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Ein Blick aus der Neuen Welt auf die Alte

Bolivár Echeverrías Plädoyer für eine vielstimmige Globalisierung

Von Wolfgang Bock
 

Ein mexikanischer Marxist aus Berlin
Als der heute emeritierte Papst Benedikt 2007 Rio de Janeiro besuchte, gab er bereits in einem Interview im Flugzeug eine Probe seiner eurozentristischen Geschichtsdialektik: Zwar hätten die portugiesischen und spanischen Eroberer die einheimische Bevölkerung in einem Genozid um 90 % dezimiert; dafür sei aber heute Brasilien das Land mit den meisten Katholiken der Welt. Das sollte als Beispiel für den entsprechenden Fortschritt in der Geschichte gelten. Als die Vertreter der indigenen Nationen, die auf dem Rollfeld warteten, davon hörten, widersprachen sie Ratzinger vehement. Der Vorgang belegt die These des mexikanischen Philosophen Bolivár Echeverría (1941-2010), dass die Kolonialisierung bis heute immer noch andauert. Heute haben wir zwar einen argentinischen Papst, aber die „offenen Adern Lateinamerikas“ (Eduardo Galeano) haben zu bluten nicht aufgehört – nicht wörtlich, nicht allegorisch, nicht kulturell, nicht sozioökonomisch und auch nicht im philosophischen Diskurs, dem Echeverrías Interesse gilt: das sogenannte transatlantische Denken zwischen Amerika und Europa kommt in der Regel ohne Lateinamerika aus.

In der Übersetzung von David Graff legt der Argument-Verlag aktuell eine Auswahl mit Texten Echeverrias zu einer anderen Moderne vor. Der Autor ist ein Klassiker der lateinamerikanischen Theoriebildung – ein Denker vom Rand der Welt her, der die Metropolen gut kennt. In Ecuador geboren, studiert er Anfang der Sechzigerjahre Philosophie an der FU in Berlin im Umkreis der APO. Im Seminar über Georg Lukács Geschichte und Klassenbewusstsein lernt er Rudi Dutschke kennen und wird eine tragende Kraft des Internationalismus-Zweiges der Studentenbewegung. 1968 geht er mit seiner deutschen Partnerin zurück nach Mexiko und entfaltet an der Autonomen Universität UNAM von Mexiko City seine Wirkung, die bis heute andauert. Als Essayist, Übersetzer und Theoretiker denkt er eine kritische Theorie von Lateinamerika aus. Der Bandbreite seiner Arbeiten wird das vorgelegte Buch gerecht, indem es zehn Texte aus drei verschiedenen Feldern präsentiert: zur Fortschreibung der marxistischen Werttheorie, zum Kulturbegriff und zu Echeverrías eigentlicher theoretischer Leistung, der Theorie eines barocken Ethos Lateinamerikas als ein Konzept der Mischgesellschaft des Mestizaje – einer anderen, diversen Moderne.

In diese zunächst ökonomisch gehaltene und von Marx und Lukács geprägte Theorie gehen Motive aus der Sprachphilosophie Saussures, der Kolonialtheorie von Fanons und Sartre und des Gabentausches von Marcel Mauss und George Bataille ein. So entsteht ein intellektueller Potlatsch, mit dem Echeverría eine andere existierende Lebens- und Wirtschaftswelt entwirft, als es der scheinbar weltweit alternativlose american way of life der USA darstellt. Diese andere Moderne, führt er mit Braudel und Bakhtin im Hintergrund auf die Mittelmeergesellschaften Europas zur Zeit der Entdeckungen zurück. Sie liegt für Echeverría noch unter dem Tuch verborgen, dass vor der Ankunft von Kolumbus angeblich über die unentdeckten Teile der Erde ausgebreitet gewesen sein soll.[1]

Viva Zapata! Chiapas und die unvollendete Eroberung

Echeverría beschreibt in seiner Analyse zwei Haupttendenzen der Conquista, der Entdeckung und Eroberung Lateinamerikas: die Strategie der Vernichtung der amerikanischen Urbevölkerung und eine Vermischung, die weiter in zwei verschiedene Formen unterteilt werden kann: einen Rekurs auf die alte amerikanische Kultur (die im 16. Jahrhundert durch die Eroberer zugrunde ging und von der nur noch Reste existieren) und eine affirmative Anpassung, die versucht, die europäischen Verhältnisse unter amerikanischen Bedingungen einzuführen. Letzteres ist die Grundlage der Staaten Lateinamerikas, die gerne als sogenannte „normale Staaten“ im Sinne der europäischen Nationen anerkannt werden wollen. Diese beiden Weisen der Vermischung blockieren sich gegenseitig.

