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Plädoyer für Pragmatismus

Über Nora Bossongs Essaysammlung »Auch Morgen«

Von Lothar Struck
 

Der Titel von Nora Bossongs Essaysammlung "Auch morgen" mutet auf den ersten Blick etwas mysteriös an. Ist es ein eher resignierender Seufzer in Anbetracht all der ungelösten, globalen Probleme? Oder ein Ausdruck von Trotz, an einer besseren Welt (was auch immer damit gemeint ist) durch Denken, Schreiben und Dokumentieren mitarbeiten zu können?

Merkwürdigerweise war es der Ankündigungstext des Verlages, der mich von der Lektüre fast abgehalten hätte. Da ist in bekannter Manier von "kolonialer Schuld und globaler Gerechtigkeit" und von "Herrschaftsansprüchen des Westens und der Natur des Bösen" die Rede, die die Autorin "befragen" würde. Allzu oft ist man in der Vergangenheit auf diese schlichten wie vorhersehbaren Argumentationsmuster linksliberaler Erkenntnissucher gestoßen, die dann nur mehr Belege ihrer vorgefasster Thesen ausführen und Rezipienten mit ihrer Küchenanalytik langweilen.

Auch bei Bossong finden solche Floskeln bisweilen Anwendung. Der Kolonialismus wird herbeizitiert, wenn es um die Vergangenheitsbewältigung der Massenmorde in Ruanda 1994 geht und die USA seien spätestens seit Mỹ Lai, Guantánamo und Abu Ghraib diskreditiert (ein Urteil, welches in Anbetracht der neuesten Entwicklungen zu Afghanistan sicherlich neuen Nährboden finden dürfte). Das Wort "Mittelmeer" habe im Angesicht von Flüchtlingsleid seine Leichtigkeit verloren. Bossong "verwechselt" manches Mal die EU mit Europa (in Wirklichkeit setzt sie die westeuropäischen Wertvorstellungen absolut) und erkennt identitäres Gedankengut nur auf der rechten politischen Seite.

Bossong reist zu Prozessen von (potentiellen) Kriegsverbrechern, befindet sich bei Freunden in Italien oder dem Iran, besucht Gedenkfeierlichkeiten in Ruanda, spürt den Gelbwestenprotesten in Paris nach, befragt Nonnen in drei Frauenklostern, um Residuen des Abendlands festzuhalten und möchte erfahren, was die Menschen im Braunkohlegebiet der Lausitz denken.

Und ja, einige wenige Aufsätze in diesem Band wirken ein bisschen wie Projektberichte, die man nach einem Stipendium zu verfassen hat. Man liest – und vergisst sie. Aber es gibt eben auch sehr starke Aufsätze und Essays (es ist die Mehrheit). Man erkennt sie daran, dass die Autorin an einer Beantwortung der aufgeworfenen Frage(n) tatsächlich interessiert ist, weil sie sich mit den bekannten Analysemustern eben doch nicht zufrieden gibt. Denn irgendwann taucht das Wörtchen "dennoch" auf (oder auch "trotzdem"). Denn nichts ist eindeutig, auch das zunächst Vordergründige nicht. Warum gehen zum Beispiel Frauen heutzutage in ein Kloster? Ihre Reise und die etwas hektisch aneinander gereihten Gesprächssentenzen mit den Nonnen geben eine verblüffende Antwort, die zwar ebenfalls nicht absolut zu setzen ist, aber in dieser Form für mich neu war.

Bossong prüft sich in ihren stärksten Texten selber. Bei ihrem Besuch in der Lausitz etwa nimmt sie sporadisch Notiz von zwei Reichskriegsflaggen – gibt es hier etwa Reichsbürger? In Gesprächen mit den Repräsentanten der Stadt wird deutlich, wie wichtig dort (noch) die Kohle ist. Verbohrt ist man aber längst nicht mehr; auf Klimawandelleugner trifft sie nicht. Im Gespräch mit einer Berliner Antikohle-Aktivistin erfährt sie, dass diese die repräsentative Demokratie für gesellschaftliche Entscheidungsprozesse inzwischen rundheraus ablehnt. Allerdings, so Bossong, würde sich ihr Leben "durch die Schließung [des Kohletagebaus] auch nicht verändern, sie würde weiter in die Uni gehen, ihren Master machen, vegan essen und sich durch 'unabhängige Geldquellen' finanzieren…".  So kommen die altbekannten Erklärungen beispielsweise über Demokratieverächter ins Wanken.

