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Ein Sonnenkäfer im Archivdunkel

Zu Mary Warburg: Porträt einer Künstlerin. Leben und Werk

Von Wolfgang Bock

 

Neuigkeiten aus dem Warburg-Universum

Das Warburg-Universum hält viele interessante Elemente bereit. Das aktuelle Zeugnis bildet die Würdigung der Künstlerin Mary Warburg, geborene Hertz (1866-1934). Aby Warburg war der älteste Sohn des Hamburger Bankiers Moritz Warburg, dessen weitere Söhne sich unter anderem mit der Rothschild-Familie verbanden und damit zu den reichsten Clans der Welt. Mary Warburg war Abys protestantische Ehefrau. Es ist ein voluminöser Foliant mit einer ausführlichen Darstellung ihres Lebens und ihres Schaffens, der im zweiten Teil ein Werksverzeichnis der gut 900 von ihr gestalteten Arbeiten – Büsten, Groß- und Kleinplastiken, Gemälde und Zeichnungen – enthält. 120 davon gehören seit 1976 zum Bestand des Kupferstichkabinetts der Kunsthalle Hamburg und wurden bisher nur in allzu kleinen Ausstellungen 1985 und 2006 gezeigt. Ein weiterer Teil des Nachlasses ging nach London oder mit der Familie in die Welt.

Mary stand zeitlebens im Schatten Abys. Sie stellte die eigene künstlerische Arbeit hintan und hatte, obwohl es an materieller Zuwendung nicht mangelte, kaum Gelegenheit, sich auszudrücken. Daher ist diese Würdigung der Künstlerin Mary Warburg das Zeugnis einer anderen Art von Melancholie als die berühmte ihres gemütskranken Mannes. Sie betrifft das exemplarische Schicksal einer jungen Künstlerin im Kaiserreich, die es ähnlich schwer hatte, wie die gleichaltrige Käthe Kollwitz oder ihre Kolleginnen aus dieser Epoche Wilhelmine Niels, Clara Rilke Westhoff und Paula Modersohn-Becker. Als Tochter einer vor zwei Generationen assimilierten jüdischen Familie, deren Vater Hamburger Senator war, zeigt ihre Biografie, wie schwierig es für sie war, auch als begüterte Tochter aus gutem Hause ihren künstlerischen Ambitionen in der Provinzstadt Hamburg nachzugehen. Währenddessen wurde in Paris von Edouard Manet, Claude Monet oder Edgar Degas die Moderne erfunden, Paul Cézanne malte in Aix seine Bilder der Monte Sainte-Victoire und Franz Marc oder Emil Nolde schufen ihre farbenfrohen Bilder.

Die Künstlerin und der Kunsthistoriker

Die Kunsthistoriker Bärbel Hedinger und Michael Diers, auf die diese lobenswerte Initiative zurückgeht, geben in langen und einfühlsamen Eingangsessays ihr Bestes, um Mary und ihren Arbeiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie gehen vielen Details ihrer Biographie und ihres Schaffens nach und zeichnen dabei unter dem Stichwort »Die Künstlerin und der Kunsthistoriker« vor allem ihre Beziehung zur Warburg-Familie auf. Solche heroischen Formeln sind gut gemeint, sie bleiben aber dennoch schief, denn der Mann konnte sich in der Regel sehr wohl »verwirklichen«, die Frau dagegen kaum.[1] Dabei wird hier ein anderer Weg gewählt, als bei der Biografie von Eva Weissweiler über Dora Kellner, der Frau von Walter Benjamin, die versucht das Profil der Ehefrau auf Kosten des berühmten Ehemanns herauszuarbeiten.[2] In diesem Fall bemühen die Autor*innen sich nicht, den berühmten Ehemann in die Pflicht zu nehmen.[3] Das Resultat bleibt in der Sache ebenso unbefriedigend und hinterlässt trotz der aufgelisteten und gezeigten Werke umso deutlicher eine Leerstelle. Diese geht wesentlich auf die Kosten der Umstände, die sich bis heute fortschreiben. Sie treten hier überdeutlich hervor.

»Ich bin aber auch so’n richtiger Sonnenkäfer!« Hanseatische Zwillinge?

