Eine
andere Kritik des Parlamentarismus in Grün
Christoph Türcke
legt ein halbes Jahr nach seinem großen Essay Natur und Gender,
der im Verlag C.H. Beck über den Zusammenhang von Sprachregelung, radikalem
Konstruktivismus und Neoliberalismus erschienen ist, erneut ein kleines
erläuterndes Glossar zum Thema vor. Auch diesmal geht es um die Dialektik von
Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in der Genderfrage und der Rassismusdebatte.
Das Büchlein erscheint in seinem Hausverlag zu Klampen.
Hier liefert er weitere Argumente zu den Stichworten Quote, Rasse, Gender, black
lives matter, Antisemitismus oder Xenophobie. Er führt vor allem nochmals
pointiert seine dialektische Art zu denken vor, um so in eine aktuelle
politische Debatte einzugreifen, die ansonsten von instrumentellem Sprachgebaren
bestimmt ist.
Das neue Brevier ist in Grün gehalten. Es kommt, wenn auch etwas kleiner
gehalten, optisch in etwa so daher wie die Hefte des faschistischen
Rechtsphilosophen Carl Schmitt (1888-1985). In Grün stellte auch Schmitt
bei Duncker und Humblot in Berlin seine spitzfindige Kritik des
Repräsentationsprinzips des demokratischen Parlamentarismus vor.
Zu deren nationalistischen Horizont wollwn Georg Maaßen und die heutigen Flügelleute
der AfD und anderer Alt- und Neofaschisten z.B. in Ungarn und Polen wieder so
zurück, als handele es sich um den letzten post-internationalen Schrei:
der homogene, von weißen Männer dominierte Nationalstaat als »Bollwerk« gegen
internationale Organisationen. Zur Zeit Schmitts waren das der Völkerbund in
Genf und der Versailler Vertrag, während der italienische Faschismus Mussolinis
und die von ihm nationalistisch verstandene Russische Revolution einen Weg
weisen sollten, den viele Neurechte heute ebenfalls wieder anpeilen.
Aus diesem
Grunde war Schmitt der repräsentative Parlamentarismus der Vielen suspekt. In
diesem Horizont einer Kritik des politischen Repräsentationsprinzips sind auch
Türckes Überlegungen angesiedelt. Schmitt aber will, bevor er überhaupt zu
argumentieren beginnt, bereits zwischen Freund und Feind, »germanischem« und
»jüdischem Recht« des Blutes unterscheiden. Türcke vereitelt dagegen in seinem
grünen Bändchen ein solches Vorhaben prinzipiell. Er spuckt zunächst den Rechten
in die Suppe. Wo Schmitt das Formelle dort verwirft, wo er das Völkische
vorziehen kann, da geht Türcke den umgekehrten Weg: Er kritisiert den heutigen
formellen Anspruch von Repräsentationsgruppen in der Politik – Frauen, Schwarze,
Schwule, ImmigrantInnen – wenn sie sich mit einem solchen zufriedengeben. Daher
ist Türcke auch hier unbequem. Eine Politik der Lobbyisten, die davon ausgehen,
dass sie jeweils nur für die von Ihnen repräsentierte Gruppe sprechen will –
Schwarz für Schwarze, Frauen für Frauen, Araber für Araber, Dänen für Dänen –
ist für ihn Gift für den Parlamentarismus und die Demokratie – Zeichen einer
»Demokratisierung auf Abwegen«, wie seine Schrift im Untertitel heißt.
Formel
und Informel
Türcke legt den
Finger in die Wunde, die sich auftut zwischen formellen Rechten und ihrer
praktischen Durchsetzung, einem Anspruch und einer Geltung. Denn die Politik und
die Gerechtigkeit bleiben bei einem komplexen Rechenexempel auf der Strecke,
wenn jede Bevölkerungsgruppe im Parlament repräsentiert sein soll. Er zeigt,
dass dahinter eine zu simple Idee von Klasseninteressen steht, die schließlich
neoliberalistisch endet: Wenn alle wichtigen Posten der Regierenden und der
Wirtschaftsbosse paritätisch besetzt sind, dann soll das bis unten durchsickern.
