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Die programmatische Essenz eines Lebens

Ulrich Peltzers Bildungsroman »Das bist du«

Von Lothar Struck
 

Der namenlos bleibende Ich-Erzähler in Ulrich Peltzers neuem Roman "Das bist du" erinnert sich schreibend an seine Zeit als Student Anfang der 1980er Jahre in West-Berlin. Vieles spricht dafür, dass der Anlass ein Stadtbesuch ist. Was hat sich verändert? Was ist aus den Freunden, Bekannten geworden? Wo hat er früher gewohnt? Gibt es noch das Wohnheim mit Portier für satte 250 Mark (immerhin alle zwei Woche frische Bettwäsche und Handtücher)? Was ist mit der Bude danach, in Wilmersdorf, "Innenklo, Ofenheizung, Hinterhaus",108 Mark. Nichts mehr auffindbar.

Die Protagonisten des Romans heißen unter anderem Hartwig, Paul, Gunther, Anke, Nils, Berthold, Eddie oder Valérie. Studenten, Studienabbrecher, Personen, die in einer Stadt leben wollten, "die noch nicht leer geträumt war" (und, was nicht erwähnt wird, die einem den Wehrdienst ersparte). Sie sind in den 1950er Jahre geboren (der Erzähler 1957). Während die 68er begonnen hatten, ihren Marsch durch die Institutionen anzutreten, bildeten sie die Nachhut. Man wusste: "Der Mensch ist das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse", nannte sich "Genosse". Es gab einen "Delegiertenrat". Arbeit am "Umsturz der Verhältnisse". Erstaunlich dabei, wie unpolitisch man der Tagespolitik gegenüber stand.

Es kam darauf an, das Richtige zu lesen. Hier lag schon früh der Zwiespalt des Erzählers. "Dass ein neues Wort eine neue Welt bedeuten kann, und nicht nur bedeuten, daran glaubten wir fest." Er meinte es eher literarisch, seine Freunde gesellschaftspolitisch. Seine Idole hießen Rolf-Dieter Brinkmann, Peter Handke oder Cesare Pavese. Es war die Zeit, als das Lesen noch geholfen hatte.

Es musste auch gelebt werden. Die "Halbwaisenrente" lief aus. Geldnot. Anträge. Ein Pendeln zwischen Studium, Ausgehen, ab und zu ein bisschen Drogen (Tequila, eine "Line", Ephedrin, Captagon, Bier) und dem Aufsaugen von Literatur, Kultur. Weitermachen mit dem Psychologiestudium? "Fußnoten zu Fußnoten" setzen? Oder einen Roman schreiben. Es gab Notizen. Anfänge.

Nach nur wenigen Seiten sitzt man im Sound des Romans wie in einem bequemen Sessel. Es ist ein Monolog, streng im Präteritum. Zwischen die einzelnen Erinnerungen werden Ausschnitte aus des Erzählers Diplomarbeit oder Gedichte und Musiktexte zeitzeugenhaft eingestreut. Villon, Tranströmer, Bob Dylan. Und Filme über Filme. Das Kino wird für die Dauer der Vorstellung zum Refugium vor der Welt da draußen. Statt Rudi Carrell Straub und Huillet oder "zwölf Stunden Rivette". Nachträglich die Frage, was davon heute noch Stand hält, nach dem sich die "Gefühlslagen" längst geändert haben.

Die Kernzeit der Erzählung, eine speziellen Art des Rekapitulierens, besteht aus etwas mehr als einem Jahr, dem Jahr mit Leonore, die ihn irgendwie aus dem drohenden Depri-Sumpf zu Beginn herauszieht. Wie aus dem One-Night-Stand nicht zuletzt durch "Rom, Blicke" eine Liebschaft wurde. Und, durchaus mit einer Prise Suspense inszeniert, diese zerbrach, weil Leonore…aber nein, das soll nicht verraten werden. Zumal, wenn man genau liest, auch der Erzähler…