So schildern die Autor*innen nach der Durchsicht der vielen Dokumente die Begegnung der Künstlerin Mary Hertz mit dem gleichaltrigen Kunsthistoriker Aby Warburg in Florenz 1888 als Liebesgeschichte. Zehn Jahre mussten sie anschließend ihre Verlobung geheim halten, Aby seine Enterbung riskieren und selbst mit dem Ausscheiden aus dem Clan drohen, um schließlich die Heirat zu realisieren. Es werden die Schwierigkeiten nachgezeichnet, die sich 1897 aus einer solchen »Mischehe« einer Protestantin mit einem Juden auch in den reichsten Familien Hamburgs zur Zeit der jüdischen Emanzipation nach innen und nach außen auftaten. Vor allen Dingen aber werden Marys Versuche verfolgt, trotz der provinziellen Lage Hamburgs und der fehlenden Kunstszene, sich zu einer Künstlerin auszubilden. Anders als ihren Kolleginnen gelang es ihr nicht, sich von den Pflichten der Familie freizumachen und sich eine weitere Ausbildung in Paris zu erkämpfen. Als junge Frau war sie zunächst dazu verpflichtet, sich um die kranke Mutter zu kümmern und dem Vater zur Hand zu gehen. Der hatte ihr allerdings eine Bildung auf der Hamburger Frauengewerbeschule und bei Hamburger Malern und Bildhauern ermöglicht. Am freisten mochte sie sich noch in Florenz gefühlt haben, als sie – immerhin schon über 30 Jahre alt – für die ersten vier Jahre ihrer Ehe dort mit Aby wohnte, bis sie 1902 mit der kleinen Tochter nach Hamburg zurückkehrte. Während ihr Mann weiter seinen Forschungsarbeiten nachging, kümmerte sie sich um die drei Kinder und das bald von den vielen Büchern niedergedrückte Haus.

Hinter der Maske des Mannes

Daher stimmt es wohl und ist zugleich unfreiwillig komisch, wenn die Autor*innen das Zusammentreffen mit Aby als für »Marys Laufbahn als Frau und Künstlerin gleichermaßen bestimmend werden sollte« (S. 20) beschreiben. Das Licht, aber auch der Schatten seines Lebens fällt auch auf sie. Ihre größte Arbeit soll dann die Büste darstellen, die sie von ihrem Mann gemacht hat. Die wird dann, wie unschwer deutlich wird, nicht einmal als ihr Kunstwerk, sondern durchgängig wieder als identisches Symbol für Aby selbst präsentiert. Als Vorbild dieser Arbeit dient die Totenmaske. Wenn Walter Benjamin in der Einbahnstraße schreibt: »Das Kunstwerk ist die Totenmaske der Konzeption«, um damit Idee und Ausführung gleichermaßen zu betonen, so ordnet sich bei Mary Warburg umgekehrt alles dieser Totenmaske unter. Ihre eigene Konzeption bleibt darunter verschüttet.

Die Aby-Büste wird folgerichtig als das sie schaffende Werk angesehen. Ihre anderen größeren plastischen Arbeiten werden im Krieg eingeschmolzen, sie sind verschollen oder über einen Gipsabdruck als Vorform einer Bronze nicht hinausgelangt. Zurück bleibt das Bild einer Künstlerin, die in den Verschlingungen der Reproduktionsarbeit befangen blieb und dort, wo sie diese Fesseln einmal durchschneiden konnte, zugleich auf harte Konkurrenz und missbilligende Urteile nicht zuletzt in der Familie traf. Ihr Bruder, der nach ihrem Krebstod 1934 den Nachruf für sie schreibt, meint ihr vorwerfen zu müssen, dass dort, wo die Frage der Kunst ernsthaft an ihre Arbeiten herangetragen werde, sie diesen Druck nicht ausgehalten habe. Ansonsten fehlte ihr die Traute, sich »mit einem Ruck« aus dem Ehe-Verhältnis zu befreien (S. 518). Das ist eine zivilere Form des Fememordes in der Familie, für die es keine arabischen oder türkischen Clans braucht. Das Urteil wird auch später gern von anderen Männern der Kunst wiederholt. Es sieht so aus, als ob die Gegenmächte, die Marys Leben bestimmt haben, auch nach dem Tod damit nicht nachlassen. Ein solcher Schatten fällt damit auf ihre Arbeit noch dort, wo sie eigentlich gewürdigt werden soll. Solche Urteile treten mit den tiefsten Klagen beispielsweise aus Doris Lessings Goldenem Notizbuch über die Misere, eine Frau zu sein, in eine fatale historische Konstellation und überschreiten diese zugleich bis zur Gegenwart.[4] Darin wird nicht allein die Wahrheit der Epoche adäquat beschrieben.