Nach diesem Motto fahren die FDP-Abgeordneten mit ihren SUVS durch die Gettos,
um den Armen mal zu zeigen, was man alles erreichen kann. Es ist eine Variante
des »Jeder ist seines Glückes Schmied«. Oder kurz, wie das liberale
Parteiprogramm bereits im 19. Jahrhundert ungeschminkt lautete: »Bereichert
euch.« Heute heißt das: »Durchsetzung der Klimaziele ohne Einbuße an Wohlstand«.
Es zeigt unter anderem, dass die FDP die eigentliche Gewinnerin die letzte
Bundestagswahl ist. Die neuen Schlagworte dieser Debatte seien dagegen, so
Türcke, der undemokratischen Öffentlichkeit des Internets geschuldet. Die Grenze
der Politik bestimme nach wie vor der Markt. In den Publikationsmedien des
Internets aber sei kaum noch vom Markt die Rede, seitdem jeder vorbei an allen
Repräsentanten und Vormündern der Demokratie ganze Datensätze ins Netz stellen
könne. Das Internet geriere sich mit seinen sozialen Medien als Forum des
Kampfes um diskriminierungsfreie Räume, hinter denen die Frage des Weltmarktes
und seiner spezifischen Bedeutung zurücktrete.
Viele
sind besser als einer? Scheindebatten über die Quote
Türcke macht damit
eine Dialektik auf – nicht allein von formeller und informeller Politik, die
durch die Digitalisierung gründlich durcheinandergewirbelt wird, sondern auch
eine der Quote. Das liefert nach der Einleitung das nächste Stichwort. Das
paritätische Mann-Frau-Reißverschlussprinzip der Wählerlisten werde zwar von
Gerichten gekippt, deren Mehrheit aus alten weißen Männern besteht. Darüber
hinaus aber gelte: Gleichberechtigung als ausgeführter Sprechakt ist nicht schon
Gleichstellung:
»Dabei wäre es äußerst
wünschenswert, wenn mehr Frauen, People of Color, Muslime, Juden, Menschen mit
Behinderungen im Parlament säßen. Doch wenn die Erhöhung ihrer Zahl durch
Proporzgesetzgebung verordnet wird, verfängt sich die Demokratie in einer selbst
gestellten Falle und wird ihren Gegnern zur leichten Beute.« (S.25-26)
Dass das solcherart
strapazierte Repräsentationsprinzip selbst eine Sekundärtugend ist, wusste eben
auch schon Carl Schmitt. In diesem Sinne repräsentiert auch der Diktator das
Volk, wenn auch nur in einem Fall; dass allerdings eine schiere
Diversität der Repräsentationsfiguren die ganze Angelegenheit besser
machen würde – nach dem Motto »Viele sind besser als einer« –, ist, so zeigt
Türcke unmissverständlich, ebenso ein Fehlschluss.
»Der
Begriff des Rassismus setzt denjenigen der Rasse voraus.«
In diesem Sinne
stehen auch Türckes Überlegungen zum Begriff Rasse und Rassismus. Der Fall
George Floyd zeige, dass die Schwarzen zwar heute in den USA formal dem Gesetz
gegenüber als gleichberechtigt gelten, sie seien aber trotzdem nicht
gleichgestellt. Türcke verschweigt auch nicht das Verbandeln der Polizei mit der
Justiz, die trotz der offiziell geltenden Gewaltenteilung überall im Staat
stattfindet. Diese Art von dialektischem Zweifel nähert Türcke, wenn er Kant und
dessen frühe Theorie der verschiedenen Menschenrassen verteidigt: Der empirische
Kant und dessen eingeschränktes Gemüt sei Opfer seiner historischen
Verhältnisse; aber der Kant des Begriffs der Rassen transzendiere diese.