Bei der Wiederaneignung des kulturellen Erbes Altamerikas unter aktuellen Bedingungen spielen die indigenen Völker eine zentrale Rolle. In diesem Sinne spricht Echeverría im Eingangsinterview über die Aufstände von Chiapas 1994, die Zapatisten und die Folgen in einer Weise, die bis heute gültig ist. In Brasilien mussten beispielsweise den Bauten für die Olympiade das für die Ureinwohner wichtige Museum für indigene Kunst und Kultur weichen – ein Vorgang, der in Rio de Janeiro zu massiven Protesten und weiteren Politisierung der Ureinwohner geführt hat. Ähnlich verweist auch Echeverría auf die anthropophagische Aneignung der Erobererkultur als einen anderen altamerikanischer Umgang mit den Fremden, der heute wieder aktuell ist und nennt sie mit einem dem Kunstwort „códigophagisch“, „zeichenfressend“. Das verweist auf seinen Umgang mit einer historisch gewendeten Semiotik ebenso wie auf einen Rekurs auf das Konzept der Anthropophagen-Kultur Südamerikas, den den Feind ehrenden „Menschenfresserkult“ [2]

Die Naturform und die soziale Reproduktion

In seinen politökonomischen Schriften nimmt der Philosoph eine Auslegung des marxistischen Begriffs der Naturform des menschlichen Lebens und ihre gesellschaftliche Reproduktion im gesellschaftlichen Prozess hin zur Wertform vor, die sich wiederum in Tausch- und Gebrauchswert aufteilt. Echeverria verteidigt Marx gegenüber Michel Foucault in dessen Die Ordnung der Dinge und tritt dabei für Jean Baudrillard und seine Auslegung einer „Ökonomie der Zeichen“ ein. Am Ende wird, wenn es um die natürlichen Ursachen der Wirtschaftsgeschichte und den Primat des Gebrauchswerts geht, auch Karl August Wittvogel zitiert. All das gruppiert sich um die ipolitische Idee von Aristoteles, dass die menschliche Organisation nicht natürlich, sondern frei sei. Der Text läuft auf die Erkenntnis hinaus, dass jede Ökonomie a priori eine politische ist, die sich auf die Herstellung von Gebrauchswerten gründet.

Der barocke Schlüssel Lateinamerikas

Nach weiteren Überlegungen zur Kulturentwicklung und zur Postmoderne (deren Begriff er nicht anerkennt, da für ihn die Moderne bereits heterogen genug ist) werden im dritten Teil nochmals die zentralen Motive von Echeverrías historischer Theorie aufgezeigt. Schon Alexis von Tocqueville betont, dass Nord- und Südamerika in Bezug auf die Moderne unterschiedliche Wege gehen. Neben der protestantischen Ethik, die die Verhaltensformen des modernen kapitalistischen Menschen des liberalistischen Konzepts beschreibt, tritt ein kontinentaler mediterraner Typus von Moderne. Das entsprechende Verhalten fasst Echeverría im Konzept des Ethos einer barocken Kultur, die in Mexiko im 17. Jahrhundert nach dem Scheitern der conquista die Form einer aktiven Mischung angenommen habe. Darauf ruhen seine zukünftigen Hoffnungen auch für unsere Periode:

In Lateinamerika entstand und entwickelte sich das barocke Ethos zunächst in den unteren und marginalen Klassen der Mestizenstädte des 17. und 18. Jahrhunderts rund um die informelle und unkontrollierte Ökonomie, die sogar noch größere Bedeutung erlangte als die formelle und an die spanische Krone gebundene Ökonomie. Es entstand zunächst als spontane Überlebensstrategie, die jene indigene Bevölkerung erfand, die die Ausrottung des 16. Jahrhunderts überlebt hatte und nicht in unwirtliche Regionen vertrieben worden war. Nachdem im 16. Jahrhundert die großen indigenen Zivilisationen ausgelöscht worden waren, schien es wahrscheinlich, dass die Conquista, die von der spanischen Krone fast kaum noch verfolgt wurde, in eine Epoche der Barbarei und der Zivilisationslosigkeit münden würde. Angesichts dessen vollbrachte die in das städtische Leben des Vizekönigreichs integrierte indigene Bevölkerung eine zivilisatorische Leistung, die die lateinamerikanische Identität grundlegend prägen sollte. Sie aktualisierte den wichtigsten Rekurs der Kulturgeschichte: den des Mestizaje.[3]

Ein Modell für eine diverse Welt

Dieses Geschichtsmodell einer Vermischungskultur bestimmt auch seine Vorstellung der Revolution, die sich bei Marx noch auf den ersten Typus der Moderne bezieht:
Vielleicht muss die Revolution nicht mehr romantisch, sondern zum Beispiel barock gedacht werden. Nicht als verklärende Erstürmung des Winterpalasts, sondern als rhiomatische, versteckte und langsame, aber allgegenwärtige, unaufhaltsame und ohne militärische Gewalt stattfindende Invasion jener anderen Orte, die manchmal weit weg von der prätentiösen Politbühne liegen und an denen das Politische — das Neugründende der Formen der Gesellschaftlichkeit — auch im täglichen Leben seine Fortsetzung findet und gegenwärtig ist.

