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Elogen an den Augenblick

Andrzej Stasiuks »Beskiden-Chronik« bestehta aus
76 funkelnden
Feuilletons und poetischen Minitauren

Von Lothar Struck
 

Endlich wieder ein neues Buch von Andrzej Stasiuk. "Beskiden-Chronik" heißt es, 2018 in Polen erstmals erschienen. Stasiuk wohnt ja irgendwo in den Beskiden, an der polnisch-slowakischen Grenze, in einem Haus ohne Fernsehen (aber mit WLAN), einem Holzofen und einigen Schafen. Versammelt sind 76 Feuilletons auf fast 300 Seiten, "Nachrichten aus Polen und der Welt", so der Untertitel, die Stasiuk in den 2010er-Jahren für die polnische Wochenzeitschrift "Tygodnik Powszechny" geschrieben hat. Übersetzt wurden sie wieder einmal von der fabelhaften Renate Schmidgall.

Es sind zumeist "4000-Zeichen"-Texte, dreieinhalb, vier Seiten; nur wenige sind länger (die ausführlichste hat 14 Seiten). Stasiuk bleibt sich auch hier treu: Er schreibt von "meinem Land" (gemeint ist Polen – beziehungsweise, wenn er dann gerade da ist, Kasachstan oder die Mongolei), beobachtet die Vögel, die in klirrender Kälte an seinem Haus überwintern (und binnen vier Wochen 10 kg Sonnenblumenkerne und einige Scheiben Speck konsumiert haben), ärgert sich, in seiner Jugend seriös nur anderthalb Monate Russisch gelernt zu haben, erzählt von den Gerüchen der unterschiedlichen Holzarten, die in seinem Ofen verbrennen, erinnert sich an einen orthodoxen Trauergottesdienst, besucht Friedhöfe, spricht dort Grabgebete (bewegend seine Epitaphe wie beispielsweise auf seinen Freund Mariusz Kargal), entdeckt Kaufhäuser mit "luziferischen" Lichterketten als Zufluchtsorte für die Alten, die sich zwar nichts kaufen können, aber einen Platz haben, berichtet von einer Lesung, in der die Zuschauer permanent wechselten (er fand das nicht so schlecht), redet mit seinen Schafen oder setzt einen "last call" zu einem von ihm aufgegabelten slowakischen Jagdhund, den er aufgepeppelt hat. Stasiuk lobt "die Ereignislosigkeit der Tageszeit" ist jedoch auch fasziniert von "großflächige[m] Nichts" in der Steppe. Er ist begeistert vom "Wunder des Oktobers". Und er preist den Frühling, der endlich diese "langen Februartage" mit Nächten von minus 20 Grad ablöst.

Es sind natürlich die Reiseerzählungen, dieses Suchen (und Finden!) von Orten, in denen, wie er einmal schreibt, "unsere Anwesenheit endgültig versinkt", die Stasiuks Texte so unverwechselbar machen. Beschwörungen von Landschaften und, das ist wichtig, den Menschen darin, die bei ihm nie ver- oder beurteilt werden. Da ist das Lächeln der zunächst so resolut erscheinenden russischen Zollbeamtin, die für ihn ein Dokument "frisiert" und ihm erst das Herumfahren im Altai ermöglicht, weil er sonst in Kosch-Agatsch auf die Einreise in die Mongolei wegen eines Festes fünf Tage hätte warten müssen. Und selbst korrupte Polizisten oder esoterische Welterklärer erwecken seine raubeinig-freundliche Neugier.

Semipalatinsk ist nur "Staub, Hitze, Müll." Und dennoch vermittelt er die Schönheit dieser Stadt. Er genießt einen Ort an der "litauischen Grenze mit dem verregneten See", wird melancholisch bei der Zugfahrt aus Kiew heraus, einer Stadt, "die ihren Fluß wert ist", begeistert sich für die "schönen Frauen von Chorog". Selbst dem "stinkenden Land"  mit dem "schlechtesten Essen der Welt" nebst "grauenvollem Kaffee" vermag er noch etwas abzugewinnen (der Leser dieser Zeilen darf raten, welches Land gemeint ist; es ist nicht ganz einfach). Er beobachtet eine Schafherde, die im Nebel versinkt, aber mit ihren Glocken hörbar bleibt und ist sicher: "Solange die Schafe wandern, gerät die Welt nicht aus den Fugen".

