Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Heidegger in der Frisco Bay

Jenny Odell und das Prinzip
»Nichts tun« als Akt des politischen Widerstands

Von Peter Kern

 

Mendocino, ein utopisches, vom deutschen Schlager einmal besungenes Nirgendwo, das nicht halten kann, was es verspricht, wird in diesem Buch noch einmal zum Emblem. Hier in Kalifornien ist ein Unternehmen zuhause, das Therapien der digitalen Entwöhnung anbietet und als Digital Detox firmiert. Was die Entwöhnungskur veranlasst, gibt diesem Buch seinen Gegenstand. Es handelt von der schwer zu entkommenden Aufmerksamkeitsökonomie. Das ist keine neue Ökonomie, sondern die ganz hundsgemeine, aber mit einem von Twitter et altera erzeugten Effekt. Die sozialen Medien - von denen niemand weiß, warum sie sozial heißen - absorbieren so viel Aufmerksamkeit, dass für die Besinnung nichts mehr übrigbleibt. Die genannte Firma verkauft ihre Entgiftungs-Dienstleistung den Konzernen des nahegelegenen Silicon Valley, die sie wiederrum ihren Angestellten verordnen; denn permanent twittern und die eigene, die Personal Brand umsorgen statt die ihres Konzerns, kann nicht angehen. Schlägt die Kur von Digital Detox an? Die Autorin hat ihre Zweifel.

Achtsamkeit - der Buchmarkt ist überschwemmt mit Ratgebern, die dieses Reizwort im Titel tragen und auch die Autorin empfiehlt sie. Aber wo die einschlägigen Bestseller ein Zähnezusammenbeißen ob der täglichen Überforderung anempfehlen, empfiehlt sie eine politisch betriebene Remedur.

Was hilft, wenn die im Job verbrachte Zeit die Lebenszeit auffrisst und die Freizeit zum Regenerieren nicht ausreicht, weil die Kinder an einem zerren und das vorgeschriebene Konsumniveau gehalten werden will und der Kredit fürs Häuschen und für den Mini zum Abi noch unendlich lange läuft? Hilft Pilates beim Runterkommen oder Power-Yoga oder Qi Gong? Würde nicht eher geregelte Arbeitszeit helfen? Die Autorin plädiert ganz unzeitgemäß für letzteres.

Der Alltag der Angestellten mit seiner Überforderung verläuft diesseits und jenseits des großen Teichs ziemlich ähnlich; wir haben schließlich Globalisierung. Hier wie dort muss sich der Mensch viel gefallen lassen, denn ihm wird gedroht: Dein Job? Der lässt sich locker verlagern und dann macht ihn ein indischer Medizintechniker und der kostet ein Viertel von deinem üppigen Salär. Also kusch!

Es ist eine Ironie, dass man muss Bücher aus Frankreich (wie Abschied von Reims) oder wie dieses aus den USA lesen muss, um zu erfahren, was sich in Deutschland abspielt. Wie es z. B. im Swinger Club zugeht, darüber gibt es Reportagen; aber es gibt keine über den Alltag der Bevölkerungsmehrheit.

Das Buch hält die Mitte zwischen einem Sachbuch, einem literarischen Werk und einem Manifest. Solche Texte sind für oppositionelle Individuen, die sich zu einer sozialen Bewegung sammeln wollen – und für ein solches Publikum schreibt die Autorin - unverzichtbar. In deutschen Landen sind solche Bücher Mangelware. Hier dominiert die Generation-Golf-Literatur. Ein bisschen klug, ein bisschen witzig, nur nicht zu viel, damit die Sache nicht in Kritik umzuschlagen droht.

Gegen das Buch von Jenny Odell ließe sich einiges einwenden. Was soll das sein, Aufmerksamkeitsökonomie? Das Wort macht aus einem Zweiten ein Erstes. Amazon, Instagram und Twitter wünschen sich eigentlich Konsumenten, die reflexartig die Ware bestellen und per PayPal bezahlen. Den sogenannten Content, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht, den liefern sie nur, weil der Mensch nun mal anthropologisch mit Lüsten und Sinnen ausgestattet ist, die zu ihrem Recht kommen wollen. Die Anthropologie lässt sich instrumentalisieren; die Kritik der Warenästhetik weiß davon. Dieser Begriff ist jedoch verlorengegangen, und was für das Buch spricht, ist der Versuch, ihn literarisierend zu rekonstruieren. Es empört sich über die Enteignung menschlichen Sinnvermögens. Das ist allemal mehr als der ganze Antikapitalismus auf Sarah-Wagenknecht-Niveau.

