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»Das Fehlen des parabolischen Erzählens«

Olga Tokarczuks Vorlesung zur Nobelpreisverleihung

Von Gregor Keuschnig
 

Bereits im Herbst hatte mich die englische Übersetzung der Nobelpreisrede von Olga Tokarczuk beeindruckt. Diese liegt nun im soeben erschienenen Band »Der liebevolle Erzähler« (der Titel der Nobelpreisrede) auf deutsch übersetzt von Lisa Palmes vor. Der Band versammelt auch noch den instruktiven Essay »Wie Übersetzer die Welt retten« sowie eine Art Chronik der Nobelpreisvergabe vom 9. Oktober  bis 13. Dezember 2019.

»Der liebevolle Erzähler« beginnt mit einigen sehr persönlichen Bemerkungen von Olga Tokarczuk und ihrem Verhältnis zu ihrer Mutter. Dann entwickelt sie ihre literarische Agenda, hebt hervor, wie die Möglichkeit des Erzählens eines »Ich« die Literatur revolutioniert habe: »Die Ich-Erzählung scheint eine der größten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation zu sein«, denn sie »machte die Erzählung über die Welt als einen Ort, an dem Helden oder Gottheiten ohne unseren Einfluss handelten, zu unserer individuellen Erzählung und überließ so die Bühne Menschen wie uns.« Was jedoch fehle, sei »die parabolische Dimension der Erzählung.« Bei der Parabel müsse das Individuum »seine Getrenntheit aufgeben und zu Jedermann werden.« Das Fehlen des parabolischen Erzählens zeugt, so Tokarczuk, »von unserer Ratlosigkeit«.

Aber die Literatur hat Konkurrenz bekommen. »Eine neue Form des Welt-Erzählens« sei entstanden: »die Streamingserie, deren heimliche Aufgabe es ist, uns in Trance zu versetzen« und »die Aufmerksamkeit des Zuschauers« durch »mehr und mehr Handlungsfäden so lange wie möglich zu fesseln«.  »Die potenzielle Fortsetzung einer Serie in weiteren Staffeln erfordert ein offenes Ende, bei dem es niemals zum geheimnisvollen Phänomen der Katharsis kommen kann und darf – zum inneren Wandel, zur Auflösung, zum Vergnügen, die Handlung verfolgt und durchschaut zu haben.« Dies verändere unsere Wahrnehmung.

Es ist erstaunlich, dass Tokarczuk im Rahmen dieser Rede nicht die Durchhalteparolen des Betriebes herunterbetet, sondern skeptisch-realistisch die Zukunft der Literatur und speziell des Romans sieht. Sie könnten zu »narrativen Randerscheinungen« werden. Begründet wird dies mit dem »komplexe[n] psychologische[n] Perzeptionsprozess«, den das Lesen verlange. »Zunächst wird ein schwer greifbarer Inhalt konzeptualisiert, verbalisiert, in Zeichen und Symbole umgewandelt, um anschließend wieder in die Erfahrung ›zurückentschlüsselt‹ zu werden. Das setzt eine gewisse intellektuelle Kompetenz voraus. Vor allem aber verlangt es Aufmerksamkeit und Konzentration – zwei in unserer heutigen Welt mit ihren zahlreichen Ablenkungen zunehmend seltene Gaben.«

Sie spricht dabei auch das Internet und die damit verbundene Informationsflut bzw. das, was man Information nennt, an. »Im Überfluss an Informationen verlieren die einzelnen Nachrichten ihre Konturen, werden irreal, entfallen unserem Gedächtnis und gehen ganz verloren.« Einher gehe damit eine »von allen Seiten herankriechende Unruhe«, die »epidemisch um sich« greife.

