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Die doppelte Annette

Anne Webers
biographisches Versepos über
das Leben der Anne Beaumanoir

Von Lothar Struck
 

Das Genre ist bereits im Titel eingearbeitet: "Annette, ein Heldinnenepos". Annette ist Anne Beaumanoir (ganz genau: Raymonde Marcelle Anne Beaumanoir), die alle nur Annette nennen, 1923 geboren; sie wird in diesem Jahr 97 Jahre alt. 2000 erschien ihr erstes Erinnerungsbuch in Frankreich 2019 ins Deutsche übersetzt). Und die deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber, die seit den 1980er-Jahren in Paris wohnt, hat aus Begegnungen mit ihr, Recherchen und Lektüren nun ein "Versepos" über diese Heldin verfasst.

In Monika Marons kürzlich erschienenem Roman über einen "Artur Lanz" wird Rede gehalten über das, was man postheroische Zeit nennt, das Ende des (männlichen) Heldentums. Assoziiert wird der Held fast nur noch mit "Nation" oder "Krieg" und weil beides niemand mehr möchte, braucht man ihn nicht mehr. Neuerdings stürzt man ja auch Denkmäler. Die Pointe an einer Stelle im Roman, dass man allenfalls noch einen Essensbestelldienst als "Lieferheld" apostrophiert, hatte sich zwischenzeitlich schon durch eine Namensänderung erledigt. Wie auch immer, "Held" ist immer irgendwie verdächtig, vor allem in Deutschland. Vielleicht weil man gerade dort so oft die falschen Helden gefeiert hat.

Und nun ein Versepos über eine Heldin – zeitgeistwiderspenstiger könnte kaum etwas sein. Ein Wagnis. Aber es gelingt. Und am Ende fragt man sich warum.

Es beginnt mit einer Großeltern-Idylle, aber auch die Eltern mögen sich, sind präsent. Vorbilder. Mit 13 kam Annette mit einer "Flüchtlingin" (Anne Weber, die Handke-Leserin und -Übersetzerin!) aus dem spanischen Bürgerkrieg in Kontakt. Prägungen. Mit 17 verrichtete sie Kurierdienste für die Résistance, überbrachte Nachrichten, deren Sinn sie nicht verstand, nicht verstehen sollte, für den Fall, dass sie gefasst wurde. Sie ging, was ungewöhnlich genug war für ein Mädchen, das aus der Bretagne kam, nach Paris, studierte in der Besatzerzeit dort Medizin. Aber sie war hungrig auf "Heldentaten", klebte Plakate, verteilte Flugblätter, ging schließlich mit ihrer großen Liebe Roland in den Untergrund. "Sie will kämpfen wie ein wahrer Kämpfer". Man hilft einer jüdischen Familie, bringt deren Kinder in Sicherheit (die Eltern entkommen nicht) und an dem Tag, an dem sie doch deren fast neugeborenes Baby vor der Gestapo rettet, treibt Annette ihr Kind bei einer Frau, "die Engel macht" (musste das sein?), ab.

Das Paar muss sich trennen. Sie werden sich nie mehr wiedersehen. Die Nachricht, dass Roland umgekommen ist, glaubt sie lange nicht, will es nicht glauben. Kaum Zeit für Trauer, denn es geht weiter. Leben im Untergrund, in ständiger Angst. Und wie ist es mit den Kommunisten in der Résistance? Deren Gerichte sind beinhart, sie dulden keinen Widerspruch. Sie kommt in Kontakt mit den Gaullisten, die nicht nur besser bezahlen, sondern auch gelassener sind. Marxisten einerseits, "Leichtsinnixten" andererseits. Und ja, Sprachspiele gibt es reichlich, etwa wenn es einmal heißt, man sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und der Leser mit dem Schlimmsten rechnet. Aber dann ist es genau das, was vor der Gestapo gerettet hat.

De Gaulles Soldaten kommen in den Süden, befreien Frankreich. Es sind viele Algerier, Marokkaner, Afrikaner darunter (was dann später eine Rolle spielt). Annette ist in Marseille angekommen. Sie ist gerade 20, 1,60 m, 50 kg mit rundlichem Gesicht (das Cover?) und soll mit sechs anderen (alles Männer) "säubern", Kollaborateure von Nichtkollaborateuren trennen. Wie macht man das? Wer entscheidet? Gerichte gibt es nur für die gravierenden Fälle. So fallen 8000 Menschen diesen Säuberungen in Frankreich zum Opfer; oft genügt nur ein Gerücht. De Gaulle kommt zu Besuch – Annette vergöttert ihn (die anderen Kameraden eher nicht). Sie erhascht einen Blick, aber "zum Mittagessen sind sie nicht geladen". Und in der neuen Zeitschrift der Kommunisten wird erklärt, wie Frauen stricken oder kochen.

