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Rassismus und erhöhter Blutdruck

Christoph Türckes kleines kritisches Wörterbuch der neuen politischen Schlagworte

Von Wolfgang Bock
 

Eine andere Kritik des Parlamentarismus in Grün
Christoph Türcke legt ein halbes Jahr nach seinem großen Essay Natur und Gender, der im Verlag C.H. Beck über den Zusammenhang von Sprachregelung, radikalem Konstruktivismus und Neoliberalismus erschienen ist, erneut ein kleines erläuterndes Glossar zum Thema vor. Auch diesmal geht es um die Dialektik von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in der Genderfrage und der Rassismusdebatte. Das Büchlein erscheint in seinem Hausverlag zu Klampen.[1] Hier liefert er weitere Argumente zu den Stichworten Quote, Rasse, Gender, black lives matter, Antisemitismus oder Xenophobie. Er führt vor allem nochmals pointiert seine dialektische Art zu denken vor, um so in eine aktuelle politische Debatte einzugreifen, die ansonsten von instrumentellem Sprachgebaren bestimmt ist.
Das neue Brevier ist in Grün gehalten. Es kommt, wenn auch etwas kleiner gehalten, optisch in etwa so daher wie die Hefte des faschistischen Rechtsphilosophen Carl Schmitt (1888-1985). In Grün stellte auch Schmitt bei Duncker und Humblot in Berlin seine spitzfindige Kritik des Repräsentationsprinzips des demokratischen Parlamentarismus vor.
[2] Zu deren nationalistischen Horizont wollwn Georg Maaßen und die heutigen Flügelleute der AfD und anderer Alt- und Neofaschisten z.B. in Ungarn und Polen wieder so zurück, als handele es sich um den letzten post-internationalen Schrei: der homogene, von weißen Männer dominierte Nationalstaat als »Bollwerk« gegen internationale Organisationen. Zur Zeit Schmitts waren das der Völkerbund in Genf und der Versailler Vertrag, während der italienische Faschismus Mussolinis und die von ihm nationalistisch verstandene Russische Revolution einen Weg weisen sollten, den viele Neurechte heute ebenfalls wieder anpeilen.

Aus diesem Grunde war Schmitt der repräsentative Parlamentarismus der Vielen suspekt. In diesem Horizont einer Kritik des politischen Repräsentationsprinzips sind auch Türckes Überlegungen angesiedelt. Schmitt aber will, bevor er überhaupt zu argumentieren beginnt, bereits zwischen Freund und Feind, »germanischem« und »jüdischem Recht« des Blutes unterscheiden. Türcke vereitelt dagegen in seinem grünen Bändchen ein solches Vorhaben prinzipiell. Er spuckt zunächst den Rechten in die Suppe. Wo Schmitt das Formelle dort verwirft, wo er das Völkische vorziehen kann, da geht Türcke den umgekehrten Weg: Er kritisiert den heutigen formellen Anspruch von Repräsentationsgruppen in der Politik – Frauen, Schwarze, Schwule, ImmigrantInnen – wenn sie sich mit einem solchen zufriedengeben. Daher ist Türcke auch hier unbequem. Eine Politik der Lobbyisten, die davon ausgehen, dass sie jeweils nur für die von Ihnen repräsentierte Gruppe sprechen will – Schwarz für Schwarze, Frauen für Frauen, Araber für Araber, Dänen für Dänen – ist für ihn Gift für den Parlamentarismus und die Demokratie – Zeichen einer »Demokratisierung auf Abwegen«, wie seine Schrift im Untertitel heißt.