»Stufen einer ausgebliebenen Rezeption«

Der Katalog und das Werkverzeichnis sind damit einerseits ein Zeugnis des Scheiterns, was die Maßstäbe der Hochkunst angeht. Andererseits finden wir in ihrem Werk viele kleine und nur halb ausgeführte Formen wie Miniaturplastiken, Skizzen und Versuche. Diese erinnern den Rezensenten in ihrer Beschaffenheit von ferne an die Produkte der Künstler*innen aus den arktischen und subarktischen Regionen– kleine Skulpturen aus Bein oder Zähnen und Zeichnungen bei den Samen, den Tschuktschen oder den Inuit– Zeugnisse nicht allein von genderdurchzogenen innerkulturellen, sondern auch von gleichsam anthropologischen Dimensionen. Bereits bei den frühesten Kunstwerken sind abstrakte und konkrete Elemente zusammen vorhanden. Die berechtigte Kritik beispielsweise an den Arbeiten von Wilhelm Worringer, der eine Fortschrittslinie von den frühen konkreten Arbeiten bis zu den abstrakten der modernen Kunst ziehen will, zeigt, dass ein traditioneller linearer Fortschrittsbegriff beiseitegelegt und in der Moderne durch einen rhapsodisch-allegorischen ersetzt werden muss.[5]

Oder auch – Bewunderung?

Auch Mary Warburgs Arbeiten brechen auf ihre Weise den überlebten hochkünstlerischen Anspruch auf und stellen die etablierte patriarchale Institution Kunst mit ihren Produktionsbedingungen, ihren Ausstellungsmöglichkeiten und ihren Preisen insgesamt infrage. Hier sehen wir exemplarisch moderne Tendenzen, um den Kunstbegriff auszuweiten und mit den Lebensbedingungen der Künstlerinnen und Künstler zusammenzuführen. Auch der Geist der Arbeiten von Aby Warburg legt es daher nahe, dass die Kunst insgesamt in jeder Epoche wieder von ihren Tendenzen zur Verdinglichung zurück zum Spannungsfeld von Formauflösung und Formwerdung hin befreit werden muss.[6] Das gilt auch für die künstlerischen Arbeiten seiner Frau. Diese waren ihm anscheinend so nahegerückt, dass er sie nicht mehr als fremd wahrgenommen hat. Nicht ist hier also zu fragen, ob Marys Arbeiten dem absterbenden Formbegriff ihrer Epoche entsprechen, sondern danach, ob sie nicht vielmehr als die Vorboten einer kommenden Zeit anzusehen sind, die stärker die Entstehungsbedingungen weiblicher Kunst in den Blick nehmen? Umso wichtiger ist daher das Resümee des Buches: »Ein ebenso ansehnliches wie bedeutendes künstlerisches Werk ist trotz dieser inneren und äußeren Widerstände entstanden und es verdient uneingeschränkte Anerkennung oder auch – Bewunderung.« (S. 77)

Kontexte

Die Autor*innen zeigen dann weiter, wie auch nach der Nazizeit das konsequente Übersehen der Künstlerin sich fortsetzt und die Männer aus dem Feudalbetrieb der Kunsthallen diese Ignoranz der Künstlerin gegenüber fortschreiben. Diese und andere Fehlurteile zurückzunehmen, bemühen sich die weiteren Beiträge des Katalogs. Sie fragen nach den Bezügen Marys zur modernen Kunst, zu den lokalen Möglichkeiten ihrer Karriere in Hamburg vor ihrer Heirat, den Grabmalentwürfen für ihre Familie, den Reiseskizzen eines Besuches in Rothenburg ob der Tauber oder den wissenschaftlichen Zeichnungen für die Ausstellung ihres Mannes. Zwei weitere Texte aus der Familie schließen sich an: Ihre Enkelin Jutta Braden berichtet über die Konversion von Marys jüdischem Urgroßvaters zum Christentum und ihr Enkel John schildert seine Sicht als Vertreter der Familie im Londoner Warburg-Institut auf ihre Kunstwerke. Das Werkverzeichnis gibt dann eindrückliche Beispiele in kleineren und größeren Formaten ihrer Arbeiten. Dabei fallen vor allem – neben dem wunderbaren »Palazzo Potetje« – die Aquarelle ins Auge, die sie anlässlich verschiedener Reisen nach England und in die Alpen unternommen hat: Es scheint als wachse sie mit ihren Gegenständen. Die Dokumente schließlich ergänzen das Bild um verschiedene Tagebucheintragungen und Zeugnisse aus der Korrespondenz mit Aby und den Kindern.