Man kann Bossongs Vorgehensweise nicht direkt Dialektik nennen, weil stets die Parteinahme der Autorin mitschwingt. Aber diese wird nicht dogmatisch vorgetragen, eher reflexiv. Was zu neuen, zuweilen überraschenden Erkenntnissen führen kann. Etwa, wenn konstatiert wird, dass das Wissen des Alters nicht mehr zu den Fragen der Gegenwart passt. Das mag mit den rasanten disruptiven Veränderungen der letzten Jahrzehnte (Globalisierung; Digitalisierung) zu tun haben. Aber kurz darauf wird Klarsfelds Ohrfeige gegen Kiesinger erwähnt, diese bis heute gehypte Lächerlichkeit. Dabei wird jedoch deutlich: Damals, in den 1960er Jahren, passte nicht das Wissen der Alten nicht zur Gegenwart, sondern das Leben, die Biographien.

Die Werte der vergangenen Generation(en) waren nicht kompatibel mit den gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen der Zeit. Die Alten, einst mit der Aura der Weisheit umgeben, hatten in ihrer stillen Mitläuferei der Barbarei gegenüber in großen Teilen gefehlt. Ihr nachträgliches Schweigen wurde als Schuldanerkenntnis bewertet. Ähnliches, so kommt es einem bei der Lektüre in den Sinn, scheint sich im Angesicht des drohenden Klimawandels zu wiederholen. Und dennoch (da ist es wieder, dieses Wort) ist es nicht so einfach.  

Gleich zu Beginn ihrer Aufsatzsammlung, wenn sie von der Hoffnung auf ein überstaatliches, gesetzgebendes Gebilde schreibt, welches derzeit die unvollkommene UNO darstellt bzw. darstellen möchte, wird Bossongs Herangehensweise deutlich: "[V]on den drei Stufen, die ich gelernt habe als berufliche Entwicklung innerhalb der UNO (aber sicher nicht nur da), vom Idealismus zum Pragmatismus zum Zynismus, halte ich den Pragmatismus in der Wirklichkeit vielleicht sogar für die beste Stufe."

Es ist ein leider unzeitgemäßer Ton geworden, dieses Plädoyer für das Pragmatische jenseits des Gestus all der- und diejenigen, die mit ihren Maximalforderungen ultimative Aufmerksamkeit erzeugen, weil sie geschickt an das angeschossene, schlechte Gewissen der Rezipienten appellieren und mit "How dare you?" "von einer Sechzehnjährigen…um die Ohren gehauen bekommen und mit Schuldzuweisungen konfrontiert werden". Was dann oft genug das Gegenteil dessen erzeugt, was notwendig wäre.  

Einzig dem "literarischen Denken" konzediert Bossong die Möglichkeit (vielleicht sogar Notwendigkeit?) zur Überwindung des Pragmatismus. Aber nicht als eilfertig formuliertes "Narrativ", diesem immer häufiger aufflackernden, merkwürdigen "Wunsch nach einer Erzählung", der von ihr – zutreffend -  als (meist) "der verzweifelte Hilferuf eines Schiffbruch erleidenden Systems" gedeutet wird. Die Literatur, so Bossong, "würde sich lächerlich machen, ließe sie sich vor den verwaltungspolitischen Karren spannen." Was allerdings, so möchte man ergänzen, immer häufiger geschieht.

Die von ihr (bisweilen gewagten) historischen Verknüpfungen von geschichtlichen Ereignissen, die sie bis in die Gegenwart hinein extrapoliert, so dass man manchmal den Eindruck einer Unausweichlichkeiten, eines Schicksals, gewinnen kann, diese auf den ersten Blick einleuchtenden Kontinuitäten, werden von ihr nie einfach nur übernommen Wurde mit der Ermordung Pasolinis 1975 das Ende des Kommunismus in Italien eingeläutet und der Keim für Berlusconi und all die anderen politischen Clowns gelegt, die dort inzwischen reüssieren? Eher gewagt. Oder: Gibt es eine Parallele zwischen der französischen Revolution und den Gelbwestenprotesten, weil beide rebellierenden Gruppen damals wie heute "nicht die Geduld zu Reformen hatte[n], sondern den radikalen Umsturz wünschte[n]?"