Formel und Informel
Türcke legt den Finger in die Wunde, die sich auftut zwischen formellen Rechten und ihrer praktischen Durchsetzung, einem Anspruch und einer Geltung. Denn die Politik und die Gerechtigkeit bleiben bei einem komplexen Rechenexempel auf der Strecke, wenn jede Bevölkerungsgruppe im Parlament repräsentiert sein soll. Er zeigt, dass dahinter eine zu simple Idee von Klasseninteressen steht, die schließlich neoliberalistisch endet: Wenn alle wichtigen Posten der Regierenden und der Wirtschaftsbosse paritätisch besetzt sind, dann soll das bis unten durchsickern. Nach diesem Motto fahren die FDP-Abgeordneten mit ihren SUVS durch die Gettos, um den Armen mal zu zeigen, was man alles erreichen kann. Es ist eine Variante des »Jeder ist seines Glückes Schmied«. Oder kurz, wie das liberale Parteiprogramm bereits im 19. Jahrhundert ungeschminkt lautete: »Bereichert euch.« Heute heißt das: »Durchsetzung der Klimaziele ohne Einbuße an Wohlstand«. Es zeigt unter anderem, dass die FDP die eigentliche Gewinnerin die letzte Bundestagswahl ist. Die neuen Schlagworte dieser Debatte seien dagegen, so Türcke, der undemokratischen Öffentlichkeit des Internets geschuldet. Die Grenze der Politik bestimme nach wie vor der Markt. In den Publikationsmedien des Internets aber sei kaum noch vom Markt die Rede, seitdem jeder vorbei an allen Repräsentanten und Vormündern der Demokratie ganze Datensätze ins Netz stellen könne. Das Internet geriere sich mit seinen sozialen Medien als Forum des Kampfes um diskriminierungsfreie Räume, hinter denen die Frage des Weltmarktes und seiner spezifischen Bedeutung zurücktrete.

Viele sind besser als einer? Scheindebatten über die Quote
Türcke macht damit eine Dialektik auf – nicht allein von formeller und informeller Politik, die durch die Digitalisierung gründlich durcheinandergewirbelt wird, sondern auch eine der Quote. Das liefert nach der Einleitung das nächste Stichwort. Das paritätische Mann-Frau-Reißverschlussprinzip der Wählerlisten werde zwar von Gerichten gekippt, deren Mehrheit aus alten weißen Männern besteht. Darüber hinaus aber gelte: Gleichberechtigung als ausgeführter Sprechakt ist nicht schon Gleichstellung:

»Dabei wäre es äußerst wünschenswert, wenn mehr Frauen, People of Color, Muslime, Juden, Menschen mit Behinderungen im Parlament säßen. Doch wenn die Erhöhung ihrer Zahl durch Proporzgesetzgebung verordnet wird, verfängt sich die Demokratie in einer selbst gestellten Falle und wird ihren Gegnern zur leichten Beute.« (S.25-26)

Dass das solcherart strapazierte Repräsentationsprinzip selbst eine Sekundärtugend ist, wusste eben auch schon Carl Schmitt. In diesem Sinne repräsentiert auch der Diktator das Volk, wenn auch nur in einem Fall; dass allerdings eine schiere Diversität der Repräsentationsfiguren die ganze Angelegenheit besser machen würde – nach dem Motto »Viele sind besser als einer« –, ist, so zeigt Türcke unmissverständlich, ebenso ein Fehlschluss.

»Der Begriff des Rassismus setzt denjenigen der Rasse voraus.«
In diesem Sinne stehen auch Türckes Überlegungen zum Begriff Rasse und Rassismus. Der Fall George Floyd zeige, dass die Schwarzen zwar heute in den USA formal dem Gesetz gegenüber als gleichberechtigt gelten, sie seien aber trotzdem nicht gleichgestellt. Türcke verschweigt auch nicht das Verbandeln der Polizei mit der Justiz, die trotz der offiziell geltenden Gewaltenteilung überall im Staat stattfindet. Diese Art von dialektischem Zweifel nähert Türcke, wenn er Kant und dessen frühe Theorie der verschiedenen Menschenrassen verteidigt: Der empirische Kant und dessen eingeschränktes Gemüt sei Opfer seiner historischen Verhältnisse; aber der Kant des Begriffs der Rassen transzendiere diese. Überdies erfahren wir, dass Rasse auch in den neulateinischen Sprachen Französisch, Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch auf das altdeutsche reiza zurückgeht. Es stellt ein barbarisches Erbstück der Völkerwanderungszeit in Südeuropa dar und bedeutet nach den Gebrüder Grimm ursprünglich so viel wie Linie und Strich. Diese etymologische Linie sei älter als die der ausgebildeten Evolutionsbiologie bei Linné, Lamarck oder Darwin.[3] Türcke zeigt, dass vielmehr auch bei Kant die Unterschiede zwischen den Menschen aus ihrem phänotypischen Aussehen herrühren. Solche Unterscheidung bedeute noch keine Hierarchie.