Überdies erfahren wir, dass Rasse auch in den neulateinischen Sprachen
Französisch, Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch auf das altdeutsche
reiza zurückgeht. Es stellt ein barbarisches Erbstück der
Völkerwanderungszeit in Südeuropa dar und bedeutet nach den Gebrüder Grimm
ursprünglich so viel wie Linie und Strich. Diese etymologische
Linie sei älter als die der ausgebildeten Evolutionsbiologie bei Linné, Lamarck
oder Darwin.
Türcke zeigt, dass vielmehr auch bei Kant die Unterschiede zwischen den Menschen
aus ihrem phänotypischen Aussehen herrühren. Solche Unterscheidung
bedeute noch keine Hierarchie.
Liebe
dein Symptom wie dich selbst: Hysterie und Verneinung
Wenn es beim
Menschen aber keine Rassen mehr gibt, gibt es dann überhaupt noch Rassismus?
Es gibt aber doch auch Antisemiten, die noch nie einen Juden gesehen haben. Aber
wie das Wort mit der Verwendungsgeschichte sich verändere und abweiche von der
früheren Etymologie, so ließe sich das Problem nicht mithilfe einer
Sprachkorrektur aus dem Wege schaffen. Eine solche Rationalisierung bringe
höchstes das Symptom kurzzeitig zum Verschwinden, bevor es dann wiederkehre:
»Immer darüber sprechen, nie daran denken«. Bei dem selbsteinschüchternden Hang
zu Gendersprachpolizei der selbsternannten AntirassistInnen sieht Türcke damit
nicht zu Unrecht die Abwehrformen von Hysterie und Verneinung am Werk:
»Seelische Stellvertreter
leiden aber sind Paradefälle von Hysterie. Denen hilft man nicht, wie nicht nur
Psychoanalytiker wissen, durch eilfertige Umbenennungen sämtlicher »Mohren«-Lokalitäten
sowie durch politisch korrekte Krippenspielveränderungen, sondern durch
Vordringen zu den eigentlichen Leidensursachen.«
(S. 45-46)
Realismus statt Nominalismus
In der
Auseinandersetzung mit dem afrikanischen Philosophen Achille Mbembe und dessen
Kritik der Schwarze Vernunft beginnt Türcke anschließend im zweiten Teil
seines neuen Essays stärker historisch zu argumentieren. Er kritisiert an dem
Diskurs zweierlei: Zunächst die nur mühsam säkular kaschierte theologische
Heilsvorstellung nun schwarzer Auserwählter, wonach bald das Zeitalter Afrikas
anbrechen würde. Ein weiterer Dorn im Auge ist ihm, dass, was er bei Mbembe als
eine Nähe zu »Michel Foucault und Gilles Deleuzes Dekonstruktivismus« ausmachen
will. Türcke verweist hier auf Foucaults Kritik der Diskursformen, die er als
nominalistischen Akt deuten will, als Tendenz einer Debatte rein im Medium der
Sprache, die von den real stattfindenden kapitalistischen Verhältnissen ablenke.
Darin erkennt er auch ein Muster aus der Genderdebatte wieder.
Türcke will damit an Foucault kritisieren, dass dieser sich auf die Ein- und
Ausschließungsmechanismen des Diskurses fokussiere und nicht auf die Genese des
Kapitalismus, dem es um Profit ginge, egal wie. In dieser Linie stünde ein
Kapitalismus, der sich historischen auf Sklaverei und Rassismus gegründet habe.
