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Nichtstun oder Mit Oblomow im Lockdown |
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»Warum
konnte mein Leben, eines Namenlos im namenlosen Vorort, mit dem Durchmessen der
Gegend untertags, dem abendlichen Tüfteln und Wörtersonnenbetrachten, dem
mitternächtlichen hochaufgerichteten Dasitzen, samt kleinem ruhigen Schläfer,
bei dem ich ein leichtes Wächteramt versah, nicht auf Dauer so weitergehen?« I Unter dem Hashtag #besonderehelden hatte die Bundesregierung vor rund einem Jahr, im Spätherbst 2020, mehrere Videos in den Sozialen Medien lanciert, um die Menschen anzuhalten, in Zeiten der Corona-Krise nach Möglichkeit die eigenen vier Wände nicht zu verlassen. Eine Ausbreitung des Virus sollte so verhindert werden. Die politische Botschaft lautete: Nur indem wir nichts tun, können wir dafür Sorge tragen, dass die Bekämpfung der Pandemie glückt. Die ältere Generation berichtet in den Videos rückblickend über das Jahr 2020: »Unsere Couch war die Front. Und unsere Geduld war unsere Waffe … So wurden wir zu Helden«. Es sei das Schicksal der Menschen der damaligen Zeit gewesen, entgegen den eigenen Bedürfnissen zu Hause zu bleiben. Das Video endet mit dem Aufruf: »Werde auch du zum Helden und bleib zu Hause.« Stay home – der Slogan wurde zum Markenzeichen jener Kampagne, die die Menschen dazu aufrief, soziale Kontakte radikal einzuschränken, um sich und andere »in Zeiten der Ansteckung« (Paolo Giordano) zu schützen. II Vor Kurzem hat das Künstlerkollektiv »Zentrum für politische Schönheit« diese Kampagne wiederaufgegriffen, als sie erst mehrere Tonnen AfD-Werbematerial einsammelte, doch anders als das vom Kollektiv gegründete Unternehmen »Flyerservice Hahn« versprach, das Material nicht etwa an mehr oder minder interessierte Bürger auslieferte, sondern: nichts tat – und die AfD-Werbung am Ende in den Müll schmiss. Im Werbespot der Aktion wird #besonderehelden parodiert: Der Held ist darin derjenige, der zu Hause auf dem Sofa abhängt und die Flyer der AfD nicht mehr anrührt. Es gibt ein literarisches Vorbild dieser #besonderehelden-Idee: Im langen zweiten Lockdown 2020/21 habe ich Iwan Gontscharows Klassiker »Oblomow« wiedergelesen. Die Urfassung erschien bereits 1859, Gontscharow hat den Roman jedoch mehrmals überarbeitet. Der Protagonist des Romans, Ilja Iljitsch Oblomow, ist die Verkörperung jenes besonderen Helden, der sich in seine eigene Welt zurückzieht, seinen Tagträumereien nachgeht und Pläne schmiedet, die nie verwirklicht werden. Gontscharow charakterisiert ihn wie folgt: »Oblomow, Adliger von Geburt, dem Rang nach Kollegiensekretär, lebte schon das zwölfte Jahr ohne Unterbrechung in Petersburg. Anfangs, als seine Eltern noch am Leben waren, hatte er beengter gewohnt …; nach dem Tode von Vater und Mutter aber war er alleiniger Besitzer von dreihundertfünfzig Seelen geworden, die er in einem der entlegenen Gouvernements, fast schon in Asien, geerbt hatte« (Gontscharow 2012). Dieses Erbe erlaubt ihm eine Zeitlang den Müßiggang, doch schon bald beginnt der Verfall von Hab und Gut einerseits, seiner Persönlichkeit andererseits. III Darf man diesen »besonderen« postheroischen Helden, der sich in Selbstisolation begibt, Verzicht übt und seine sozialen Kontakte abbricht, um höhere Werte und Ziele zu verfolgen, die der Allgemeinheit dienen, darf man einen solchen Helden mit den Folgen seiner Geisteshaltung konfrontieren? Kann die »Oblomowerei« (dem japanischen Hikokimori oder dem chinesischen Tangping ähnlich) als »Triumph der Trägheit« (Stefan Zweig) in Zeiten der Ansteckung als Vorbild dienen? Der Appell, sich ins Eigene zurückzuziehen, hat zumindest ambivalenten Charakter, bedenkt man etwa nur die Situation von Flüchtlingen, Strafgefangenen und Obdachlosen, aber auch die psychosozialen Folgen der Selbstisolation. Dies