecken erstaunlich oft Assoziationen an Wutbürger und multimediale Crash-Propheten; die Sprache irrationaler Weltbilder und diffuser Ängste tritt in greifbarer Deutlichkeit vor den Leser. Da ist ein Würfel aus dunkler Energie. Ob Geschichte am Ende nicht doch zyklische Tendenzen hat?

Artikel online seit 09.10.21
 



Attribution: Bundesarchiv, Bild 183-R06610 / CC-BY-SA 3.0
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Oswald Spengler
Ich bin kein Prophet
Die Aufzeichnungen
»Politica« aus dem Nachlass
Mit einem Vorwort von Gilbert Merlio
Herausgegeben und um eine politisch-biografische Skizze ergänzt von Fabian Mauch
Oswald-Spengler-Schriftenreihe, Band 1
C.W. Leske Verlag 2021
680 Seiten
gebunden
Fadenheftung, Leseband
(D) € 34,90, (A) € 35,90, sFr 47,00 (UVP)
978-3-946595-02-1

 

 

 


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