Kunst und Verbergen

Viele der Werke sind eindrucksvoll; das Ergebnis aber bleibt umso schmerzlicher unvollständig und Stückwerk, im emphatischen Sinne Allegorie. Gerade darin liegt das Reizvolle dieses Buches. In unserer Zeit sind die optischen und geistigen Instrumente zur Betrachtung dieser Kunst noch immer nicht scharf genug geschliffen, um sie zu sehen und zu verstehen. Nicht umsonst endet der Hauptessay mit einem Zitat Robert Walsers aus dem Jahr 1925: »Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich.« (S. 87) So scheint auch das, was Mary Warburg als Konzeption denn anstrebte, ferner denn je zu sein. Kunst, so lernt man anhand ihrer Arbeiten wieder schmerzlich, verbirgt mindestens genauso viel, wie sie zeigt. Freilich muss sie erst aus dem Archivdunkel geholt und präsentiert werden, um das zu erkennen. Das geschieht mit diesem Band.

[1] Ein ähnliches Verhältnis finden wir auch beispielsweise bei Hannah Ahrend und Martin Heidegger, die nach Antonia Grünberg unter der Formel: »Die wichtigste Philosophin und der wichtigste Philosoph ihrer Epoche« zusammengekommen sein sollen. Auch hier kommt im Wesentlichen wieder der Mann zum Zuge. Vgl. Antonia Grünberg, Hannah Arendt und Martin Heidegger: Geschichte einer Liebe, München: Piper 2008.

[2] Vgl. Eva Weissweiler, Das Echo deiner Frage: Dora und Walter Benjamin, Hamburg: Hoffmann und Campe 2020

[3] »Mary und Aby, zwei Hanseaten, gleichen Standes und Alters, beide mit zweisilbigen anglophonen, auf ein Ypsilon endenden Vornamen, beide an einem 13. des jeweiligen Monats geboren und, das Wichtigste, beide vor allem in Sachen Kunst versiert — die eine der konkreten Praxis, der andere der Theorie und Geschichte nach. Die beiden haben sich auf Anhieb bestens verstanden, wie dem Tagebucheintrag unschwer zu entnehmen ist. Dass Mary aufmerksam den Ausführungen des Studenten, der gerade auf der Suche nach einem Dissertationsthema aus dem Gebiet der Renaissance Kunst war, gefolgt ist und es angeregte Unterhaltungen über die Kunst, deren Gegenwart und Vergangenheit gegeben hat, steht außer Frage. Der Zufall wollte es, dass eine sehr begeisterungsfähige Künstlerin auf einen gleichermaßen begeisterten Kunsthistoriker gestoßen ist. Mary hat in Florenz damals einen Gesprächspartner gefunden, der ihr in vergleichbarer intellektueller Statur bislang noch nicht begegnet war.« (S. 20). Vom »Treffen der Künstlerin mit dem Kunsthistoriker« geht es gleich weiter zu dessen Dissertationsthema und seiner intellektuellen Statur. Soviel zur »Gleichheit« der beiden.

[4] Vgl. Doris Lessing, Das goldene Notizbuch (1962), Frankfurt am Main: Fischer 1989

[5] Vgl. Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung (1908), Paderborn, München: Fink 2007. Hedinger und Diers zeigen, dass es bei den Ehrungen Aby Warburgs, bei denen die Büste Marys verwendet wurde, nicht von ihrem Kunstwerk, sondern wie von Warburg selbst die Rede war (vgl. S. 79). Das entspricht dem traditionellen symbolischen Kunst- und Zeichenbegriff.

[6] »Athen will eben immer wieder neu aus Alexandrien zurückerobert sein.« (Warburg, »Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten«, in: Warburg GS I, S. 400.

Artikel online seit 20.04.21
 

Mary Warburg
Porträt einer Künstlerin
Beiträge von J. Braden, M. Diers, S. Haug, B. Hedinger, J. Prag, A. Völker, M. Warnke, Mitarbeit von Andrea Völker
Hirmer Verlag
536 Seiten, 900 Abbildungen in Farbe
gebunden
68,00 €
978-3-7774-3614-2

 

 


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