Dass nun die Schwarzen heute bei Mbembe zum neuen Subjekt der Geschichte werden,
hänge vielmehr mit den Praktiken und neuen Verkehrs- und Arbeitsformen der
mikroelektronischen Revolution, die die festgefahrenen Kapitalstrukturen in
diverse umgewandelten. Einzig und allein aus diesem Grund würden auch heute mehr
Frauen beschäftigt. Diese neue Tendenz stünde auch hinter der sogenannten
Diversity Charta führender Unternehmer, wo es heißt: »Wir können
wirtschaftlich nur erfolgreich sein, wenn wir die vorhandene Vielfalt erkennen
und nutzen«. Das Copyright für diese Charta
liegt übrigens bei den United Colors of Benetton
Black
lives matter und neue Hierarchien im postkolonialen Denken
Wenn Achille Mbembe also
»die Farbe Schwarz neu denken« wolle, so besitze das etwas von einer einfachen
Verkehrung:
»Weiße dürfen hier nicht an
vorderster Front mitreden, ohne in kolonialistisches Verhalten zurückzufallen –
was umgekehrt heißt: argumentative Selbstevidenz gibt es nicht. Richtige
Gedanken werden erst dadurch richtig, dass die Richtigen sie äußern: die am
meisten von Rassismus Betroffenen. Volle Urteilskraft, volles Rederecht haben
nur sie. Alles andere ist Bevormundung. Das ist eine der Grundüberzeugungen des
Postkolonialismus.«
Der Führungsanspruch
dieser schwarzen Vernunft wird von Türcke verglichen mit dem zionistischen
Bekenntnis, einem auserwählten Volk anzugehören, das in dieser Hinsicht
außerhalb des Diskurses stünde. Aber unter säkularen demokratischen
Verhältnissen greife diese rhetorische Figur nicht. Diese Verbindung über einen
ähnlichen hypostasierten Anspruch sei wichtiger als der Antisemitismus, der
Mbembe anlässlich seiner Äußerung zur Ruhrtriennale vorgeworfen wurde.
(S.73, Fußnote 55). Denn das Verhältnis zwischen den einzelnen marginalisierten
Gruppen im melting pot der Dreißiger- und der great society der
Sechzigerjahre in den USA, aber auch in Europa und anderswo sei unklar und
konkurrierend: Indigene, Chinesen, Juden, Osteuropäer, Latein und Südamerikaner,
Sinti und Roma, Sorben und Schwarze. Ihr jeweils kulturelles Feld ist die Ebene
der Auseinandersetzung. Sozialforschung und Universität kommt den Juden
entgegen, Musik, Sport und Pop-Kultur den Schwarzen. Der immer häufiger
anzutreffende fundamentalistische »Afropessimismus« aber sei hier eine neue
Variante, die den Weißen abspreche, überhaupt das Problem zu verstehen und über
diese Dinge zu sprechen.
Eine ähnliche Ambivalenz wirke auch im Begriff der Xenophobie. Xenos
heißt im Griechischen der Fremde, die Fremde und das
Fremde, aber auch der Gast und der Gastfreund. Xenophobie
heiße dann Angst vor dem Fremden, sie sei als solche per se nicht
fremdenfeindlich und eigne sich nur zu einem entsprechenden moralischen Vorwurf,
wenn man naiv denke:
»Die antirassistische
Attitüde ist ins Kraftfeld jener beiden tiefenseelischen Mechanismen gebannt,
die bei Freud Verneinung und Verschiebung heißen. Darüber hinaus führt erst die
Einsicht, dass niemand ganz frei von Xenophobie ist und wir alle deren
Durcharbeitung nötig haben.«
(S. 90)
Gender
und Ungerechtigkeit
Nach den
historischen Exkursen kommt Tücke im letzten Teil seines Textes wieder zurück
zur Genderdebatte, wenn er von der Unmöglichkeit der gerechten Sprache und dem
»neuen deutschen guten Ton« handelt:
»Die Gleichsetzung von
Gerechtigkeit mit paritätischer Gleichstellung hat eine mentale Tiefenwirkung,
von der sich in der Gleichstellung der Frauen nur die ersten zarten Anfänge
zeigen. Bekanntlich ist sie mit der Durchsetzung einer »geschlechtergerechten«,
will sagen, paritätischen Sprech- und Schreibweise verbunden, die im Deutschen
mit seiner stark ausdifferenzierten Deklination besonders hoch aufgeladen ist.
