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Pocahontas revisited –

Das mythologische Ei, aus dem die Geschichte Amerikas schlüpfte.
Klaus Theweleits dickleibige heterogene Kulturgeschichte

Von Wolfgang Bock

 

Pocahontas in Wonderland und Shakespeare On Tour

Klaus Theweleit ist ein eigenwilliger Lacanianer. Und so legt er mit seinem neuen Buch etwas vor, was sich auf eine ganz eigene Art zwischen dem Literarischen, dem Symbolischen und dem Realen bewegt. Wie seine anderen Meister Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihren Werken über den Schizo und die Tausend Plateaus, so gibt es auch in seinem neuen Buch über Pocahontas eine bunte und rhizomatisch sich ausdehnende Mischung aus allen Kultur- und Literaturgattungen: mit anderen Worten, es geht um eine emphatische horizontale Popkultur.[1] Darin gleicht Theweleit einem anderen Lacanianer, nämlich Slavoj Zizek, dass er sich durch alle Programme zappt und alle Songs, Filme, Bücher und Comics, die er zum Thema finden kann, aufzählt, zitiert und auch selbst wie ein Pop-Autor schreibt: Rolf Dieter Brinkmann und Arno Schmidt lassen grüßen. Die von Walt Disney schmalzig verfilmte Indianer-Geschichte von der Eingeborenen Häuptlingstochter Pocahontas und dem Engländer John Smith, den sie rettet, in den sie sich verliebt und dem sie nach London folgt, wo sie stirbt, inspirierte auch William Shakespeare zu seinem letzten Stück Der Sturm, das auf einer Nebelinsel spielt, die von Hexen bewohnt ist.

Falsche Mortifikation der Frau am Grunde der patriarchalen Kultur

Wie begegnet man diesen 2000 Seiten in vier Bänden bei Matthes & Seitz, von denen Band 1 und Band 4 schon 1999 bei Stroemfeld/Roter Stern veröffentlicht wurden? Dort erschienen auch Theweleits andere dickleibigen Bücher wie die Männerphantasien über die phantasmagorischen Männer-Freikorpsromane und Das Buch der Könige über die eitlen Dichterfürsten und ihre vielfach ausgebeuteten Frauen.[2] Das Prinzip bleibt in Theweleits Schriften jeweils gleich: die reale, im Leben den Mann existentiell fordernde Frau bleibt gegenüber dessen kompensatorischer Kultur- und Phantasieproduktion trotz gegenteiliger Behauptung auf der Strecke. Was der Mann vorgeblich liebt, das bringt er im realen Leben zu Tode. Theweleit liefert dafür den entsprechenden historischen Unterbau, beispielsweise in der Geschichte von Eurydike, die Orpheus nur vorgeblich versucht, aus der Unterwelt herauszuholen. In Wirklichkeit, so lautet Theweleits zentrale These, will der Sänger gar nicht, dass sie real überlebt, denn dann kann er sie nicht mehr spielerisch als Wunschideal ausbeuten. Daher streicht die Typographie die Verbindung zwischen beiden durch und folgt so dem wirklichen Leben: Orpheus und Eurydike muss es folglich richtig heißen. Und entsprechend heißt es über solche Mortifikation der Frau am Grunde der patriarchalen Kultur auch bei Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche.[3]

Blättern, Schauen, Lesen

Wie verhält man sich nun gegenüber den neuen dicken Bänden, die auf dem Schreibtisch liegen? Eine bewährte Möglichkeit ist, es wie bei allen früheren Büchern Theweleits auch zu machen: sich die Bände hin und wieder vorzunehmen und sich ein paar Tage durch die Bildergeschichten und die Überschriften zu blättern. So machen die Leserin und der Leser sich selbst ein Bild, schaffen sich eine Struktur, um den Phantasieströmen, die auch die Bücher speisen, nicht völlig hilflos ausgeliefert zu sein. Bis dann der Zeitpunkt gekommen ist und man anfängt, die Bücher doch von vorn bis hinten zu lesen. Denn „am Anfang anfangen“ heißt es nur polemisch in Aldous Huxleys Brave New World; wir andern sind immer schon mittendrin im hermeneutischen Zirkel der Kultur. Und auch Theweleit selbst erschafft ja nichts Neues. Er setzt dort an, wo er vorher schon immer seine Bücher angefangen und aufgehört hatte: beim Geschlechterverhältnis – der einen eine Befreiung und Lust, dem anderen die Erbsünde. Auch bei der Pocahontas-Geschichte geht es als Anlass zunächst noch einmal um die Eroberung des Körpers der Menschen der Neuen Welt durch die Männer der Alten wie in den deutschen Freikorpsromanen, um dann daraus auf die Vorgeschichte der Ethnologie bei den antiken Griechen zuzugreifen, den Ansatz zu universalisieren, um schließlich in einer exemplarischen Studie in der Lüneburger Heide zu landen – das globale Dorf lässt als geschlossene Monade grüßen.