Die US-Amerikaner haben durchschnittlich zehn Tage Urlaub im Jahr, an sechs gesetzlichen Feiertagen bekommen sie Geld- wenn das Unternehmen denn zahlt. Da bleibt wenig Zeit für das Nichtstun, das dem Buch den Titel gibt. Der auskömmliche Nine to Five-Job hat in den Vereinigten Staaten das miserable Ansehen, das ihm die große Koalition der Tüchtigen hierzulande gerade verschafft. Gewerkschaften, die sich dagegenstemmen, sind in den USA beinahe out of time; in der Bundesrepublik gelten ihre Tarifverträge nicht einmal mehr für die Hälfte der Beschäftigten. Nehmen die USA noch immer Entwicklungen vorweg, die für Europa prägend werden? Es ist zu befürchten.

Die Arbeitszeit zu verkürzen, nannte Karl Marx einen Sieg des Prinzips. Die Verkürzung auf den Zehnstundentag war gemeint, womit die organisierten englischen Arbeiter bewiesen, dass sich ihr Emanzipationsprinzip erfolgreich gegen die vermeintliche Eigengesetzlichkeit der Ökonomie setzen lässt. Das war vor 150 Jahren geschrieben. Der Fortschritt besteht nun darin, dass der Zehnstundentag für die unorganisierten Angestellten wieder längst zur Tagesordnung gehört. Den geschwächten Gewerkschaften gelang es nicht, diese Rückentwicklung zu verhindern.

Die Autorin eröffnet ihr Buch mit einem Benjamin-Zitat aus den geschichtsphilosophischen Thesen. Ihr Tigersprung ins Vergangene gilt San Franciscos Dockarbeitern, die sich in den 30er Jahren ihr Recht auf Koalition und kollektiven Vertrag erstreiten. Zwei der ihren werden während des Streiks von der Polizei erschossen. Den Gang auf den Friedhof tritt eine kleine Trauergemeinde an, der sich urplötzlich Tausende anschließen. „Da kamen sie, so weit das Auge reichte, in einem schweigenden, geordneten Marsch“ zitiert die Autorin den örtlichen Chronicle. „Wo kamen die Leute her, wo hatte San Francisco sie versteckt…?“ Tags darauf legen 50 Tausend Menschen in der ganzen Bay-Area ihre Arbeit nieder.

Die stärksten Passagen des Buchs widmen sich der Vergangenheit, aber nicht als historischem Zierrat, sondern weil die Autorin wissen will, wie sich eine soziale Bewegung formiert. „Wichtig ist…, dass dies keine Formation ist, die sich von oben nach unten durchsetzt“, schreibt sie. „Ein gegenseitiges Einvernehmen zwischen Individuen, die denselben Dingen und auch einander höchste Aufmerksamkeit widmen,“ sei unabdingbar.

Ausführlich handelt sie von der Organisationslogik des Civil Rights Movement, das die Apartheitsgesetze zu Fall brachte. Wie hat sich das Movement gebildet? Es hat sich konzentrisch ausgebreitet. Zuerst umfasst es den kleinen, beinahe nur von der Familie Martin Luther Kings gebildeten Kreis; dann versammelt sich ein Handvoll Aktivisten in einer Kirche; darauf folgt die erste, öffentliche Versammlungen; der Aufruf, die Busse Montgomerys mit ihrer rassistischen Sitzordnung zu boykottieren, bringt erfolgreich die schwarze Community ins Spiel; die streikenden Müllarbeiter unterstützen den Boykott; der Marsch auf Washington steht am Ende einer sorgfältig geplanten Kaskade unterschiedlichster Aktionsformen.