Man kann viele seiner Reise auf Google Maps nachvollziehen, nahezu jedes Dorf, an dem sich etwas ereignet hat oder was für ihn warum auch immer wichtig ist, wird erwähnt, ja: gewürdigt! So beispielsweise an einem Karfreitag, als er von seinem Haus in einer Parforcetour nach Piran (Slowenien) aufbricht um nach einer Nonne zu suchen, "die weiße Blumen in eine Vase stellt". Oder seine Reisen nach Kasachstan mit Abstecher nach Astana, jener Retortenstadt, die einerseits hässlich und für Stasiuk zugleich auch bewundernswert ist, nicht zuletzt, weil die Menschen dort so stolz darauf sind und er sich als Europäer plötzlich wie ein "liberal-demokratisches Schwein" vorkommt, weil man dies eigentlich unter den politischen Verhältnissen verurteilen müsste. (Wie er wohl die Namensänderung von Astana zu Nursultan findet?)

Nein, Stasiuk ist kein Schwärmer. Seine Evokationen sind Elogen an den Augenblick. Er hält, wie es einmal heißt, das Leben für eine kurze Zeit einfach an. Dieses "Verweile doch, Du bist so schön" geschieht trotz des  Elends, des Hässlichen, des Bösen in der Welt. Selten kommen beide Richtungen zu Wort. So, wenn er seinem "Dämon der Nostalgie" huldigt und den alten Grenzort Konieczna besucht, sich erinnert an sich den Tag, als unter anderem auch Polen und die Slowakei dem Schengen-Raum beitraten, diese Freude noch einmal erlebt und den schleichenden Abbau der Grenze (der Gebäude, der Personen) skizziert. Dann jedoch überkommt es ihn: "Hej, Junge"! Die Welt steht nicht still, alles kann sich ändern!" Er wird ironisch: "Schließlich könnte mein heldenhaftes Vaterland die Unabhängigkeit wiedererlangen!" Und dann: "werden die weiß-roten Schlagbäume zurückkehren, die Häuschen mit den Schaltern…"

Überhaupt die Politik. Stasiuk macht keinen Hehl aus seiner Liebe zu seinem Mutter- und Vaterland und einmal, im Anblick "mit dem Bild [eines] Apriltages unter den Lidern" bekennt er sogar, sterben zu können für dieses Land - für diesem Bild. Aber es ist kein chauvinistisches Pathos und auch nicht mit der aktuellen (partei)politischen Situation seiner Heimat zu verwechseln. Wie sich die Politiker (in Polen) verhalten sei tatsächlich eine Schande, so Stasiuk, "aber man muss ja nicht immer hinschauen". Protestbriefen von Intellektuellen verweigert er sich, amüsiert sich bisweilen auch über die Verfasser und deren Drang, ihn zur Unterschrift zu gewinnen. Der Panik, dass das Land in Flammen stünde, kontert er mit einem Ausflug, der ihn, wie er sagt,  vor einem potentiellen schlechten Gewissen immunisiert. Als er einmal nach Deutschland fliegt, wird er empfangen "als käme ich von der Front". "Was ist mit Polen los?", fragt man ihn fast entgeistert. Die Aufregung versteht er nicht bzw. hält er für übertrieben. Wenn er sich äußert, dann bittet er um Verständnis für sein Land (und andere Osteuropäer), die vielleicht zu schnell in die EU gekommen seien und nach Jahrzehnten der Diktatur mit den Gepflogenheiten von Demokratie und Rechtsstaat noch nicht vertraut waren. Einmal spricht er vom Intermarium. Dann wieder berichtet vom Maidan, als sei er mit Juri Andruchowytsch in Kiew und Serhij Zhadan in Charkiw dabeigewesen. Wie man, so Stasiuk, dieses Land vergesse. Wie die EU ihre Ostgrenzen einfach nach Belieben bestimme. Und wie man 1968 glaubte, die UdSSR würde ewig bestehen. 