Dass man das weibliche Geschlecht missachte, wenn man es nicht überall
ausdrücklich erwähnt, wo es beteiligt ist, gehört seit einigen Jahren zum guten
deutschen Ton. Es gilt als unhöflich, von einem Fußgängerüberweg, Rednerpult,
Lehrerkollegium zu sprechen, ohne eigens die Fußgängerinnen, Rednerinnen,
Lehrerinnen zu nennen. Als fehlte den Frauen das Abstraktionsvermögen, auch ohne
diese Zusätze zu bemerken, dass sie genauso den Überweg und das Pult nutzen
können und dem Kollegium zu gleichen Konditionen angehören wie Männer. Ob es
schmeichelhaft für Frauen ist, ein solches Abstraktionsdefizit unterstellt zu
bekommen; ob ersprießlich, wenn ihnen jede Sondernennung ihres Geschlechts
erneut vorführt, dass die weiblichen Endungen gewöhnlich Ableitungen von
männlichen sind, ganz nach dem biblischen Muster, wo Eva Abkömmling von Adam
ist; ob es dem Sprach-, Gedanken- und Lesefluss guttut, wenn er ständig durch
Hinzufügung weiblicher Formen unterbrochen wird; ob es geschlechter-gerecht ist,
wenn der bestimmte weibliche Artikel »die«, der im Plural auf Maskulinum und
Neutrum übergreift (die Männer, die Kinder), dem männlichen
Geschlecht gar keine eigene Pluralform einräumt? Schon das bloße Stellen solcher
Fragen erhöht umgehend den Blutdruck.«
(S. 93-94)
Was Türcke richtig
anprangert ist der »Rückbau der Sprache auf ethnozentrisches Niveau, auf
Clankommunikation.« Das werde mittlerweile durch die neoliberale
Weltgesellschaft gestützt:
»Und so avanciert die »Rassismus«-Bekämpfung
zu einem weltweiten Projekt, an dem von der UNO, der EU und den liberalen
Nationalstaaten bis hin zu Großkonzernen und Fußballvereinen alles beteiligt
ist, was Rang und Namen hat. Die Stimmführer der neoliberalen Welt bekommen das
Ansehen von Revolutionsführern, die im Namen der Diversity Charta dem
Weltmissstand Nummer eins zu Leibe rücken. So wird die globale kapitalistische
Welt tatsächlich umgewälzt, aber neoliberal. Ihre internetgestützte Umwälzung
ist zugleich eine Rolle rückwärts. Die paritätische Abbildung der Gesellschaft
in allen Parlamenten, Institutionen und Gremien führt zurück zu
vorbürgerlichen, lobbyistischen Vertretungsformen von clanähnlichen Gruppen. Je
antirassistischer deren Einstellung, desto eher neigen sie zu dem Verdacht, der
Antirassismus ihrer Mitbewerber um volle Sichtbarkeit, Zuwendung und
Finanzierung lasse zu wünschen übrig, gestatte weiterhin latentes Mobbing,
vernachlässige geschlechter- und minderheitensensible Verhaltens- und
Sprechweisen und hintertreibe die Vereinigung der Antirassisten aller Länder,
statt sie zu fördern.«
(S. 106)
Skandale
und erhöhter Blutdruck
Türckes Buch ist
irritierend für Menschen, die es nicht gewohnt sind, in seinem spezifischen
dialektischen Horizont zu denken. Zu diesem gehört bei ihm der Protestantismus,
Kant und die kritische Theorie, ein wenig auch Habermas. Das schürt naturgemäß
bereits bei trivialen Fragen Emotionen, geschweige denn bei solchen, wo Herzblut
vergossen wird. Unvergessen ist dem Rezensenten in diesem Sinne ein Auftritt der
undogmatischen Publizistin Barbara Sichtermanns vor der feministischen Gruppe
der frühen Grünen in Bremen Anfang der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts.