Der weibliche Schoß und die heterogene Kulturgeschichte

Von dieser Eroberung Amerikas und der daraus folgenden mythologischen Geschichte handelt also der erste, nun aktualisierte Band, den wir prinzipiell schon kennen. Der neue zweite, der eine Art Prequel darstellt, fasst die entsprechende Landnahme in Griechenland 2000 Jahre v. Chr. durch indogermanische Stämme ins Auge und die umgelogene Schaffung der klassischen griechischen Kultur aus wirklicher Vergewaltigung, so wie sie in der Medea-Geschichte und in den Kulturtheorien von J. J. Bachofen, Marcel Mauss und Alfred Sohn Rethel durchklingt.[4] Am Anfang war also die Frau- und Landnahme, der wir alle entspringen – und nicht die Nahme, die Carl Schmidt in seinem Buch über den Nomos der Erde juristisch rechtfertigen wollte – und damit ein gigantisches #Me.Too, dass fast schon wieder die Dimensionen von Augustinus Erbsünde annimmt.[5] Im dritten Band fügt Theweleit, ganz Deleuzianer und Lacanianer, jetzt eine Kulturgeschichte des homo oeconomicus mit seinen nicht nur inneren Wunschmaschinen, sondern auch äußeren technischen Möglichkeiten an und geht in die Details der Landnahme und deren technischen Voraussetzungen. Das ist gleichsam eine triebtheoretisch unterfütterte Nebengeschichte zu Hans Blumenbergs Genese der kopernikanischen Welt.[6] Die Bände 2 und 3 der Tetralogie sind also neu eingereiht vor den 4. Abschlussband. Diesen bildet dann wieder die aktualisierte Fassung der exemplarischen Geschichte von Pocahontas nun in der norddeutschen Provinz, die der Weltbürger Arno Schmidt geliefert hat. Der kannte bekanntlich den Wilden Westen wie schon Karl May, wie seine eigene Westentasche. Schmidts Räuber-Beute-Beziehung zwischen Männern und Frauen als Anfang und Ende der Kultur erscheint nun auch wie Gustave Courberts Skandalgemälde von 1866 Der Ursprung der Welt – die Vulva als der verdeckte wirkliche Ursprung der Kultur. Schließlich muss eben auch Augustinus zugeben, dass die Menschen immer aus einem weiblichen Schoß in die Welt gelangen. Alles andere ist die institutionalisierte Lüge der affirmativen Kultur als Ideologie. Statt sublimierte vertikaler Wahrheit wie in Truth is love, gilt also eine horizontale emotionale Logik: die reale Frau, Ruth is love, und evoziert die Triebe des Mannes.

#MeToo – wir alle sind Autochthone/Flüchtlinge

Das Ganze ist wie immer unterhaltsam und assoziativ geschrieben, detailverliebt und mit schrägen Einwürfen, englischen Worten und Wortspielen, die die Psychoanalyse und Lacans Ideen der Lautverschiebungen – aus Pocahontas wird so Pocahauntas – und die der Emotionalität der Sprache bei Sandor Ferenczi voraussetzen. Immer bleibt der Anglist Theweleit daher auch ein emphatischer Anhänger der Beatnick-Kultur und der Rockmusik: Bob Dylan, Neil Young und die amerikanischen Country Sänger, die süßlich sublimiert von Pocahontas handeln oder offen repressiv entsublimiert davon träumen, mit ihr zu schlafen, sind als Hintergrund-sound backstage immer anwesend. Die entsprechende Glorifizierung der amerikanischen Indigenen zum Ursprungsmythos der Einwanderer münden so in eine große Kritik des #MeToo: Wir alle sind Kinder von Eroberern, Autochthonen und Flüchtlingen, Mischlinge, Mestizen, die mit einem geschönten Kulturbegriff leben, den Theweleit nun umfassend und sicherlich richtig aufdeckt.

