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Magischer Mikrokosmos

Peter Stephan Jungks wunderbares »Marktgeflüster«
nimmt uns mit auf den Marché d'Aligre in Paris

Von Lothar Struck
 

"Eine verborgene Heimat in Paris" – so lautet der Untertitel von Peter Stephan Jungks neuestem Buch "Marktgeflüster". Es sind 27 Kapitel, verwoben zu einem autofiktionalen Text (die Bezeichnung "Roman" fehlt), denn der Ich-Erzähler ist deutlich erkennbar als der Autor (auch, wenn man sicher künstlerische Freiheiten attestieren muss). Zoe, die Frau seines Lebens, nach der er nach einer kurzen, intensiven Zeit jahrelang quer über den Globus reisend sucht, dürfte Züge von Lillian Birnbaum tragen, Jungks Ehefrau.

Des Erzählers Sehnsuchts- und Heimatort ist der "Marché d'Aligre", ein Lebensmittelmarkt im 12. Arrondissement von Paris oder, wie es mehrfach heißt, im "Dorf" Aligre. Hier ist er Mensch, hier darf er's sein, hier kennt er (fast) jeden Händler, wie Hamza, der die süßesten, saftigsten und teuersten Mangos verkauft und der den Erzähler für einen Mossadagenten hält, was beide nicht davon abhält, sich zu verstehen. Da gibt es Grapefruits bei Bohumil, "Angestellter seiner uncharmanten israelischen Ehefrau", Samen für Garten- oder Balkongemüse von Alex (einem Schürzenjäger) und seiner chinesischen Frau Min. Man lernt Madelaine, die Kaffeefrau mit ihren zahlreichen Verehrern kennen und Abdel, den Gemüsehändler, der ein recht simples Bild von Frauen hat, Romain, der Metzger, Senor Pedro aus Sevilla, eine Art "Torwächter", die 90jährige Sylvie, eine Seismographin ungeliebter Veränderungen, Thalia, eine nimmermüde Erfinderin, Albert, Flugzeugmodellbauer und Freimaurer, der immerfröhliche 82jährige Mahmoud, der achtunddreißigeinhalb Jahre nicht mehr in seiner Heimat Tunesien war, Jack, der Nachrichtenjunkie und viele andere mehr.

Der Markt ist ein Mikrokosmos von Menschen aus nahezu allen Regionen der Welt. Den Schwerpunkt der Händler auf dem Markt bilden Marokkaner, Tunesier, aber auch Libanesen oder Japaner, Menschen, die sich selber als Nomaden und Fremde im Land bezeichnen. "Niemand spricht hier akzentfreies französisch", heißt es einmal, und damit meint sich vielleicht sogar der US-Staatsbürger Jungk mit. Herkunft spielt hier durchaus eine Rolle, aber niemand wird hierfür bevorzugt oder benachteiligt. Dennoch wird kein Idyll gezeichnet, denn da zeigen sich sehr wohl Animositäten, fragile Gleichgewichte und natürlich auch Konkurrenz auf dem Markt, nicht nur unter den Anbietern, sondern auch beispielsweise bei den Bettlern und vielen illegalen Verkäufern, die sich ihre Ware manchmal aus dem Müll holen. In der Halle finden sich vor allem einheimische Händler, was bisweilen zu Spannungen zwischen beiden Gruppen führt.

Das alles stört ihn nicht; der Erzähler blüht auf, sobald er das Dorf betritt. Es ist "sein" Markt. Er, der sich "als der neugierigste Mensch" bezeichnet, den er kennt, gibt sich nach Herzenslust dem Gewimmel hin, erträgt die gelegentlichen Schwärme von Touristen, inhaliert die exotischen Düfte, genießt "üppige Farbenfächer" vom bunten Treiben und beobachtet die "Artisten unter der Hallenkuppel" bei der Arbeit. Warum man sich ausgerechnet im schmuddeligsten Café trifft, ist schnell erklärt. Man scherzt, diskutiert, respektiert die divergierenden Lebensideale des jeweils anderen und feiert deren religiöse Feste einfach irgendwie mit. Mit Romain geht er einmal auf Wildschweinjagd (er kommt sich dort wie ein Fremdkörper vor) und mit Abdel besucht er einmal um 5 Uhr den Großmarkt außerhalb von Paris. Da wird Jungk kurz zum erzählenden Reporter.