Auch Barbara Sichtermann entwickelte ihren Gedanken zum Thema Weiblichkeit
dialektisch; sie stellte eine These auf und anschließend eine Gegenthese.
Beides führte mittendrin zu heller Empörung im Publikum, das selbstgewisse
Klischees erwartete. Da half es auch nicht, dass eine spätere grüne
Europa-Abgeordnete mahnte, man solle doch die arme Referentin nicht angehen,
bevor sie ihren Gedanken zu Ende entwickelt habe. Der Hinweis ging im Getümmel
unter, Stühle fielen um und die Hälfte des Publikums rauschte empört aus dem
Saal. Der Rest blieb ebenso ratlos zurück, wie heute vermutlich Leserinnen und
Leser der mit spitzem Bleistift und Finger geführten Argumentation Türckes. Das
Publikum bevorzugt stattdessen oft genug einen groben Agitprop-Pinsel oder will,
um im zeitgenössischen Bild zu bleiben, mit einer dicken Düse ihre Parolen an
die Wand sprayen.
Wer bin
ich, wenn ich sage: Ich bin, wer ich bin?
Die sprachlichen
Ordnungsmaßnahmen gegen die Hysterie der Verneinung und der Reaktionsbildung
verbleiben nur an der Oberfläche des Problems. Dass die verschiedenen Welten von
Männern und Frauen sehr viel differenzierter als in instrumentalisierten Parolen
und eindimensionalen Identitäten betrachtet werden müssen, zeigen die Essaybände
von Christa Bürger und anderen.
Christoph Türcke schreibt ebenfalls gegen die neue Ungerechtigkeit und den neuen
Dogmatismus derjenigen an, die glauben, sie seien a priori im Recht, weil sie
angeblich mit ihrer diversen Identität im Reinen wären. Man muss nicht mit den
Moskauer Prozessen wedeln, um darauf hinzuweisen, dass solche »Revolution« auch
in der Lage ist, ihre Kinder zu fressen. Türcke selbst berichtet über eine
ähnliche Erfahrung in einer Diskussion innerhalb der Linken von 1993. Diese kann
man vielleicht als eine wichtige Keimzelle für sein Beharren in dieser Debatte
ansehen.
Auch diese neuen Avantgarden – nennen Sie sich nun selbst linksradikal,
identitär, divers, transhuman oder afropessimistisch – sind von dieser Dialektik
nicht unbeleckt. Dass die Grünen, wie Türcke am Schluss aufführt, im Bundestag
ein Gesetz eingebracht haben, wonach es ab 14 Jahren jeder und jedem erlaubt
sei, sich seinen Namen selbst zu wählen und zugleich die Geschichte der
Metamorphose von Transgenderpersonen gelöscht werden soll, ist frappierend.
Darin erkennt man tatsächlich die einfache Umkehrung des »Rassenachweises bis
ins dritte Glied« der Nazis. Identität ist eine ideologische Kategorie, ein
Prokrustesbett, in dem nun auch chirurgisch gekürzt wird, was zu lang und längt,
was zu kurz sein soll. Solche Biopolitik will den Tod – auch des alten
Geschlechts – nehmen und ein neues geben. Dem Wunsch einer Erfindung einer
germanischen rassischen Identität entspricht derjenige nach einer Löschung der
unliebsamen Nichtidentität im Namen der hypostasierten und falschverstandenen
Autonomie eines »I am what I am«. Les extrêmes se touchent. Wirkliche
Emanzipation sieht anders aus.
Artikel online seit 30.10.21
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Christoph
Türcke
Quote, Rasse, Gender(n)
Demokratisierung auf Abwegen
zu Klampen
120 Seiten
14,00 €
9783866748101
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