Trouble in Paradies: Einspruch

Doch versuchen wir es statt mit weiteren Details nun mit ein wenig Dialektik, denn das ist die These. Der Skeptiker aber fragt auch nach der Antithesis. Denn im Hintergrund des Blicks auf Pocahontas Amerika und den Rest der Welt steht vielleicht eine kleine Sentenz, die Theweleit in den Männerphantasien bereits ausgeführt hatte und an dem sich nun der notwendige Widerspruch entzündet: anhand der Geschichte der Her Majesty’ s Ship Bounty, deren Meuterer den Häschern der Krone dauerhaft entkamen und sich mit ihren neuen Frauen auf einer unzugänglichen Südseeinsel niederließen, stellt er dort die Frage, warum denn die gebeutelten und gepressten anderen europäischen Matrosen auf den Schiffen, die die träumerischen Inseln und Kontinente der Übersee erreichten, nicht dort bei ihren Prinzessinnen und Prinzen blieben, um repressionsfrei im Paradies zu lieben und zu leben? Ja, warum sind sie nicht alle auf Jamaika, in Mexiko, in Brasilien geblieben und leben dort bis heute das gute Leben? Der Kritiker, der seit einiger Zeit in Lateinamerika lebt, ist vielleicht nicht der einzige, der eine ähnliche Erfahrung gemacht hat, nämlich dass es in den ehemaligen Kolonien nicht allein aufgrund der offenen Repression des Kolonialismus nicht immer nur schöner ist, sondern es da möglicherweise auch aus anderen Gründen schlimmer ist als dort, wovon man weg wollte. Diese Erkenntnis einer Romantisierung des ruralen Lebens des Indigenen sprengt den Theweleitschen Kosmos zwar nicht vollständig auf; er gibt ihm aber die notwendige Aussicht auf etwas anderes, was der Immanenz und der Trennschärfe der vielen Ebenen ansonsten zum Opfer fällt: Es gibt ein Außen der Theweleitschen Welt und dessen Registrierung ist als Einspruch gegen seine Generalthese notwendig. Denn so sehr Theweleit sich bemüht, in seine Kulturtheorie für alles, alle Elemente einzubeziehen, so sehr ist er doch auch gefangen in dem Dispositiv der Europäer, die den Rassismus in einer Weise betrachten, die Michel Foucault in seinem Buch In Verteidigung der Gesellschaft versucht hat, aufzubrechen: immer geht es auch in seinem Diskurs um die Herrschaft neuer und andere rivalisierender Rechtfertigungsgruppen im Namen der Aufklärung.[7] Das gilt nicht nur für die Theorien der Anderen, sondern auch für Theweleits eigene. Denn von dieser Verschlingung bleibt seine Theorie ebensowenig unberührt wie die der Gutmenschen der Black life matters-Bewegung, der Gender-Anhänger und ähnlicher Formen. Den Reformern ist eine eigene Art von Gewalt eigen, die, setzt sie sich ungebremst durch, nicht selten schlimmer ist als diejenige, die abgeschafft werden soll: die Revolution frisst bekanntlich ihre Kinder. Adorno hat dieses dialektische Gegenmotiv in einem kleinen Aphorismus der Minima Moralia mit einem programmatischen Titel benannt. Dessen Parataxis würde vielleicht heute schon einem repressiven neuen Index der antirassistischen Korrektheit verfallen, spräche man ihn aktuell aus und ließe ihn nicht historisch im Jahr 1951, als er geschrieben wurde. Er lautet so schlicht wie böse: „Die Wilden sind nicht bessere Menschen.“[8] Diese Erwähnung soll Theweleits Leistung beileibe nicht schmälern, sie könnte ihr aber die pathetische und opernhafte Wucht der 2000 Seiten nehmen, die doch auch nur auf die fragile These der Konzeption der Projekts zurückgeht. Warum es die Welt nicht gibt, lautet der Titel eines Buches von Markus Gabriel.[9] Von diesem ist weiter nichts erwähnenswert als eine richtige Kritik an dem Systemzwang in jenem Titel. Will heißen: dass die Welt nicht als ganzheitliche da ist, auch wenn man sie wie Theweleit in lauter Fragmente auflöst, die übereinandergestapelt werden.

[1] Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari, Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977 und dies., Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie / Kapitalismus und Schizophrenie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993.
[2] Vgl. Klaus Theweleit, Männerphantasien (2 Bde), Frankfurt am Main, Basel: Verlag Roter Stern / Stroemfeld 1977, 1978 und ders., Das Buch der Könige (4. Bde), Frankfurt am Main Basel: Verlag Roter Stern / Stroemfeld 1988, 1994.
[3] Vgl. Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München: Kunstmann 1994
[4] Vgl. Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht: Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Eine Auswahl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, Marcel Mauss, Die Gabe Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990 und Alfred Sohn Rethel, Warenform und Denkform, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992.
[5] Vgl. Carl Schmitt, Staat – Großraum – Nomos, Berlin: Duncker & Humblot 1995.
[6] Vgl. Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt (3 Bde)., Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975.
[7] Vgl. Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft: Vorlesung am Collège de France (1975-1976), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009.
[8] Adorno, Minima Moralia, GS 4, S. 85.
[9] Vgl. Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin: Ullstein 2015.

Artikel online seit 30.09.20
 

Klaus Theweleit:
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»You give me fever«. Arno Schmidt. Seelandschaft mit Pocahontas: Die Sexualität schreiben nach WWII.
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