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Abstiegskampf

Die »Süddeutsche Zeitung« wird geschrumpft.

Von Wolfram Schütte

Als Anfangs des Jahres bekannt wurde, dass Kurt Kister (62) den Posten des Chefredakteurs der »Süddeutschen Zeitung« verlassen & (wohl unter den Fittichen des 56 jährigen Wolfgang Kracht?) erstmals eine Frau, die 42jährige Judith Witwer vom »Zürcher Tagesanzeiger«,  die »andere« der beiden renommiertesten deutschen Tageszeitungen  führen würde, konnte man der  Verlagsmitteilung, Kister trete »auf eigenen Wunsch« zurück, durchaus einmal Glauben schenken. Obwohl diese Formel üblicherweise gebraucht wird, um das Gesicht zu wahren bei  Entlassung oder Trennung im Streit.

Allerdings hätten das nur Abonnenten der SZ wissen können. Und zwar, weil nur sie die launig-humoristischen Bemerkungen Kisters über seine frustrierende Funktion als »ehemaliger Journalist« , der nur noch verwaltet & seine unverhohlene Verachtung für die knausrig-ignoranten Besitzer der SZ mit Vergnügen verfolgen konnten, mit denen der brillant grantelnde Chefredakteur immer wieder  seine »Abonnentenbriefe« getrüffelt hatte. Das war ein exklusives monatliches Vergnügen, dem allerdings nur kundige Abonnenten im Internet-Revier der SZ frönen konnten. Als dort die junge Online-Chefredakteurin Julia Bönisch die kesse Lippe Kisters aber imitierte & gleichfalls  (& zwar über die Redaktion & deren »Edelfedern«-Häuptlinge) sich in einem ihrer Abonnentenbriefe spöttisch mokierte, war das ein interner Skandal, & sie wurde bald darauf freigestellt. Quod licet jovi non licet bovi.

Die persönlichen journalistischen Verlustanzeigen, die der langjährige Auslandskorrespondent in seiner ungeliebten Rolle als Chefredakteur mit wachsender Kritik-Lust & schlechter werdender Laune begleitete, konnte man dem ehemaligen »Vollblutjournalisten« vollauf abnehmen. Statt zu schreiben & zu kommentieren, musste er sich in seiner anregenden oder schlichtenden & mit den Besitzen streitenden Rolle zufrieden geben. Um seiner Schreiblust & Formulierfreude nachzugehen (& um angestauten »Dampf abzulassen«), sind wohl überhaupt seine charakteristischen Abonnentenbriefe entstanden, mit denen eine besonders enge privilegierte Beziehung zwischen »Premium«-Lesern & Führungspersonen der Münchner Zeitung für Deutschland digital gestiftet werde sollte.

Ohnehin hat das Blatt früher & spezifischer als seine Frankfurter Konkurrentin in seine elektronische Zukunft investiert & sie durch eine Vielzahl von digitalen Sonderangeboten für ihre Lesekundschaft attraktiv gemacht. Erst kürzlich hat der Verlag gemeldet, dass innerhalb eines Jahres die Zahl seiner digitalen Abonnements sich auf 150.000 hochgeschraubt hat, was heißt, dass sich die Digital-Abos im Vergleich zu 2019 verdoppelt haben.

Als Heribert Prantl - für eine beträchtliche Zahl seiner ständigen Leser der linksliberale »Leuchtturm« der SZ – im vergangenen Jahr stillschweigend zwangspensioniert wurde, sicherte sich das Blatt die fortdauernde Tätigkeit  & die permanente journalistische Präsenz des bekannten Zeitkritikers. Prantl ist seither wöchentlich gleich zweifach vertreten. Der Kolumnist äußert sich samstags an prominenter Stelle im Printprodukt & wirft sonntags im SZ-Blog seinen »Blick« auf die kommende Woche. (Dort rezensiert er auch Bücher & annonciert andere Artikel der SZ.)

Frei von administrativen Verpflichtungen selbstbestimmt sich äußern zu können: dieses Privileg dürfte dem unter seinen ungeliebten Chefredakteurs-Verwaltungen demonstrativ stöhnenden Kister für einen »editor at large« doch auch verlockend erschienen sein. Hat er nicht vielleicht deshalb die auch von anderen SZ-Redakteuren belieferten »Abonnentenbriefen« kürzlich eingestellt, um mit der nur noch von ihm geschriebene Serie »Deutscher Alltag«, als seinem «Alleinstellungsmerkmal«,  auch ein Bein in der digitalen SZ zu haben?

Als diese Woche die TAZ meldete, dass die »Südwestdeutsche Medienholding« (SWMH), der u.a. die SZ gehört, bis zum Jahresende sich von mindestens 50 Redakteuren & Redakteurinnen trennen wolle, wurde diese Verlagsentscheidung pünktlich zum Abgang des Chefredakteurs Kister &  gewissermaßen als Morgengabe der neuen Mit-Chefredakteurin Wittwer vollzogen.

Waren Kister die Schrumpfungspläne der SWMH schon seit längerem bekannt? Hatte er dagegen opponiert & langfristig auf seinen abgefederten Rücktritt mit dem digitalen Freisitz seines »Deutschen Alltags« hingearbeitet?

So sicher es ist, dass auch die beste deutsche Printpresse allerorten sich im Abstiegskampf befindet, so prekär ist die berufliche Situation für den Journalismus generell – speziell für die Hochqualifizierten. Was die nähere selbstbestimmte Zukunft des Ex-Chefredakteurs Kurt Kister bei der »Süddeutschen Zeitung« angeht, ist er für die nächsten 2,3 Jahre bis zu seiner Pensionierung dem ursprünglichen Ziel seines journalistischen Berufswunschs, dem Feuilleton, noch nie näher gewesen als jetzt, wo er seine Aufmerksamkeit & sein Vergnügen am Sprachwitz & Gedankenblitz dem »Deutschen Alltag« zuwenden kann, wann immer er will..

Artikel online seit 18.09.20
 

 

 


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