Mit dem
großen Perspektiv auf Kleines
Hektor Haarkötter
scheint ein freundlicher Mensch zu sein. Auf der Innenseite des Umschlags seines
gewichtigen Buches über die Notizzettel blickt er jedenfalls den Leser
schelmisch an. Er trägt ein kleinkariertes Hemd mit einer dicken Krawatte,
darüber einen Pullunder, darüber wieder ein Jackett mit Karos. Auf dem Kopf
trägt er eine Schirmmütze verkehrt herum, die aus einem Patchworkstoff
zusammengesetzt erscheint. Auf diesem Schwarzweißfoto erinnert er ein wenig an
den Engländer »Mister Pief mit dem großen Perspektiv« aus Wilhelm Buschs
Bildergeschichte Plisch und Plum, der ebenfalls einen karierten Anzug trägt.
Auch auf dem Umschlag des Buches bildet sich ein Karomuster aus diesmal lauter
farbigen Notizzettel ab. Ein großes Perspektiv besitzt Hektor Haarkötter
ebenfalls: er sieht nämlich überall Notizzettel. Diese bilden ihm den Anstoß zu
einem Durchgang durch eine Kulturgeschichte des Schreibens und der
Schreibmedien.
Das ist
ansonsten ein Feld, das großtheoretisch von Friedrich Kittler und seinen
Schülern abgegrast wird, die zwar nicht mehr den Inhalt der Medien gegenüber der
digitalen Form, dafür aber sich selbst sehr ernst nehmen. Haarkötter beginnt
dagegen ganz unaufgeregt mit der Nichtigkeit der kleinen analogen Zettel und
entwirft so eine sympathische fragmentierte Geschichte des vielfach gebrochenen
Verhältnisses zwischen Schreiben, Verbergen, Aufzeichnen und Vergessen, die ganz
ohne Lob des Digitalen und Großmeister-Allüren auskommt und dennoch
unvergleichlich viel mehr an Stoff bietet.
Ein
dickes Buch. Ist es zu dick?
Irritierend ist
zunächst, dass eine Abhandlung über den kleinen Notizzettel und die Kritzel- und
Sudelbücher selbst als ein Ziegelstein von 500 Seiten daherkommt. Hätte hier
nicht ein Essay gereicht? Ist hier also das Prinzip Peters Sloterdijks am Werk,
anstelle eines klugen Aufsatzes einen hypertrophen Wälzer von drei Bänden mit je
1000 Seiten zu schreiben? Oder statt eines sehenswerten Films von zwei Stunden
eine Fernsehserie über 27 Staffeln laufen zu lassen? Aber der Leser erkennt
rasch, dass das Buch seinen Ausgang vom Notizzettel nur als einen Anlass nimmt
zu einer anregend geschriebenen anderen Geschichte der Aufschreibsysteme. Diese
kommt kurzweilig und nicht belehrend daher und wird auch eher beiläufig
begründet: Walter Postmann (1886-1959), der Erfinder der DIN-Normen im
Papierbereich, hatte beklagt, dass bisher noch niemand über die planmäßige
Ordnung der Schreibfläche gearbeitet habe. Diese Lücke will Haarkötter nun
füllen und er macht sich fleißig an die Arbeit: als das Universalmedium soll ihm
dafür der Notizzettel dienen, der immer bereit ist, mithilfe eines Stiftes
beschrieben zu werden. Die Theorie, die dahinter steht, ist denn auch rasch
erzählt. Sie passt selbst auf einen Notizzettel: Das Schreiben dient danach
mindestens genauso dem anschließenden Vergessen wie dem Erinnern; die
Notizzettel sind ein unkommunikatives Medium, weil sie Nachrichten an den
Schreiber selbst sind; daher sind die Medien auch nicht zum Kommunizieren mit
der Außenwelt da, sondern eher für die Autorin und den Autor mit sich selbst;
und schließlich ein Satz, der Friedrich Nietzsche zugeschrieben wird: Das
Schreibzeug arbeitet mit an der Verfassung unserer Gedanken. Der Computer, das
Internet und der Hypertext kommen zwar vor, aber eben ohne den fast
obligatorisch in solcher Textsorte zu findenden digitalen Medienhype.
