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Reflexionen über unser
Gewordensein
Von Gregor
Keuschnig |
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2018 beeindruckte der 1958 geborene Kulturwissenschaftler, Kabarettist, Theaterregisseur und Schriftsteller Steffen Mensching mit dem dokufiktionalen Roman "Schermanns Augen". Ein fiktiver deutscher KPD-Anhänger, der in der Sowjetunion lebte, gerät Anfang der 1940er Jahre in die stalinistische Säuberungsmaschine und wird wegen "konterrevolutionär-trotzkistischer Tätigkeit" zu zehn Jahren Haft in einem Arbeitslager verurteilt. Dort begegnet er dem Gedächtniskünstler, Hellseher und Handschriftendeuter Rafael Schermann, eine Person, die tatsächlich existierte und in einem Lager eingesperrt war. Im Buch werden nicht nur der Lagerkosmos mit seinen bisweilen brutalen Konsequenzen geschildert. Es wird auch ein Lebensbild dieses vollkommen unpolitischen Schermann erzählt, der einfach nur seine Salon- und Varieté-Vorführungen fortsetzen wollte und durch Krieg, Antisemitismus und Verfolgung alles verlor. Tatsächlich ist das Schicksal von Schermann bis heute nicht geklärt. Mensching hat nun etwas gemacht, was man nach diesem opulenten und vielschichtigen Roman nicht unbedingt erwartet hätte: Er veröffentlicht ein 100seitiges Buch mit 94 Gedichten. Das längste Gedicht – vermutlich Inspiration für das wirklich schöne Cover - heißt "Himmlische Botschaft", steht direkt am Anfang und umfasst fünf Seiten. Es ist nicht mehr als eine Warnung an die Außerirdischen, die die kunstvollen Botschaften, die man 1977 zusammen mit den Raumsonden Voyager 1 und 2 in den Weltraum abgeschickt hat, lesen und verstehen sollten. Fast scheint es so als habe der Warner eine gewisse Sehnsucht an die dargestellte Welt (die ja im Laufe der Jahrzehnte längst eine ganz andere geworden ist), aber der Ratschlag an die Aliens ist eindeutig: Falls sie sich auf den Weg gemacht haben sollten sie besser "vorbeirasen", sofern sie "vernunftbegabt" sind. Nur stellt sich die Frage, wer ihnen jetzt Menschings Gedicht nachschickt. So wird die dominierende Tonlage vorgegeben. Leicht aber nie seicht, weltzugewandt, manchmal idealistisch, aber nie utopisch. Es gibt Gedichte mit heiterer Melancholie wie etwa über einen Einbeinigen:
"Der
einbeinige Alte
Oder diesem
Mann, der jedem einen "Guten-Morgen-Schön" wünscht:
Nachdenklich
geraten die ersten, tastenden Lebensbilanzen. Beispielsweise mit der
Feststellung, dass es inzwischen mehr tote Freunde als noch lebende. Mensching
findet hierfür eine unprätentiöse Sprache, fern von jeder Klage. Exemplarisch
dafür steht das kurze Gedicht "Miłosz" (nach dem großartigen polnischen
Dichter): Bedrohlicher als der "Schnupfen in Marina di Ragusa" sind da schon die Herzschmerzen auf der Autobahnfahrt, die das Anhalten verlangen. Später erfährt man von lachenden Sargträgern in Sardinien (eines der schönsten, stimmungsvollsten Gedichte) Bisweilen kommt das lyrische Ich nahezu altersweise daher, schreibt einen Brief an seinen Ur-Ur-Ur-Enkel. Oder entdeckt in "Leibesvisitation", als er womöglich zum ersten Mal seinen Körper insgesamt als existent wahrnimmt und versöhnlich endet:
"Mein Körper
und ich, wir lebten Es gibt sogar eine Eloge auf den Fortschritt, der das Unvermeidliche erträglich macht:
"[…] Früher Dazu passt das fast stoische Bekenntnis zur Langeweile und die Erinnerung
"an eine Zeit,
als mir die Zeit
Spielerisch,
nur sanft verklärend vereinzelte Reminiszenzen an die ostdeutsche
Literaturszene, an einen Heiner Müller im März 1982, der einmal, als er putzte,
wie ein Selbstmörder aussah. An die Zusammenkünfte mit den Kollegen, zu
DDR-Zeiten. Und es gibt einen "sportlichen Gruß" an Christa Wolf, mit der es
wohl einen Urheberrechtsstreit gab.
Auch hier ist
das spielerisch, aber nie unernst, ohne Pathos, und, auch wenn mir der Begriff
nie gefällt, so soll er doch hier ausnahmsweise einmal genannt werden, weil er
zutrifft: mit einem Augenzwinkern. Selbst wenn es um die Villen der Reichen geht
mit Kaufpreisen "lang wie Telefonnummern", ironisiert sich das Ich selber als
verkappten Klassenkämpfer. Höchst amüsant auch noch das Gedicht, wie man eine
Bank betreten soll.
"[…] Ja, es gibt sie auch, wenige, alptraumhaften Szenarien. Eine Flut in Łódź etwa oder das Titelgedicht von der "Brandung des Traums". Auch der "Shitstorm Blues" basiert vermutlich auf einem unangenehmen Erlebnis. Ein bisschen Klassenkampf findet sich auch. Der Zeitraum der Entstehung der Gedichte, der aus ihnen hervorgeht, liegt zwischen 2012 bis 2020. Mit "Osterspaziergang Zwanzig Zwanzig" beweist Mensching, dass die literarische Verarbeitung der Corona-Pandemie nicht in Larmoyanz ersticken muss, sondern bei aller Demut vor den Ereignissen auch ein Quantum Zuversicht enthalten können.
"Auf Grund der
Lage
So lautet der
letzte Vers im einzigen Reimgedicht, der den Band beendet.
Gerhard Falkner, einer der profiliertesten und leidenschaftlichsten
Lyrikförderer im deutschen Sprachraum definiert das ideale
Gedicht als "eine der letzten Bastionen der Langeweile", die den Leser
fordern muss. "Man soll über die Schwierigkeiten eines Gedichts staunen, nicht
verzweifeln", so Falkner in einem Aufsatz. Langweilig sind Menschings Gedichte
nun wirklich nicht, und der Leser ist geneigt, dies nicht als Fehler zu
begreifen. Auch von Leseschwierigkeiten kann ich nicht berichten. Aber, und da
schließt sich der Kreis, man kommt stellenweise trotzdem (trotzdem? geradewegs!)
ins Staunen, ja sogar Wundern. |
Steffen Mensching
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