Liebe dein Symptom wie dich selbst: Hysterie und Verneinung
Wenn es beim Menschen aber keine Rassen mehr gibt, gibt es dann überhaupt noch Rassismus?[4] Es gibt aber doch auch Antisemiten, die noch nie einen Juden gesehen haben. Aber wie das Wort mit der Verwendungsgeschichte sich verändere und abweiche von der früheren Etymologie, so ließe sich das Problem nicht mithilfe einer Sprachkorrektur aus dem Wege schaffen. Eine solche Rationalisierung bringe höchstes das Symptom kurzzeitig zum Verschwinden, bevor es dann wiederkehre: »Immer darüber sprechen, nie daran denken«. Bei dem selbsteinschüchternden Hang zu Gendersprachpolizei der selbsternannten AntirassistInnen sieht Türcke damit  nicht zu Unrecht die Abwehrformen von Hysterie und Verneinung am Werk:

»Seelische Stellvertreter leiden aber sind Paradefälle von Hysterie. Denen hilft man nicht, wie nicht nur Psychoanalytiker wissen, durch eilfertige Umbenennungen sämtlicher »Mohren«-Lokalitäten sowie durch politisch korrekte Krippenspielveränderungen, sondern durch Vordringen zu den eigentlichen Leidensursachen.«
(S. 45-46)

Realismus statt Nominalismus
In der Auseinandersetzung mit dem afrikanischen Philosophen Achille Mbembe und dessen Kritik der Schwarze Vernunft beginnt Türcke anschließend im zweiten Teil seines neuen Essays stärker historisch zu argumentieren. Er kritisiert an dem Diskurs zweierlei: Zunächst die nur mühsam säkular kaschierte theologische Heilsvorstellung nun schwarzer Auserwählter, wonach bald das Zeitalter Afrikas anbrechen würde. Ein weiterer Dorn im Auge ist ihm, dass, was er bei Mbembe als eine Nähe zu »Michel Foucault und Gilles Deleuzes Dekonstruktivismus« ausmachen will. Türcke verweist hier auf Foucaults Kritik der Diskursformen, die er als nominalistischen Akt deuten will, als Tendenz einer Debatte rein im Medium der Sprache, die von den real stattfindenden kapitalistischen Verhältnissen ablenke. Darin erkennt er auch ein Muster aus der Genderdebatte wieder.

Türcke will damit an Foucault kritisieren, dass dieser sich auf die Ein- und Ausschließungsmechanismen des Diskurses fokussiere und nicht auf die Genese des Kapitalismus, dem es um Profit ginge, egal wie. In dieser Linie stünde ein Kapitalismus, der sich historischen auf Sklaverei und Rassismus gegründet habe. Dass nun die Schwarzen heute bei Mbembe zum neuen Subjekt der Geschichte werden, hänge vielmehr mit den Praktiken und neuen Verkehrs- und Arbeitsformen der mikroelektronischen Revolution, die die festgefahrenen Kapitalstrukturen in diverse umgewandelten. Einzig und allein aus diesem Grund würden auch heute mehr Frauen beschäftigt. Diese neue Tendenz stünde auch hinter der sogenannten Diversity Charta führender Unternehmer, wo es heißt: »Wir können wirtschaftlich nur erfolgreich sein, wenn wir die vorhandene Vielfalt erkennen und nutzen«.
Das Copyright für diese Charta liegt übrigens bei den United Colors of Benetton

Black lives matter und neue Hierarchien im postkolonialen Denken

Wenn Achille Mbembe also »die Farbe Schwarz neu denken« wolle, so besitze das etwas von einer einfachen Verkehrung:

»Weiße dürfen hier nicht an vorderster Front mitreden, ohne in kolonialistisches Verhalten zurückzufallen – was umgekehrt heißt: argumentative Selbstevidenz gibt es nicht. Richtige Gedanken werden erst dadurch richtig, dass die Richtigen sie äußern: die am meisten von Rassismus Betroffenen. Volle Urteilskraft, volles Rederecht haben nur sie. Alles andere ist Bevormundung. Das ist eine der Grundüberzeugungen des Postkolonialismus.«[5]