Daher plädiert sie weiterhin für die Möglichkeiten der Literatur. Dabei ist sie gegen die Dichotomie von wahr und falsch. Literatur beginne dann, «wenn wir versuchten, Ereignisse mithilfe unseres Erfahrungsschatzes zu verstehen und einzuordnen, also beim Übergang von der Frage ›Was geschah dann?‹ zur Frage ›Warum geschah es?‹– selbst wenn wir diese Frage immer wieder mit einem simplen ›Ich weiß es nicht‹ beantworten sollten.« (Dies könnte man ganz gut als Kommentar auf die unsägliche Diskussion um die Jugoslawien-Texte Peter Handkes anlässlich seiner Nobelpreis-Nominierung anwenden.)

Tokarczuk beharrt darauf, dass nur die Literatur »tief in das Leben eines anderen Wesens« eindringen könne. Aber die einst befreiende »Ich«-Fokussierung erweist sich als Sackgasse. Wie kann das »unkommunikatives Gefängnis des ›Ich‹« gesprengt werden? Es ist die Suche nach den »Grundfesten für eine neue Universal-Erzählung […] für eine ganzheitliche, allumfassende, in der Natur verwurzelte Narration, die die unterschiedlichsten Kontexte mit einbezieht und dennoch verständlich bleibt.« Der Traum ist ein »neuer Erzähler – ein Erzähler in der 'vierten Person'«, der »die Perspektive sämtlicher Figuren mit einnimmt und zugleich den Horizont jeder einzelnen überschreitet, der mehr und weiter sieht, der die Zeit außer Acht lassen kann.«

Mehrmals verwendet Tokarczuk das Wort »vielleicht«– die Suchbewegung noch unterstreichend. Vielleicht ist das Bruchstückhafte, das Fragment die Lösung? Wäre das, so überlegt man sich, die Abkehr des Romans als großer Gesellschaftserzählung? Vielleicht wäre, so Olga Tokarczuk, eine Art »Neo-Surrealismus« die Lösung, der »nicht die Konfrontation mit dem Paradoxen scheuen und die sich gegen die simple Einordnung nach Ursache und Wirkung sträuben« würde? Am Ende wagt sie es dann auch noch »sich auf die geschlossenen Strukturen der Mythologie zu besinnen«, die »dem Zustand der Unbestimmtheit, in dem wir heute leben, zu einem Gefühl der Stabilität beitragen« könnte. Da denkt man an die Erzählerin des Fledermaus-Romans und deren mythisch-esoterisches Weltbild. Das kann allerdings höchstens als Karikatur (oder Abschreckung?) gemeint sein.

Wie passt dieser Anspruch zu jenem Interview, welches unmittelbar nach der Bekanntgabe des Nobelpreises im Deutschlandfunk Kultur mit zwei Tokarczuk-Übersetzern – Lothar Quinkenstein und die Schriftstellerin Esther Kinsky - geführt wurde? Kinsky goss dabei Wasser in den aufgetischten Wein zur Feierstunde, in dem sie dezidiert Stellung gegen die Sprache von Tokarczuk, insbesondere in deren »Jakobsbüchern«, bezogen hatte. Sie hatte es irgendwann abgelehnt, ihre Bücher weiter zu übersetzen; es seien Auftragsarbeiten gewesen. Der Gesprächsleiter war wohl überrascht, als Kinsky von einem »Sammelsurium […] von verschiedenen Beiträgen« sprach, »in denen ich überhaupt keine Linie, Struktur erkennen konnte.« Tokarczuk profitiere, so Kinsky, von den Übersetzungen, wobei sie ausdrücklich Quinkenstein und Lisa Palmes heraushob (eine Möglichkeit, die indirekt auch in ihrem Übersetzungsessay anklingt).

Man kommt danach wohl nicht umhin, sich irgendwann an die fast 1200 Seiten der »Jakobsbücher« heranzuwagen.

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Artikel online seit 05.08.20
 

Olga Tokarczuk
Der liebevolle Erzähler
Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur.
Übersetzt aus dem Polnischen von Lisa Palmes
Kampa Verlag
144 Seiten | Gebunden
€ (D) 16,–
978 3 311 10019 5
 

 

 


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