Solche versteckten Parallelen faszinieren Bossong, aber sobald sie zu Instrumentalisierungen werden, ist sie alarmiert. Sie warnt ausdrücklich vor der Banalisierung von Geschichte und gleichzeitiger Verkitschung oder auch Dämonisierung der Gegenwart. Die Zustimmung zu "Europa" (gemeint ist eher die EU) kann nicht, so die These, mit immerwährenden Drohungen vor imaginären Rückfällen gewonnen werden. Aber was muss man etablieren, ohne die EU in eine schlechte Kopie von Disneyland zu verwandeln? Mit Unbehagen beobachtet sie in Frankreich das zwanghafte Historisieren der Marianne, der französischen Freiheitsheldin. Oder auch die inflationäre Verwendung des Wortes "Nazi" wie beispielsweise bei der Berliner Aktivistin für die "Braunkohlebefürworter". Schwerer scheint für die Autorin Vermutung zu wiegen, dass die Aktivistin "nicht so recht aus ihrem nationalen Schulddenken herauskommt" und dies obwohl sie "überzeugt ist, dass der Klimawandel nur global gelöst werden kann".

Der vielleicht interessanteste Beitrag von Nora Bossong ist die sehr persönlich geratene Beschäftigung mit ihrer Religion, dem Katholizismus, die sich schon im Essay über das Böse andeutete, in dem sie ihre Hannah-Arendt-Momente bei der Beobachtung der angeklagten Kriegsverbrecher artikuliert. "Ich kann an all das nicht mehr glauben", schreibt sie.

Was genau nicht mehr geglaubt werden kann, bleibt in der Schwebe. Aber es kumuliert in die – alte - Frage der Theodizee, nach der Präsenz von Gott, der all das Böse zulässt. Was ist zu tun? Bossong spürt einen Lyriker auf, aufgewachsen in der Nähe von Krakau. Nicht weit entfernt vom Ort, an dem sich bald das schrecklichste Menschheitsverbrechen ereignen wird, schreibt der 19jährige Karol Wojtyła in Krakau 1939 Gedichte. "Ich glaube an die Auferstehung der Wolken // aus den Nebelschwaden", so ein Vers von ihm. Der gleichen Generation gehörten Tadeusz Różewicz und Wisława Szymborska an – auch sie unweit des Un-Ortes, stetig Gedichte schreibend, versuchend, die Welt durch die Poesie zu retten. Wojtyła geht einen anderen Weg, wird Papst.

Was hat dieser Papst geglaubt? Ist er sozusagen "glaubwürdig", vorbildhaft? Der Glauben verlangt andere Prioritäten: Der Vermittler, die Institution Kirche, ist das Problem. Sie hat ihre Stellung als moralische Autorität eingebüßt, ja verloren. Der Dogmatismus einerseits sowie die Missbrauchsfälle andernfalls überlagern, so die Empfindung nicht nur der Autorin, die eigentliche, christliche Botschaft. "Trösten, ohne den Trostlosen wahrzunehmen (die Kirche)", so schrieb einst schon Peter Handke. Bossong scheint bereits das Trösten zu vermissen.

Was kann der an der Welt verzweifelte, ungläubig gewordene Mensch tun? Ernüchternd Nora Bossongs Feststellung: "[M]it Poesie allein können wir menschliche Verzweiflung nicht lösen, und sagen wir auch: nicht erlösen. Das, was Poesie ganz sicher nicht kann, ist, Religion zu ersetzen". Das ist, auch wenn es nicht so klingt, ein beruhigender Befund. Denn wenn Poesie zur Religion wird, wird sie früher oder später ebenfalls dogmatisch. Einen Ausweg versucht die großartige Wisława Szymborska, die die Poesie einmal als "rettende[s] Geländer" bezeichnet hatte. So wird wenigstens verhindert, dass man abstürzt in die Tristesse der metaphysischen Unbehaustheit.

Am Ende, so möchte man einen unendlich oft zitierten Vers paraphrasieren, ist zwar der Vorhang zu und alle Fragen bleiben offen, aber man ist weder enttäuscht noch betroffen, sondern angeregt. Und das will schon etwas heißen.

Artikel online seit 02.09.21
 

Nora Bossong
Auch morgen
Politische Texte
edition suhrkamp 2773
194 Seiten
16,00 €
978-3-518-12773-5


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