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Georges Perros

Foto:
Editions Finitude
Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported


Der den Wind sucht

Fernab des kulturellen Epizentrums Paris lebte und arbeitete
der literarische Solitär Georges Perros in der
bretonischen
Hafenstadt Douarnenez im
Département Finistère.

Ein Hinweis von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Georges Perros sitzt am Klavier und spielt ein von Franz Liszt bearbeitetes Klavierstück mit dem Titel »Lebe wohl«. Er scheut sich nicht, den deutschen, nicht ganz leichten, weil schon ein wenig älteren Text, mitzusingen.

Mit dieser Szene beginnt die knapp 40-minütige Dokumentation »Une vie ordinaire«, ein gewöhnliches Leben, über jenen französischen Schriftsteller, der als Georges Poulot in einem Pariser Arbeiterviertel 1923 zur Welt kam. Zunächst Schauspieler, lässt er sich Ende der 1950er Jahre in der kleinen bretonischen Hafenstadt Douarnenez nieder – einem Ort, in dessen Geschichte die Namen von Tristan und Isolde, von Piraten und Gestalten der keltischen Mythologie eingeschrieben sind. Die Menschen dort leben hauptsächlich vom Fischfang. Es gibt auch ein paar Bars und Cafés. Die Einwohnerzahl liegt konstant bei etwa 19.000.

Perros' Werk ist schmal, in Deutschland kaum bekannt. Es gibt drei Bände mit Notizen, einen Gedichtband und einen so genannten Gedichtroman mit eben jenem Titel »Une vie ordinaire« aus dem Jahr 1967, dem Anne Weber in der deutschen Übersetzung den schönen, sehr treffenden Titel »Luftschnappen war sein Beruf« gegeben hat. 1978 stirbt Perros in Paris, Kehlkopfkrebs. Zuvor hat er bereits seine Stimme verloren.

»Ich stimme Sinfonien an / allein auf freiem Feld für nichts / und niemanden und jene Augenblicke / sind die Atemzüge meiner Tage«.

Eine andere Szene: Perros fährt Pfeife rauchend, ohne Helm auf seinem verrosteten Motorrad durch die Bretagne – von Douarnenez nach Pont-Croix und weiter nach Esquibien und Pointe du Raz, wo der Himmel öfter das Hemd wechselt als die Bewohner der Dörfer am Meer. Am äußeren westlichen Rand Europas stellt er erstaunt fest: »Blauer Himmel, Kormorane …, aufrechter Felsen.«

Perros kommt als Frühgeburt zur Welt, sein Zwillingsbruder stirbt bei Geburt. Das Thema Atemnot begleitet ihn sein Leben lang. Einmal erkrankt er schwer an einer Bronchitis.
Wohl aus diesem Grund sind Wind und Luft immer wiederkehrende Themen:

»Ich atme. Ich atme. Man könnte meinen, man habe soeben einen mit Tonnen von Seeluft gefüllten Tresor aufgebrochen.«

»… werft / dieses Buch nur in den Wind …«

»Ich mochte es mich im Wind zu spüren / im blauen Weizen der die Beine sticht…«

»Ich lief den Wind suchen…«

»eine böse Luft«

»Ich bin der Mann eines Luftzugs / der ein bisschen zu schnell sein / Fenster fand«

Auch Perros' Verse ringen nach Luft. Der Atem der Verse ist abgehackt, kurzatmig, beinahe atemlos. Es sind Achtsilber. Sie haben in der französischen Literatur eine lange Tradition. Perros erweckt sie zu neuem Leben.

Noch eine Szene: Perros mit Dreitagebart. Er trägt einen langen Mantel, räsoniert über die Beziehung zum Meer. Barbara Zeman macht darauf aufmerksam, dass im Französischen das Meer (la mer) ähnlich klingt wie die Liebe (l'amour) und der Tod (la mort). »Wörter, die sich öffnen wie Austern«, sagt Perros.

Er schläft schlecht und gibt an der Universität Seminare über Unwissenheit. »Ich schreibe in die Löcher«, behauptet er.
Seine Notizhefte (»Klebebilder«) versammeln Aphorismen, Zitate, Beobachtungen, Lektüreeindrücke und Reflexionen. Es geht darin um die Abgründigkeit und den Schmerz der Existenz.
»Papiers Collés« heißen sie im Original, entstanden zwischen 1960 und 1978. Es sind Text-Collagen in der Tradition der Kubisten Braque, Picasso und Gris, den Erfindern jener Papiers Collés. Die Kubisten haben farbige Tapetenstücke und Zeitungspapier in ihre Kunstwerke geklebt (Klebebilder), in die Stilleben Materialien der Alltagswelt integriert und mit den üblichen Malmaterialien vereint. 

Perros Klebebilder versprühen eine dem Tod abgetrotzte Heiterkeit. Es geht um Lebenslust, Liebe, Literatur, Landschaft und Leute, um Malerei und Mallarmé, das Meer, Valéry sowie die Beziehung zwischen Kierkegaard und Regine Olsen. Und vieles mehr.
Ein Buch, sagt Perros, könne er schreiben, wenn er tot ist.

»Ich bin nur ein Passant der an / den Wurzeln eines Heute ohne / Gestern ohne Morgen saugt … Was ich schreibe / steht auf der Mauer der Nacht / Den Säuglingen des Nichts wird / der Mund noch wässrig werden.«

Sätze, die den Atem stocken lassen.

Artikel online seit 08.02.21
 



Georges Perros
Klebebilder

Aus dem Französischen von Anne Weber
Matthes & Seitz, Berlin 2020
860 Seiten
58,00 Euro
978-3-95757-691-0



Georges Perros
Luftschnappen war sein Beruf

Gedichtroman
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Anne Weber
Matthes & Seitz Berlin 2012,
161 Seiten
22,90 Euro
978-3-88221-583-0

Weitere Informationen:
Die Dokumentation über Georges Perros
Une vie ordinaire:


Der großartige Zeman Stadlober Leseklub:

 


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