Vom
Manuzän zum Typozän: Erzählte Theorie
Stattdessen führt
Haarkötter anhand der Zettelei durch die Kulturgeschichte der letzten 2000
Jahre. In sieben Kapiteln bringt er uns Leonardo da Vinci (hier geschrieben als
Lionardo) als Erfinder des Notizzettels nahe, der nahezu sein ganzes Werk auf
Zetteln notiert hat. Seine kleinen Zeichnungen, die eigentlich Schriften sind,
codiert er durch eine Spiegelschrift, um für seine empirischen Arbeiten über die
menschliche Anatomie und seine sexuellen Phantasien nicht belangt zu werden.
1452 geboren, in dem Jahr, in dem Johannes Gutenberg seine erste Bibel in Mainz
druckt, steht Leonardo damit am Anfang dieser Geschichte von Manuskripten und
Typoskripten, die Haarkötter augenzwinkernd als Manuzän und Typozän bezeichnen
will. Kenntnisreich verfolgt der Autor anschließend Ludwig Wittgensteins
Schreiben in seinen Notizbüchern ebenso wie die Reisenotizen von Bruce Chatwin
oder die Sudelbücher von Georg Christoph Lichtenberg. Wir erfahren etwas über
Arno Schmidts Schreibtechnik aus Zettelkästen, die wieder auf andere Weise von
Niklas Luhmann verwendet werden. Bald geht es um Graffiti an Wänden und deren
antike Vorfahren, dann wieder um begehbare Notizzettel auf Fußböden, an
Zellenwänden im Gefängnis, Kritzeleien auf Plakaten in der U-Bahn oder um das
Atelier des Malers Francis Bacon als Archiv des Ichs.
Erzählte
Geschichten wechseln sich hier in lockerer Folge ab mit sechs kleinen
Theoriekapiteln. Am Ende gibt es eine unprätentiöse Zusammenfassung zur Metapher
des »Flusses der Kommunikation«. Diese macht es einmal mehr deutlich, dass
sowohl die Theorie als auch der Inhalt des Buches von seinem Gehalt und von
seiner Form her es durchaus schafft, auf einem mittleren Post-It-Notizzettel
dargestellt zu werden.
Die
Kunst des sich Verzettelns
Davon zum Schluss ein
Beispiel solcher Monade. In einer der vielen Geschichten, die Haarkötter luftig
erzählt, geht es um den vom FBI gesuchten Bankräuber Willie Sutton, der in den
USA zwischen 1920 und 1950 immerhin 37 Überfälle beging. Diese plante er jedes
Mal minutiös mithilfe eines Notizblocks:
Für Willie muss jede
ausgewählte Bank eine Bedingung erfüllen: Man muss sie von einem Café aus klar
sehen können. In den Tagen vor einem Raub kauft Willie einen Spiralblock und
setzt sich stundenlang in das Café, beobachtet, macht sich Notizen. Er schreibt
auf, wann die Bankangestellten kommen, welche klug aussehen und welche so, als
könnten sie Ärger machen. Er verwendet Zeichenlineale und Buntstifte, um
detaillierte Bilder, Skizzen und Karten anzufertigen. Manchmal wartet er, bis
die Bank schließt, und folgt den Angestellten in ihre bevorzugten Lokale oder
Flüsterkneipen. Er belauscht ihre Gespräche, erfährt ihre Namen, die Namen ihrer
Ehefrauen. Während des Überfalls spricht er die Angestellten namentlich an oder
lässt nebenbei den einer Ehefrau fallen. Tun Sie, was ich sage, Mr. Myers, oder
Sie sehen Harriet nie wieder. (S. 515)
Von solchen kleinen
Erzählungen ist das Buch voll. Man kann es an mehreren Spätsommernachmittagen am
Badesee lesen und kommt dabei so weit herum in der Welt der Kultur, indem man an
der Bildung des Autors auf heitere Weise teilhat. Walter Benjamin hat einmal
geschrieben: »Wer einen andern höflich begrüßen will, der wird in seinen Zügen,
wie schattenhaft es auch sei, einen Anflug von Lächeln haben.« So lächelt der
Autor mit seinem apollinischen Buch – und der Leser lächelt zurück.
Artikel online seit 04.09.21
|
Hektor
Haarkötter
Notizzettel
Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert
S. Fischer Verlag
592 Seiten
28,00 €
978-3-10-397330-3
|