Selten, dass sein politischer Geist unheilvoll raunt. Am Tag, als Donald Trump gewählt wurde, fürchtet er, "dass sein Größenwahn und sein dröhnender Übermut gegen seine Naivität verlieren" wird. Zweimal wird Stasiuk zornig: Zum einen wenn er das Konzentrationslager Theresienstadt besucht und dort eine Art Holocaust-Woodstock vorfindet. Die kleine Wutrede auf diese Form von Popkultur hat sich gewaschen. Und ein andermal geht es um die Charlie-Hebdo-Karikaturisten. Er verabscheut die Morde vom Januar 2015, stellt aber klar, dass es falsch sei, diese "eher arroganten Schnösel" mit ihren "grauenhaft dumm[en]" Zeichnungen und Bildunterschriften  als Helden der Meinungsfreiheit abzufeiern.

Die Flüchtlingsströme von 2015 kommentiert Stasiuk besonnen. Die Welt sei zum "gemeinsamen Raum" gemacht, der westliche Wohlstand global sichtbar geworden. "Wir haben sie hergelockt". "Sie hatten", so Stasiuk, "keine andere Wahl", als sich auf den Weg zu machen. Wir, die Europäer, hätten dies geradezu provoziert. Und wieviel Angst man jetzt, auch und gerade in Polen, vor diesen Menschen habe.

Zuweilen wird mit dem Feuilleton-Schreiben kokettiert. Ihm falle nichts ein, außer "Langeweile. Käse. Nebel." Um dann aus seiner Erinnerung ein kleines Abenteuer zu erzählen. Viele seiner Texte haben Feier- oder Gedenktage als Grundlage: Ostern, Allerseelen (der wichtigste Feiertag in Polen, wie er schreibt), Neujahr, Dreikönigstag. Schließlich schreibt er für eine sich katholisch nennende Wochenzeitung. Aber auch hiermit spielt Stasiuk, biedert sich nicht an, bleibt kritisch, aber nie respektlos. Auch nicht, wenn er die "sauren Mienen" der verbitterten, alten, katholischen Bischöfe heftig kritisiert. Diese Männer, so die Quintessenz seines Textes, stehen dem Glauben (seinem Glauben?) mit ihren Verknöcherungen im Weg. Die Gretchenfrage beantwortet er scheinbar nebenbei selber: er nennt sich "Pantheist" (und das glaubt man ihm sofort).

Auf die Frage, welche Gegenwartsautoren er schätze, antwortet er, dass er "nur Tote" lese. Die Lebenden seien noch nicht fertig und man müsse ihnen "eine Chance geben". So hält er es auch mit seinen eher seltenen Buch- oder eher Autorenbesprechungen. Kein gutes Wort findet er für die "Ekelhaftigkeiten" in Witold Gombrowicz' Tagebüchern. Bei der Reiseschriftstellerin Ella Maillart entdeckt er "Leidenschaft. Hingabe. Demut." (Stasiuk liebt bisweilen den Dreiklang.) Seine Bemerkungen zu Sandor Marai und Czesław Miłosz sind freundlich. Euphorisch wird er bei Jáchym Topol (und seinen drei ominösen Freunden). Die Photographien von Wiktor Wołkow preist er enthusiasmiert. Nur einmal macht er eine Ausnahme, wenn er über den lebenden Jacek Kleyff schreibt, einer Art polnischer Bob Dylan, der ihn eines Tages einfach besuchen kommt.

Obwohl die Texte kurz sind und oft ein Bogen durch tausende Kilometer oder Jahrzehnte der Geschichte wird, ist der Leser immer mittendrin, freilich im wohligen Gefühl, das alles nicht ertragen zu müssen, diese Hitze in der Wüste, die Trauer auf dem Friedhof oder das Herumgefahre auf Schotterstrassen. Stasiuk macht das für uns, er zeigt uns die Schönheit der Welt, wo man sie selber nie suchen und – das ist die Kunst des Dichters – niemals sehen würde. Es gibt niemanden, der den Osten mit seinem "vieldeutigen Reiz" in derart kraftvoller, poetisch-ruppiger Ehrfurcht erzählt wie Andrzej Stasiuk.  


Artikel online seit 30.09.19
 

Andrzej Stasiuk
Beskiden-Chronik
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Suhrkamp
303 Seiten 23,00 €
978-3-518-42929-7

Leseprobe

 

 


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