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Politische Melancholie

Susanne Kerckhoffs »Berliner Briefe« sind Momentaufnahmen der deutschen Befindlichkeit kurz vor Gründung der beiden deutschen Staaten.

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Im Juni 2020 erhob die Publizistin Ines Geipel im Deutschlandfunk den Vorwurf, die Neuedition von Susanne Kerckhoffs »Berliner Briefen« verheimliche, dass die Briefe bereits 1948 erschienen seien. Auch bemängelt Geipel fehlende Informationen über Publikationen zu Kerckhoff seit den 1990er Jahren, zu denen Geipel teils selbst beigetragen hat.
Wer die Neuedition in der Hand hält, fragt sich jedoch, ob Geipel das Buch überhaupt zu Ende gelesen hat. Denn das Nachwort von Peter Graf als auch das Impressum geben sehr wohl über die von Geipel vermissten Aspekte Aufschluss. Eine so eklatante Fehleinschätzung einer »Professorin für Verskunst« muss verwundern. Auch bleibt ein kritischer Hinweis von Alexander Moritz, der das Interview mit Geipel führte, ebenso aus. Offensichtlich hatte auch er das Buch maximal bis zum letzten Brief gelesen. Über die Gründe solcher Nachlässigkeiten lässt sich nur spekulieren.

Anders verhält es sich mit Geipels Kritik an der Entpolitisierung Kerckhoffs in vielen Feuilletons. So war die Journalistin und Schriftstellerin Susanne Kerckhoff (1918-1950), Halbschwester des Philosophen Wolfgang Harich (1923-1995), entgegen einzelnen Darstellungen eine äußerst politische Denkerin. Ihre moralischen Überzeugungen und ihre Sicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse gibt sie insbesondere in den Briefen der fiktiven Verfasserin Helene, die an ihren jüdischen Freund Hans kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs schreibt, zu Protokoll.

Die Themen aus jener Zeit des Alliierten Kontrollrats in Deutschland kreisen um die Erbschaft des Nationalsozialismus, um die Perspektiven des Sozialismus, den aufkeimenden Ost-West-Konflikt, die Verantwortung gegenüber den Juden und den problematischen Lebensalltag der Nachkriegszeit.
Helenes Briefe bleiben für den Leser unbeantwortet, denn Hans' Briefe sind, auch wenn Helene über sie spricht, nicht abgedruckt. Es ist insofern ein Monolog, ein trauriger, beinahe melancholischer Monolog über die erste Zeit nach 1945. Hin und wieder mischen sich auch Verbitterung und Verzweiflung in die Texte, Orientierungslosigkeit, offene Fragen, Sinnsuche.

Wie Peter Graf im Nachwort zu Recht feststellt, ist die Qualität von Kerckhoffs Werk »von unterschiedlicher Qualität, insbesondere da, wo ihr politische Bekenntnisse scheinbar wichtiger erscheinen als ihr poetischer Gestaltungswille«. Die Berliner Briefe aber will er davon ausnehmen, denn sie verknüpften »auf sehr eindrucksvolle Weise das Private mit dem gesellschaftlich Relevanten.«
Meines Erachtens muss man diese Kritik jedoch auch auf die Briefe anwenden. Denn auch hier dominiert das Politische die Korrespondenz, die Poesie geht oftmals verloren, und das Private rückt in den Hintergrund.

Vielleicht sind diese Briefe aus diesem Grund auch vielmehr ein zeithistorisches Dokument, eine Momentaufnahme der deutschen Befindlichkeit kurz vor Gründung der beiden deutschen Staaten. So bleibt für den Leser von heute sprachlich vieles fremd, womöglich fremder als viele älteren Texte der deutschen Literatur. Man könnte die Briefe aber auch weniger unter literarischen Gesichtspunkten denn als eine Art Manifest der später 1940er Jahre lesen: »SPD? Die Sozialdemokratische Partei fischt im Trüben, ködert mit den Würmern einer rassenfeindlichen Propaganda den Ressentiment-Deutschen.« Dann wird Susanne Kerckhoff, »literarische Hoffnung des Kommunismus und Kulturressort-Chefin der östlich orientierten Berliner Zeitung«, so der Spiegel damals, gewiss auch verständlicher.
Sie nahm sich im März 1950, nach dem die SED ihr wiederholt eine »schwankende ideologische Haltung« vorgeworfen hatte, das Leben.



Artikel online seit 23.08.21
 

Susanne Kerckhoff
Berliner Briefe
Ein Briefroman
Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2020
Gebunden, 128 Seiten, 20,00 €
9783946990369

 

 


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