Es gibt eine "doppelte Annette". Die eine, die innere Annette, weiß instinktiv, was richtig ist. Die äußere Annette ist die Kommunistin, die die Moral gesagt bekommt. Sie, die wie es schon zu Beginn heißt, nicht an Gott glaubt ("aber er an sie", sagt trotzig die Sängerin), soll an einen -Ismus glauben? "Klassenfeinde" bespitzeln, überwachen?

Sie heiratet, erst einmal (schnelle Scheidung) und dann noch einmal, einen Arzt und eine angesehene Familie. Zwei Kinder. Sie wird Ärztin, Neurophysiologin. "Die Illusionen werden sie gemeinsam los". Und ja, sie ist "ein echter Christenmensch" – man darf es nicht zu laut sagen (siehe oben). Es gibt ein paar Jahre Ruhe für Annette, dann beginnt das "Revolutionieren" erneut. Frankreichs Sündenfall: Algerien.

Was Frankreich in Algerien macht wird verglichen mit dem, was die Nazis in Frankreich gemacht haben. Annette lässt es keine Ruhe. Als die Sängerin noch mehr weiß als der Leser heißt es: 

"[…] Im Rückblick hat sie
eine Wahl, die vorwärts blickend ihr verborgen blieb,
wie man im Dunkeln tappt mit kleinen, folgenschweren
Schritten, weil man nicht stehenbleiben kann, sondern
sich fortbewegen muss. Am Ende hat sie vieles, was ihr
wichtig war, verloren. Man kann nicht alles haben,
heißt es dann. Nichts haben aber kann man schon.
Ideal Wunschtraum Ziel, ersehntes, unvorhandnes
Land der Zukunft, gibt es dich noch, bist du noch da?
- Hier bin ich, hier! Ein Stimmchen antwortet getreu
wie eine ewige, in unsichtbarer Ferne flackernde Flamme."

Sie schließt sich der FLN, der kommunistisch inspirierten Unabhängigkeitsbewegung Algeriens an, wird "Kofferträgerin", Geldbotin, Unterschlupfverwalterin (mit großem Schlüsselbund) und auch eine Schwangerschaft stört ihre Aktivitäten nicht. Der Mann kann und will sie nicht aufhalten; sie nimmt in Kauf, dass die Kinder ohne sie aufwachsen (und macht sich manchmal Vorwürfe). Aber es geht ums Prinzip. Nicht um die Unabhängigkeit. Auch, wenn ein Judenhasser das Geld verteilt. Ihr Chef einen Mercedes fährt (sie irgendwann einen Fiat). Die FLN terrorisiert, foltert, mordet (in acht Jahren 19000 Zivilisten, davon 16000 Algerier).

Also "…eine Folter gegen die andere auszutauschen?" Sie weiß, "Religionen trennen, statt zu einen", aber sie hilft dem FLN, der nur den Islam zulässt (und den "Sozialismus"). Sie liest Camus. Der Mensch in der Revolte. Und Camus' Ablehnung der Gewalt der FLN. Das Zitat, das ihn zum Paria der Linken machte. In Anspielung auf den Terrorismus der FLN in den Straßen von Algier sagt Camus: "Ich glaube an die Gerechtigkeit, aber bevor ich die Gerechtigkeit verteidige, werde ich meine Mutter verteidigen." Camus' Zerrissenheit. Annette kann nicht anders.  