Der Markt ist ein Gleichmacher. Er erinnert sich, als vor Jahrzehnten ein damals eher unbekannter sozialistischer Politiker Wahlkampf machte. Später wurde er dann Staatspräsident. Da ist die berühmte Filmschauspielerin, die zwar inkognito, aber natürlich nicht unerkannt über den Markt geht. Überhaupt, die Frauen: Wie ein "Raubtier" belauert der Erzähler sie, versucht zu flirten, wo es möglich ist – aber der Erfolg bleibt stets aus. Aber wer sagt eigentlich, dass es einen geben sollte? 

Zwischenzeitlich gibt es Erinnerungen, flash backs in die Vergangenheit. Der Erzähler stammt aus einer polyglotten Familie (die Parallelen zu Robert Jungk, dem Vater des Autors, sind fappierend), ist geboren in Kalifornien, dann zog man nach Wien, Salzburg, in die Schweiz, wohinauchimmer. Das Emma-Peel-Plakat im Zimmer ersetzt kein Ortsgefühl. Wechselnde Umgebungen, alles durchaus großbürgerlich, aber eben auch immer neue Eingewöhnungen. Er erinnert sich an seine Studienzeit, wo er Freundschaft mit Charles Bukowski schließt (die dann rasch endet – warum: lesen!). Verschlungene Wege, skurrile Personen, die er da kennenlernt (je skurriler, je diskreter ist Jungk).

Oder, noch weiter zurück, an den November 1963, den Tod von Kennedy, für die Familie eine Katastrophe. Merkwürdig die Passage über einen Opernstar (mit unklarem Interesse an dem damals jungen Erzähler), der eine atemberaubende Kette von Parallelen zwischen Lincoln und Kennedy fabuliert.

Als der Erzähler für einige Monate eine Gastdozentur in Oberlin bei Cleveland, Ohio, übernimmt, lernt er nicht nur die Fallstricke der universitären Identitätsstrukturen kennen ("Wer sich in diesem Irrgarten Fehler erlaubt, gilt als Menschenfeind"), sondern auch die seelenlose Sterilität eines Walmart-Kaufhaus nebst seiner "schalen Gewächshausware". Er vermisst, wie es scheint, weniger Frau und Tochter als vor allem den Markt d'Aligre und stillt seine Sehnsucht mit Telefonaten mit einigen Protagonisten. Umso freudiger die Rückkehr. Die Filmschauspielerin ist auch wieder da; sie wird wieder beobachtet von ihm und zur "Obstdiebin" (einer der im Buch wohl gesetzten, kleinen Anspielungen).  

Auf eine harte Probe wird die Gemeinschaft nach einem Brand gestellt. Nicht nur, dass der Markt für einige Zeit geschlossen bleibt (es droht Einsturzgefahr der Halle) – man beschuldigt sich gegenseitig der Brandstiftung. Der Firnis ist dünner als gedacht. Noch schwieriger verhält es sich nach den Bataclan-Anschlägen im November 2015. Viele arabische, zum Teil religiöse, aber eben nicht fundamentalistische Händler verurteilen die Morde, befürchten jetzt allerdings mit den Terroristen in einen Topf geworfen zu werden. Andere wiederum geben ihre Verschwörungstheorien zum Besten (oder eher zum Schlechtesten). Nur kurz wird im Buch die Situation im Frühjahr 2020 durch das Aufkommen von Corona gestreift. Auch hier wurde der Markt geschlossen.

Nicht ausgelassen wird, wie sich die Marktcharakteristik schleichend, aber stetig verändert. Die Gentrifizierung in Form vermeintlich schicker Boutiquen oder teurer Designerläden zieht ein. Hinzu kommt, dass einige, fast schon zum Inventar gehörende Personen, wieder zurückkehren. Andere versterben.

Peter Stephan Jungk hat ein menschenfreundliches Buch geschrieben. Bisweilen wird er sehr persönlich, etwa wenn er kurz an seinen verstorbenen Freund Luc (Bondy) erinnert, der ihm überall fehle. Vor allem aber erzählt er jedoch von seiner fast schon manischen Suche nach Heimat, nach Geborgenheit, nach Aufgehobensein. Von gängigen Klischees verschont er dankenswerterweise den Leser. Ebenso von Pathos. Die immer auch ein bisschen humorige Tonlage verstellt nicht die schwärenden Probleme in dem Multikulti-Raum des Marché. Man kommt am Ende des Buches nicht davon los, dass die Erzählung des Heimatgefühls des Erzählers für diesen Markt eine Art Abschied darstellt, ein Abschied von einer Zeit, die nicht mehr wiederkommen wird. Wie schön, dass sie nun festgehalten ist.

Artikel online seit 05.05.21
 

Peter Stephan Jungk
Marktgeflüster
Eine verborgene Heimat in Paris
S. Fischer
224 Seiten
24,00 €
9783103973686

 

 


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