Er machte eine kleine Erbschaft, die ihm die Mutter zukommen ließ, die irgendwo im Rheinland lebte, der Heimat der Erzählers. Sofort kaufte er sich ein altes Auto (für den Rest im Winter Briketts). Gleichzeitig nahm er sein vernachlässigtes Studium über die "Ausbildung der neuzeitlichen Seele" wieder auf. Es ging um "Formen der Affektkontrolle", nicht nur mit Foucault, Theweleit, Lacan, David Cooper, Freud und Marx, sondern auch mit Robinson Crusoe, Hamlet oder Othello. Teilnahme an Lesegruppen, eine nannte sich  "Anti-Ödipus". Ein Mythos, der passend zurechtgebogen wurde. Damals. Ist es heute anders? Alles wurde vereinnahmt, interpretiert, auf Politisches reduziert. Aktion oder Dichtung? Realität oder Literatur? Beides – schwer möglich, eher exotisch. "Ich muss meine Verachtung zügeln", eine Handlungsmaxime des Erzählers. Beginnende Entfremdung – das wäre auch ein Titel für diesen Roman gewesen.

Schwanken zwischen "Kleinmut und Größenphantasien". Angst, Existenzangst, der "geheime Zwillingsbruder". Das alles trat mit Leonore in den Hintergrund. Jetzt heißt es eher "Lust, Schweiß, Erschöpfung". Nachträglich verwundert es den Erzähler, der mit und über alles Polaroid-Fotos gemacht hatte, dass es keine Bilder mit Leonore gibt. Nicht einmal Notizen. So bleibt nur die Erinnerung, die vielleicht umso klarer wird, weil es keine Ausflucht, keine Korrektur durch ein Foto, eine Notiz, gibt. Der glücklichste Moment in diesem Buch, ein Ausflug mit Leonore in Zandvoort, wird damit, ohne "Nachweis", noch epiphanischer. Dass die Erinnerung bisweilen bruchstückhaft ist, stört ihn nicht. Dann wird eben erfunden, hinzugefügt. Warum nicht?

Unterdessen Knüpfen von Kontakten, Bekannte, die die universitären Regeln nicht nur kennen sondern auch biegsam anwenden, ein Privatdozent als Mentor. Romanprojekte wurden ad acta gelegt. Leonore tippte seine Arbeit ab (verbesserte selbständig bisweilen den Duktus). Dennoch "ein Gefühl der Unsicherheit, das mich nie mehr verlassen hat". Unsicherheit, nicht zu genügen, Unsicherheit, das richtige zu tun. Oder nur Koketterie?
Zwischenzeitlich leichtes Abdriften in Milieuschilderungen. Er wurde kurz in die Geheimnisse des Filmvorführens eingeweiht (es gibt einen Colombo-Fall, in dem dies gezeigt wurde). Leonore bekam einen Job; Konfrontation mit Dingen und Vorgängen, die er nicht mag, wie Firmenessen, Überstunden oder Kaufmannssprache.

Einige Ideale hätten sich im Laufe der Zeit in Luft aufgelöst, so beantwortete der Erzähler die Frage eines Prüfers, was ihm das Studium gebracht habe. Aber bei Peltzer gibt es keine grundlegenden Verwandlungen. Er nennt sie eher "Schwenks", einmal "Mutation". Die Desillusionierung, die das Studium und die kurze Zeit als forensischer Gutachter von Strafgefangenen hervorgerufen hatte, ist ein Prozess, wird pragmatisch als Erfahrung genutzt. Also zurück, nein: hin zum Schreiben.

Man muss den Titel "Das bist du" als programmatische Essenz eines Lebens lesen, was zuweilen an Eugen Rapp denken lässt, dem Alter Ego des großen Hermann Lenz. Peltzer hat einen Entwicklungs- oder sogar Bildungsroman geschrieben, in nüchternem, fast analytischen, aber durchaus selbstbewussten Ton, anknüpfend an das vom Erzähler einst formulierte Schreibideal: "Nur das Äußere…schildern, ohne Psychologie, ohne Innensichten,…als betrachte man einen Film in Worten." Peltzers Erzähler sucht nicht nach der verlorenen Zeit, sondern (er)findet Entwicklungen, reflektiert über das Gewesene, ohne Melancholie und Bitternis aber – und das macht den Roman so lesenswert – auch ohne Verklärung. "Das bist du" könnte der Beginn eines autofiktionalen Schreibprojekts sein. Ich kann die weiteren Romane kaum erwarten.

Artikel online seit 19.04.21
 

Ulrich Peltzer
Das bist du
Roman
S. Fischer
288 Seiten
22,00 €
978-3-10-002466-4

 

 


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