"Einige Augen muss sie dabei schließen, das Auge
beispielsweise, dass die zerfetzten Kinder sehen kann,
die bei Anschlägen in Bars und Tramways in Algier
und woanders sterben…"

Schließlich wird sie verraten, festgenommen. "Araberflittchen" titelt man in den französischen Zeitungen. Nicht die Isolationshaft, aber das Zusammenkommen im Gefängnis mit anderen, auch algerischen Mitgefangenen (darunter einer echten Terroristin), wird fast idyllisch besungen ("lustige Runde"). In der Untersuchungshaft widmet sie sich wieder der Medizin. Annette täuscht Probleme mit der Schwangerschaft vor, kommt frei. Myriam kommt zur Welt. Als der Prozess beginnt – vor einem Militärgericht (so war Frankreich damals) -  ist sie sicher, dass das Urteil schon feststeht. Zehn Jahre. Zehn Jahre ohne die Kinder, ohne ihren Mann, ohne ihre Eltern. Sie flieht im September 1960, geht in den Untergrund, das kennt sie von ihrer Résistance-Zeit. Mit Helfern kommt sie nach Tunis. Von dort koordiniert die FLN ihren Widerstand und nun ist auch Annette dabei. 

"…Annette träumt noch den
Traum eines sozialistischen, gerechten Landes und
ahnt nicht – will vielleicht nicht ahnen,
sondern hoffen -, was diese Männer später mal
draus machen. Sie träumt von diesem lang ersehnten
Ort des Glücks…"

Aber: 

"Da ist der Traum vom guten Land. Dann gibt es noch
den Traum vom guten Leben…
[…]
Es gibt die Träume. Und es gibt das Erwachen. In diesem
Neuen, ungeträumten Leben kann man – kann sie - nicht
alles haben: streiten für eine bessre Welt, Gefahren trotzen,
Kinder kriegen…"

Der Plan, die Kinder ab und zu in Rom zu sehen, scheitert. Kurz verzagt Annette: 

"…Zum
Teufel mit dem FLN, mit sämtlichen Algeriern, zum
Teufel mit de Gaulle und mit den Kommunisten. Zum
Teufel, tausend Mal zum Teufel mit ihr selbst."

Und dann lernt sie Amara kennen. Und lieben. Es ist zunächst seine Stimme, die "für einen Gläubigen // vielleicht die Stimme Gottes wäre". Es ist ein jüngerer Mann, ein Algerier, ein Kämpfer, ein Geliebter und ein Beschützer. Sie bleibt dabei und dann wird das Ziel erreicht. Die Unabhängigkeit. Erst die Freude, die "Herrschaft der Laetitia", dann die Abrechnungen. Sie verrät den Verräter von Paris, der keine Chance bekommt.  

"sie will alles richtig machen, aber es gibt vielleicht
kein 'richtig'…"  

Sie lernt Ben Bella kennen, der später Staatschef wird. Sie mag ihn. Er ist ehrlich. Aber er arrangiert sich mit dem Militär. Sie hilft mit, im Gesundheitsministerium. Der "dritte Weg für eine dritte Welt". Aber lange geht das nicht gut. Der Putsch des Militärs. Die Träume zerplatzen und mit ihnen die Hoffnungen. "Der Krieg ist aus, der Krieg geht weiter". Das Leben mit Amara wird schwieriger; er bleibt bei sich und seiner Familie. (Lest einfach weiter.)

Sie begibt sich in Isolation, kann bei Freunden für kurz ein Haus bewohnen, taucht wieder einmal unter. Sie reflektiert über das Geschehene:

"…Die Wahrheit ist, dass sie für einen
souveränen Staat, der binnen kurzer Zeit
- und für sehr lange, für Jahrzehnte, was sie
zum Glück an ihrem Zufluchtsort nicht weiß –
zu einem Militärregime mutiert ist, alles
eingebüßt hat."

Sie kehrt zurück nach Europa, arbeitet als Ärztin in der Schweiz und lebt jetzt, seit 30 Jahren, in einem Ort der "Dieulefit" ("Gott-hats-gemacht") heißt. Es gab wohl noch ein paar "Weltverbesserungsversuche", aber das Epos ist vorher zu Ende.

Manchmal purzeln und ruckeln die Verse etwas. Vielleicht hat Anne Weber auch eine einzige, große (und manchmal großartige) Moritat geschrieben. Die Moral von der Geschichte ist die nicht zu beseitigende Ambivalenz zwischen Aktion und Reaktion. Oder, wie die Autorin in ihrem Zeitreisetagebuch "Ahnen" 2015 geschrieben hatte, zwischen "Real und Ideal". Im Gefängnis überlegt Annette einmal, ob sie "auf der falschen Seite" geboren wurde, "auf der der Unterdrücker, Kolonisatoren?" Und sie fragt: "Eine Art Erbsünde?" Aber sie (sie?) findet einen Ausweg: "Sie ist Bretonin" (es ist eher ein Trost).