Für all das steht der Rückgriff auf den Barock:
Das barocke Ethos, auf das die lateinamerikanischen Gesellschaften im Laufe ihrer Geschichte so häufig zurückgegriffen haben, zeichnet sich durch seine Treue zur qualitativen Dimension des Lebens und seiner Welt aus, durch seine Weigerung, die Opferung dieser Dimension zugunsten der Verwertung des Werts zu akzeptieren. Und in unserer Zeit, in der das Kapital in Form einer abstrakten Globalisierung, die auch noch die geringste menschliche Geste auf eine qualitative Stufe nahe null vereinheitlicht, die Konkretisierung des Lebens weltweit refunktionalisiert und entstellt, kann diese barocke Haltung ein guter Ausweg aus dem Reich der Unterwerfung sein.[4]

Das ist ein Motivkreis, der sich auch bei anderen mexikanisch inspirierten Theoretikern finden lässt, bei Erich Fromm etwa oder bei Ivan Illich mit seinem Konzept der Kritik der Knappheit, dem Eintreten für eine konviviale Wirtschaftsform und eine entsprechende am Gebrauchswert orientierten Technik.[5] Dieses ethische Modell des Befreiungstheologen Illich würde der Marxist Echeverría aber als traditionelles bezeichnen.

Eine erweiterte Theorie des Barock

Barock – das ist zunächst im europäischen Kontext eine Bezeichnung für den vermischten Kunststil der Gegenreformation des 17. Jahrhunderts, der in den wieder erstarkenden Machtzentren der katholischen Staaten nach den Bauern und Bürgerkriegen zwischen Katholizismus und Protestantismus in Südeuropa entsteht. Charakteristischerweise gibt es in England keinen Barockstil. Die Barockzeit dagegen ist in Europa eine im Allgemeinen geschmähte kulturelle Periode der Gegenreformation, der blutigen Bürgerkriege, der Pest und der metaphysischen Hoffnungslosigkeit. Echeverría hebt hier aber auf eine weitere transeuropäische Bedeutung ab. Denn es ist im globalen Maßstab gesehen die Epoche der kolonialen Kultur der Eroberer, die diese nach Südamerika bringen und die weiter im Prozess der Vermischung der indigenen Völker mit den spanischen und portugiesischen Eroberern sich herausbildet. Auf diese Art von aktiver Mischkultur setzt er seine Hoffnungen auch aktuell. Es ist ein Gegenmodell zur zerstörerischen Amerikanisierung, die zunehmend die Welt global bedroht.

Wir würden daher heute noch den Hinweis auf die Ökologie und das Klima, das unter genau diesen Bedingungen leidet, hinzufügen. Mit seiner umfassenden Idee des Mestizaje antwortet Echeverría auch auf eine andere Krise der Homogenisierung der westlichen Gesellschaften: auf die sogenannte „Flüchtlingskrise“. Hier schlägt er konsequent den Weg zur Vermischung ein, gegen die Tendenzen der Nationalkulturen, sich vor den Fremden als Eindringlinge zu schützen, ohne zu sehen, dass es die Politik der Metropolen als sogenannte „Entwicklungshilfe“ war, die in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts die überfüllten Megastädte in der Peripherie in den Zustand geführt hat, indem sie sich jetzt befinden. Die westliche Energie- und Bio-Politik führt unausweichlich in eine Sackgasse, wie sich gerade wieder am Beispiel Afghanistans ablesen lässt. Bolivár Echeverría aus Mexiko, Homi K. Bhabha aus Indien, Rey Chow aus Hong Kong oder Achille Mbembe aus Kamerun sind dagegen wichtige postkoloniale Stimmen aus der Peripherie, auf die hören sollte, wer eine menschliche Zukunft der Globalisierung denken will.

[1] Das Konzept ist nicht zu verwechseln mit dem Begriff der Zweiten Moderne, mit der Ulrich Beck und Anthony Giddens eine Verschärfung der ökonomischen Ausbeutung beschreiben. Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986 und Anthony Giddens, Scott Lash (Hrsg.): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a, Main: Suhrkamp 1996.
[2] Vgl. Oswaldo de Andrade und sein Anthropophagische Manifest von 1928; Eduardo Viveiro de Castro, Kannibalische Metaphysiken, Berlin 2019, Merve, ders., Die Unbeständigkeit der wilden Seele, Wien: Turia + Kant 2016.
[3] S. 203-204.
[4] S. 205.
[5] Vgl. Ivan Illich, Selbstbegrenzung: Eine politische Kritik der Technik (1973), München: Beck 2014.

Artikel online seit 02.09.21
 

Bolivar Echeverria
Für eine alternative Moderne
Studien zu Krise, Kultur und Mestizaje
Herausgegeben von David Graaff, Javier Sigüenza und Lukas Böckmann
Argument Verlag
240 Seiten
24,00 €
978-3-86754-111-4

 

 


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