Der Führungsanspruch dieser schwarzen Vernunft wird von Türcke verglichen mit dem zionistischen Bekenntnis, einem auserwählten Volk anzugehören, das in dieser Hinsicht außerhalb des Diskurses stünde. Aber unter säkularen demokratischen Verhältnissen greife diese rhetorische Figur nicht. Diese Verbindung über einen ähnlichen hypostasierten Anspruch sei wichtiger als der Antisemitismus, der Mbembe anlässlich seiner Äußerung zur Ruhrtriennale vorgeworfen wurde. (S.73, Fußnote 55). Denn das Verhältnis zwischen den einzelnen marginalisierten Gruppen im melting pot der Dreißiger- und der great society der Sechzigerjahre in den USA, aber auch in Europa und anderswo sei unklar und konkurrierend: Indigene, Chinesen, Juden, Osteuropäer, Latein und Südamerikaner, Sinti und Roma, Sorben und Schwarze. Ihr jeweils kulturelles Feld ist die Ebene der Auseinandersetzung. Sozialforschung und Universität kommt den Juden entgegen, Musik, Sport und Pop-Kultur den Schwarzen. Der immer häufiger anzutreffende fundamentalistische »Afropessimismus« aber sei hier eine neue Variante, die den Weißen abspreche, überhaupt das Problem zu verstehen und über diese Dinge zu sprechen.

Eine ähnliche Ambivalenz wirke auch im Begriff der Xenophobie. Xenos heißt im Griechischen der Fremde, die Fremde und das Fremde, aber auch der Gast und der Gastfreund. Xenophobie heiße dann Angst vor dem Fremden, sie sei als solche per se nicht fremdenfeindlich und eigne sich nur zu einem entsprechenden moralischen Vorwurf, wenn man naiv denke:

»Die antirassistische Attitüde ist ins Kraftfeld jener beiden tiefenseelischen Mechanismen gebannt, die bei Freud Verneinung und Verschiebung heißen. Darüber hinaus führt erst die Einsicht, dass niemand ganz frei von Xenophobie ist und wir alle deren Durcharbeitung nötig haben.« (S. 90)

Gender und Ungerechtigkeit
Nach den historischen Exkursen kommt Tücke im letzten Teil seines Textes wieder zurück zur Genderdebatte, wenn er von der Unmöglichkeit der gerechten Sprache und dem »neuen deutschen guten Ton« handelt:

»Die Gleichsetzung von Gerechtigkeit mit paritätischer Gleichstellung hat eine mentale Tiefenwirkung, von der sich in der Gleichstellung der Frauen nur die ersten zarten Anfänge zeigen. Bekanntlich ist sie mit der Durchsetzung einer »geschlechtergerechten«, will sagen, paritätischen Sprech- und Schreibweise verbunden, die im Deutschen mit seiner stark ausdifferenzierten Deklination besonders hoch aufgeladen ist. Dass man das weibliche Geschlecht missachte, wenn man es nicht überall ausdrücklich erwähnt, wo es beteiligt ist, gehört seit einigen Jahren zum guten deutschen Ton. Es gilt als unhöflich, von einem Fußgängerüberweg, Rednerpult, Lehrerkollegium zu sprechen, ohne eigens die Fußgängerinnen, Rednerinnen, Lehrerinnen zu nennen. Als fehlte den Frauen das Abstraktionsvermögen, auch ohne diese Zusätze zu bemerken, dass sie genauso den Überweg und das Pult nutzen können und dem Kollegium zu gleichen Konditionen angehören wie Männer. Ob es schmeichelhaft für Frauen ist, ein solches Abstraktionsdefizit unterstellt zu bekommen; ob ersprießlich, wenn ihnen jede Sondernennung ihres Geschlechts erneut vorführt, dass die weiblichen Endungen gewöhnlich Ableitungen von männlichen sind, ganz nach dem biblischen Muster, wo Eva Abkömmling von Adam ist; ob es dem Sprach-, Gedanken- und Lesefluss guttut, wenn er ständig durch Hinzufügung weiblicher Formen unterbrochen wird; ob es geschlechter-gerecht ist, wenn der bestimmte weibliche Artikel »die«, der im Plural auf Maskulinum und Neutrum übergreift (die Männer, die Kinder), dem männlichen Geschlecht gar keine eigene Pluralform einräumt? Schon das bloße Stellen solcher Fragen erhöht umgehend den Blutdruck.« (S. 93-94)