So einfach macht es sich Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, in "Ahnen" nicht. Sie forscht ihrem Urgroßvater Florens Christian Rang (1864-1924; von ihr im Buch "Sanderling" genannt) nach, versucht darüber auch Details über ihren nazistischen Großvater in Erfahrung zu bringen, eventuell eine Kontinuität bis hin zu den Nazis zu entdecken. Ihr Vater ist dabei kaum eine Hilfe; er möchte es nicht so genau wissen und die Tochter möchte den Mann schonen. Gleich zu Beginn spricht Weber von der "Bürde", als Deutsche auf die Welt gekommen zu sein. Es genüge nicht, "ein paar Jahre später geboren und überdies vielleicht noch ausgewandert zu sein, um nicht dazuzugehören", so bekräftigt sie später ihre Empfindungen, die fast Schamgefühle sind. Kurz darauf findet sie einen Umgang damit: Wenn "es etwas gäbe, was die Deutschen kennzeichnet und von allen anderen deutlich unterscheidet, dann wäre es wohl das Bewusstsein des in Deutschland Getanen, dieser besonderen, tödlichen Art des made in Germany." Dieses Bewusstsein, so Weber, "lebe in allen" (sogar im Leugner), man könne es "nicht verlieren, ebenso wenig wie man sich von einem Herzfehler lossagen kann." Geschichte sei "etwas Angeborenes", so lautet ihre Hypothese.

Ist Geschichte also ein Gefängnis, aus dem es für die Nachkommen kein Entrinnen gibt? Und sind Helden oder Heldinnen jene, die die unheilvolle Vergangenheit, die zugleich immer auch ein Stück der Gegenwart darstellt, verwandeln wollen in eine irgendwie bessere Zukunft? Nicht umsonst fällt bei Weber das Wort "Kollektivschuld" nicht, ja, sie bestreitet gar die Verantwortung einer irgendwie bezeichneten Masse. Weber besteht auf das Individuum, auf jeden einzelnen. Sie versöhnt sich mit ihrem Urgroßvater durch die Lektüre des im Jahr seines Todes verfassten Buches "Deutsche Bauhütte" (welches tatsächlich 2015 im Wallstein-Verlag aus dem Vergessen geholt und nachgedruckt wurde), in dem er die Individuen gemahnt, die Kriegszerstörungen in Frankreich und Belgien unabhängig der institutionell vereinbarten bzw. verhängten Reparationszahlungen zu beseitigen. Ein Appell an das tätige Individuum. Bei ihm, dem umtriebigen wie bisweilen seiner Zeit verhafteten Urgroßvater, erkennt sie das "Rad des Gewissens" und kann mit "Inbrunst" dessen "Unbedingtheit, seiner schweren Natur, seines maßlosen Ernstes, seiner Ungemütlichkeit und Ruhelosigkeit" und seiner Not gedenken. Auf seine Art, mit seinen Möglichkeiten, ist Webers Urgroßvater, der einstige preußische Beamte und protestantische Pfarrer, der gute Bekannte u. a. von Martin Buber und Walter Benjamin, auch so etwas wie ein Held.

Anne Webers Heldinnengedicht eröffnet eine verblüffende Erkenntnis: Helden, Heldinnen sind nie makellos. Heldentum hat nichts mit Fehlerlosigkeit oder Perfektionismus zu tun. Der Perfektionist wird nie ein Held sein können. Helden sind keine übersinnlichen Wesen, sie bleiben Menschen. Ihre Zweifel sind keine Schwäche. (Das weiß selbst die Kirche.) Nur Ideologen kennen keine Zweifel. Helden haben und machen Fehler. Aber etwas, was sie gemacht haben, macht sie zu Helden. 

Am Ende erzählt die Sängerin von der ersten Begegnung mit der greisen Annette, auf einem Podium. Es ist für sie ein "Liebesblitz", eine Epiphanie, ja fast so etwas wie eine (säkulare) Offenbarung. Hieraus entstand dieses Buch. Recht so.

Artikel online seit 15.04.20
 

Anne Weber
Annette,
ein Heldinnenepos
Matthes & Seitz, Berlin 2020
208 Seiten
22,00 €
978-3-95757-845-7

Leseprobe



 

 


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