wirft die übergeordnete Frage auf: Sind nicht alle Vorbilder von einer tiefgreifenden Ambivalenz charakterisiert – je nachdem, in welchem Kontext und aus welcher Perspektive man auf sie schaut? IV »Werde zum Menschen; werde allumfassend in deiner Erkenntnis; werde gottähnlicher; bleibe im Bett«, schreibt Tom Hodgkinson in »Anleitung zum Müßiggang«. Das lebt Gontscharows Oblomow vor, der mit seinem Diener Sachar in ewigem Streit lebt. Sachar empfängt Gäste, die Oblomow mitnehmen wollen, doch der ist zu nichts zu bewegen. Dann bricht die Katastrophe herein: Oblomow (den permanente Selbstzweifel befallen, und dessen Wohnung staubig und schmutzig ist, weil Sachar genauso faul wie sein Herr ist, dazu mürrisch und barsch) muss ausziehen und seine eigens erschaffene Welt verlassen. Doch wer so lange Zeit nur zu Hause war und nichts getan hat, kommt damit nur schwer zurecht: »Und wann soll man leben?«, fragt sich Oblomow – gerade so, als wäre das noch ein Leben, das er da führt. V Die ἀκήδεια (acedeia), die Faulheit, gilt als die siebte Todsünde. Geistige Trägheit und eine Erschlaffung der Seele werden als Folgen der Faulheit genannt. Bosheit, Auflehnung und Groll, Kleinmütigkeit und Verzweiflung gelten als ihre Verwandten. Eine stumpfe Gleichgültigkeit gegenüber Geboten und Vorschriften, das Ausschweifen des Geistes in Richtung des Unerlaubten, Ablenkung und Zerstreuung nennt auch Thomas von Aquin in seiner Summa Theologica als Frucht der Faulheit. Demgegenüber galt die ἀταραξία (Ataraxia), die Seelenruhe und Gelassenheit, schon den Stoikern und dem Kyniker Diogenes von Sinope als höchstes Ziel menschlichen Daseins. Und auch Philosophen wie Bertrand Russell sprachen sich für den Müßiggang aus. Die Literatur ist, das hat Agatha Frischmuth in ihrer Dissertation »Nichtstun als politische Praxis« (2021) herausgearbeitet, voll von Phlegmatikern und Flaneuren, die sich in sich zurückziehen und wie Melvilles »Bartleby« unterstreichen, sie mögen lieber nichts tun. Zuletzt hat sich Jenny Odell dafür stark gemacht, um sich der »Aufmerksamkeitsökonomie« zu entziehen. Oblomows Seelenruhe wird aber nicht nur von der Notwendigkeit gestört, die Unterkunft zu wechseln, sondern auch von seiner großen Liebe Olga. Da Oblomow jedoch so viel Glück nicht fassen kann und auch nicht versteht, dass jemand wie Olga ihn lieben kann, lässt er sie zurück und verfällt abermals in einen Zustand des Nichtstuns. VI John Lennon und Yoko Ono lagen zwar auch eine ganze Woche lang im Bett und taten nichts, doch verglichen mit Oblomow ist das wirklich nichts. Selbst zur Untätigkeit verdammt, wächst einem ja jemand wie Oblomow durchaus ans Herz. Kaum ein Roman spiegelte die Situation während des Lockdowns so gut wider wie dieses Stück Weltliteratur. Schaut man sich aber an, was aus Oblomow wird, wie er degeneriert und in sich zerfällt, so möchte man – verständlicherweise – lieber kein #besondererheld sein. Es ist ja auch problematisch mit dem Nichtstun, wenn trotz der Gefahr der Ansteckung verlangt wird, in bestimmten Bereichen weiterhin handlungsfähig zu bleiben. Jan Böhmermanns satirische Parodie der #besonderehelden-Aktion der Bundesregierung macht das deutlich: Da ertrinken Menschen, die übers Mittelmeer fliehen, und ein älterer Herr sagt rückblickend, dass er damals, während Corona, als alle zuhause bleiben sollten, zu einem #besonderenhelden geworden ist, weil er nichts tat. Denn es sei ja nicht sein Schicksal gewesen, sondern das von Wirtschaftsflüchtlingen.
Das wirft uns abermals auf Oblomow zurück: Wann ist wieviel von dessen Seele in
uns wirksam? Und was bewirkt das? |
Iwan Gontschwarow
Tom Hodgkinson
Jenny Odell
Bertrand Russell
Hermann Melville
Byung-Chul Han
Philosophie Magazin Sonderausgabe
Samuel Beckett
Billy Ehn/Orvar Löfgren Nichtstun
Ulrich Schnabel
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