Das in diesem Buch propagierte Nichtstun steht also im Dienst eines politischen Aktivismus. Den droht die Aufmerksamkeitsökonomie zu untergraben. Ihr setzt die Autorin eine Art Säubern der mentalen Festplatte entgegen. Den Mahlstrom von Twitter gälte es trocken zu legen. Sie zitiert Shakespeares Othello: „“Laß mich ein wenig nur mit mir allein.“ Das Recht auf Einsamkeit, die große Verweigerung, das erinnert an Herbert Marcuse, den Mentor der Studentenrevolte.

Der von Jenny Odell formulierte Protest ist ästhetisch motiviert; auch dies verbindet ihn mit den Motiven der Revolte. Sie ist angewidert von unwirtlichen Städten, verwüsteten Landschaften, riesigen Parkplätzen, sauber beschnittenen Bäume, der ganzen zu Malls und Büroparks verschandelten Welt. Kunstwerke, vor allem per Photoshop entstandene Collagen, sind ihr die Gegenwelt. Es ist ein genaues, begreifendes Hinsehen, das sie an diesen Werken schult. Die ästhetische Erfahrung hilft ihr, materielle Gegenstände so zu erfassen, dass sie in ihrer Funktionalität und Beherrschbarkeit nicht aufgehen.

Die Funktionalität in dieser Welt umfasst Objekt wie Subjekt. Letzteres soll sein eigenes Abziehbild werden, zum Muster seiner von künstlicher Intelligenz ausgespähten Vorlieben und Gewohnheiten, zum Konsumenten all der Dinge, die der findige Algorithmus für es als passend entdeckt hat, schreibt die Autorin. Das schmilzt dich, so schreibt sie weiter, zu deinem eigenen Archetypus ein. Sie findet schöne, aus dem beobachteten Alltag geschöpfte Bilder für diese Zurichtung. So das von dem auf Altherrenrock festgelegten Nachbarn, dem Spotify nie mehr im Leben mit einer Bach-Kantate kommen wird.

Vögel beobachten, ist ihr das Gegenteil des Nomadisierens im Internet, und man versteht den Impuls. Aber der Leser versteht ihn nur halb, denn sobald sie auf die äußere Natur zu sprechen kommt, kippt ihr Text von der Politologie in die Ornithologie um. Vogelkunde – okay, warum soll der Mensch kein Hobby haben? Jenny Odell hat aber kein Hobby, sondern eine Philosophie, an der sie den Leser teilhaben lässt. Wenn sie von den beobachteten Raben, Rotkehlchen, Goldzeisigen, Pelikanen und Spechtmeisen spricht und dabei die Linnésche Taxonomie benutzt, will sie dem Nominalismus entgehen, der der Tier- und der Menschenwelt ihr Wesen abspricht und beides auf seine Funktion reduziert. Die Reduktion des Gegenständlichen, der res, auf ein Zeichen, ein signa, macht den Nominalismus aus, der am Anfang der modernen, nachmetaphysischen Philosophien steht. Über das Human Being nachzudenken, dem, was dem sprechenden Tier unveräußerlich zukommt, ist unverächtlich, auch wenn es in Opposition zum philosophischen Mainstream steht.

Odells Kritik des Szientismus landet aber bei einem Naturmystizismus, der vorgibt, wie weiland der Heilige Franziskus, mit den Vögeln zu reden. Es raunt dann der Bach, es spricht die Seele des Baums, es murmelt der Wüstenlavendel, und das unverfälschte Wahrnehmen, das den Indigenen eigen sein soll, darf auch nicht fehlen. Das ist Kitsch as Kitsch can, schlechte Metaphysik im Dienst der guten, ökologischen Sache. In der unverfälscht wahrgenommenen Realität findet dann, wenig verwunderlich, wieder echte Begegnung statt. Heidegger in der Frisco Bay.

Eine soziale Bewegung, der die Kraft fehlt, der intellektuellen Regression zu widerstehen, wie will die den gesellschaftlichen Verhältnissen Widerstand leisten? Jenny Codell schwächt ihr Manifest, indem sie es aufbläst. Wenn sie den unverständliche Worte murmelnden Wüstenlavendel endlich verstanden hat und seine Weisheiten dolmetscht, wird sie das als Sektiererin tun.

Artikel online seit 18.08.21
 

Jenny Odell
Nichts tun
Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen
C. H. Beck
296 Seiten
24,- Euro

Leseprobe & Infos

 

 


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