Was Türcke richtig anprangert ist der »Rückbau der Sprache auf ethnozentrisches Niveau, auf Clankommunikation.« Das werde mittlerweile durch die neoliberale Weltgesellschaft gestützt:

»Und so avanciert die »Rassismus«-Bekämpfung zu einem weltweiten Projekt, an dem von der UNO, der EU und den liberalen Nationalstaaten bis hin zu Großkonzernen und Fußballvereinen alles beteiligt ist, was Rang und Namen hat. Die Stimmführer der neoliberalen Welt bekommen das Ansehen von Revolutionsführern, die im Namen der Diversity Charta dem Weltmissstand Nummer eins zu Leibe rücken. So wird die globale kapitalistische Welt tatsächlich umgewälzt, aber neoliberal. Ihre internetgestützte Umwälzung ist zugleich eine Rolle rückwärts. Die paritätische Abbildung der Gesellschaft in allen Parla­menten, Institutionen und Gremien führt zurück zu vorbürgerlichen, lobbyistischen Vertretungsformen von clanähnlichen Gruppen. Je antirassistischer deren Einstellung, desto eher neigen sie zu dem Verdacht, der Antirassismus ihrer Mitbewerber um volle Sichtbarkeit, Zuwendung und Finanzierung lasse zu wünschen übrig, gestatte weiterhin latentes Mobbing, vernachlässige geschlechter- und min­derheitensensible Verhaltens- und Sprechweisen und hin­tertreibe die Vereinigung der Antirassisten aller Länder, statt sie zu fördern.« (S. 106)

Skandale und erhöhter Blutdruck
Türckes Buch ist irritierend für Menschen, die es nicht gewohnt sind, in seinem spezifischen dialektischen Horizont zu denken. Zu diesem gehört bei ihm der Protestantismus, Kant und die kritische Theorie, ein wenig auch Habermas. Das schürt naturgemäß bereits bei trivialen Fragen Emotionen, geschweige denn bei solchen, wo Herzblut vergossen wird. Unvergessen ist dem Rezensenten in diesem Sinne ein Auftritt der undogmatischen Publizistin Barbara Sichtermanns vor der feministischen Gruppe der frühen Grünen in Bremen Anfang der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Auch Barbara Sichtermann entwickelte ihren Gedanken zum Thema Weiblichkeit dialektisch; sie stellte eine These auf und anschließend eine Gegenthese.[6] Beides führte mittendrin zu heller Empörung im Publikum, das selbstgewisse Klischees erwartete. Da half es auch nicht, dass eine spätere grüne Europa-Abgeordnete mahnte, man solle doch die arme Referentin nicht angehen, bevor sie ihren Gedanken zu Ende entwickelt habe. Der Hinweis ging im Getümmel unter, Stühle fielen um und die Hälfte des Publikums rauschte empört aus dem Saal. Der Rest blieb ebenso ratlos zurück, wie heute vermutlich Leserinnen und Leser der mit spitzem Bleistift und Finger geführten Argumentation Türckes. Das Publikum bevorzugt stattdessen oft genug einen groben Agitprop-Pinsel oder will, um im zeitgenössischen Bild zu bleiben, mit einer dicken Düse ihre Parolen an die Wand sprayen.

Wer bin ich, wenn ich sage: Ich bin, wer ich bin?
Die sprachlichen Ordnungsmaßnahmen gegen die Hysterie der Verneinung und der Reaktionsbildung verbleiben nur an der Oberfläche des Problems. Dass die verschiedenen Welten von Männern und Frauen sehr viel differenzierter als in instrumentalisierten Parolen und eindimensionalen Identitäten betrachtet werden müssen, zeigen die Essaybände von Christa Bürger und anderen.[7] Christoph Türcke schreibt ebenfalls gegen die neue Ungerechtigkeit und den neuen Dogmatismus derjenigen an, die glauben, sie seien a priori im Recht, weil sie angeblich mit ihrer diversen Identität im Reinen wären. Man muss nicht mit den Moskauer Prozessen wedeln, um darauf hinzuweisen, dass solche »Revolution« auch in der Lage ist, ihre Kinder zu fressen. Türcke selbst berichtet über eine ähnliche Erfahrung in einer Diskussion innerhalb der Linken von 1993. Diese kann man vielleicht als eine wichtige Keimzelle für sein Beharren in dieser Debatte ansehen.[8] Auch diese neuen Avantgarden – nennen Sie sich nun selbst linksradikal, identitär, divers, transhuman oder afropessimistisch – sind von dieser Dialektik nicht unbeleckt. Dass die Grünen, wie Türcke am Schluss aufführt, im Bundestag ein Gesetz eingebracht haben, wonach es ab 14 Jahren jeder und jedem erlaubt sei, sich seinen Namen selbst zu wählen und zugleich die Geschichte der Metamorphose von Transgenderpersonen gelöscht werden soll, ist frappierend. Darin erkennt man tatsächlich die einfache Umkehrung des »Rassenachweises bis ins dritte Glied« der Nazis. Identität ist eine ideologische Kategorie, ein Prokrustesbett, in dem nun auch chirurgisch gekürzt wird, was zu lang und längt, was zu kurz sein soll. Solche Biopolitik will den Tod – auch des alten Geschlechts – nehmen und ein neues geben. Dem Wunsch einer Erfindung einer germanischen rassischen Identität entspricht derjenige nach einer Löschung der unliebsamen Nichtidentität im Namen der hypostasierten und falschverstandenen Autonomie eines »I am what I am«. Les extrêmes se touchent. Wirkliche Emanzipation sieht anders aus.

[1] Christoph Türcke, Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns, München: Beck 2021, vgl. https://www.glanzundelend.de/Red20/s-u-20/christoph_tuercke_natur_und_gender.htm.

[2] Vgl. Carl Schmitt, Die Geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), Berlin: Duncker und Humblot 1996 (Nachdruck der 2. Auflage 1926).

[3] Türcke erwähnt dabei zwar summarisch Michel Foucault und seine wichtigsten Schriften; außen vor bleibt aber, dass dieser in seinem Buch In Verteidigung der Gesellschaft gezeigt hat, dass hinter dem Rassebegriff des 19 Jahrhunderts derjenige von verschiedenen herrschenden Klassen steht. Michel Foucault erwähnt hier einen Brief von Marx an Engels von 1882: »Also unser Klassenkampf, Sie wissen genau, wo wir ihn gefunden haben: Wir haben ihn unter den französischen Historikern gefunden, als sie den Rassenkampf erzählten!« (Vgl. Michel Foucault, »In Verteidigung der Gesellschaft.« Vorträge am Collège de France 1975–1976, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2013, S. 100, vgl. Türcke, a.a.O., S. 46, 59-62).

[4] »Eine weltweite Kampagne gegen Menschenverachtung klammert sich im Modus der Verneinung ausgerechnet an jenes Rassenvokabular, dass sie doch als schlechterdings menschenverachtend loswerden will.« (S. 49).

[5] S. 71.

[6] Vgl. Barbara Sichtermann, Weiblichkeit. Zur Politik des Privaten, Berlin: Wagenbach 1983.

[7] Vgl. etwa Christa Bürger, Exzeß und Entsagung: Lebensgebärden von Caroline Schlegel-Schelling bis Simone de Beauvoir, Göttingen: Wallstein 2016.

[8] Vgl. S. 53-54, Fußnote: »Der Tenor meines (damaligen, W. B.) Vortrags aber war kein anderer als der der hier vorgelegten Schrift, und sein Titel trifft die heutige Situation noch besser als die damalige.« Dieser Titel lautete: »Die Inflation des Rassismus«.

Artikel online seit 30.10.21
 

Christoph Türcke
Quote, Rasse, Gender(n)
Demokratisierung auf Abwegen
zu Klampen
120 Seiten
14,00 €
9783866748101

 


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