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Am Nullpunkt der Existenz

David Roussets Dokument »Das KZ-Universum«

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Elie Wiesel dokumentierte einst das Leid eines Kindes in Auschwitz. Wiesel nannte es den »Engel mit den traurigen Augen«. Die SS hing dieses Kind auf. Wiesel schreibt: »Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biß sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz.« Dieses namenlose Kind kämpfte mehr als eine halbe Stunde mit dem Tod, weil es für den Strick zu leicht war, um sofort sterben zu dürfen. In den Minuten des Todeskampfs fragt einer der Zuschauer, wo angesichts dieser Barbarei Gott eigentlich sei. Wiesel hörte eine Stimme hinter sich antworten: »Dort – dort hängt er, am Galgen …«

In »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« hat Hannah Arendt konstatiert, Konzentrations- und Vernichtungslager dienten »dem totalen Herrschaftsapparat als Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, daß Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist.« Es handele sich darum, »festzustellen, was überhaupt möglich ist, und den Beweis dafür zu erbringen, daß schlechthin alles möglich ist.« Der Terror in den Lagern als Fortsetzung der nazistischen Ideologie in Praxis sei hierzu das Mittel: Wieviel Leid ist ein Körper zu ertragen imstande?

Die Fakten sind seit Langem bekannt: Der Sadismus, die Disziplin, die Ordnung, der Gehorsam, der Drill, vor allem aber: Die Gaskammern, die Menschenversuche, die Massenexekutionen, die Hungertode, die fehlenden Hygienemaßnahmen, die Zwangssterilisationen, die unmenschlichen Arbeitsbedingungen, der Kannibalismus, die Krankheiten: Typhus, Fleckfieber, Scharlach, Cholera, Dysenterie, Masern, Trachom, Pemphigus vulgaris, Acarodermatitis, Phlegmone.

David Rousset (1912-1997), der keinen unerheblichen Einfluss auf Hannah Arendt hatte und wie auch Wiesel Häftling im KZ Buchenwald war, schrieb schon im August 1945 einen der ersten Berichte über die Konzentrations- und Vernichtungslager, nachdem er den Todesmarsch vom KZ Neuengamme nach Wöbbelin überlebt hatte. Sein Buch über »Das KZ-Universum« erscheint erst jetzt, im Jahr 2020, auf deutsch. Es schildert den Aufbau der Lager sowie die inneren und äußeren Hierarchien und ihre Funktionsweisen. Daneben lässt Rousset zahlreiche Charakterstudien in seinen Text einfließen.

Zum Universum der Lager schreibt er: »Das langsame Warten auf die unausweichliche Vernichtung in Block 7 … Der Todeskampf der vom Terror gebrochenen Menschen kennt alle Spielarten von Erniedrigung und Verrat … Zu Spitzenzeiten werden täglich Zehntausende vergast. Die ausgeraubten Leichen machen die Herren fett. Erstaunliche Vermögen werden angehäuft.«

Rousset berichtet in alptraumhaften Szenen über die zu »KZ-Insassen verwandelten Völker Europas«, über einen Mann mit gefesselten Händen, »auf einer Eisenstange kniend, die langsam und unerbittlich in sein Fleisch eindringt; das Gesicht schweißüberströmt, die aufgerissenen Augen auf einen Scheinwerfer gerichtet, der ihn endlose Stunden lang fixiert, ihm die Lider verbrennt, das Hirn leer räumt und es mit irrsinnigen Ängsten und Wünschen bevölkert, die wie ungestillter Durst sind: Das ist das Los des >KZ-Menschen<«, der sich in den Lagern Stück für Stück auflöst, begleitet von der unstillbaren Wollust der Henker, die die Körper der Gefangenen langsam zugrunde richten.

Bemerkenswert ist auch Roussets Darstellung der Lager-Bürokratie mitsamt der Korruption, der Gewalt, der Gier und dem Hass auch unter den Gefangenen. Die Bürokratie lässt das Leben dort noch grauenvoller werden als es ohnehin schon ist. Doch Roussets Bericht führt dazu, dass die Struktur totaler Herrschaft verständlicher wird. Immer wieder streut er zu diesem Zweck auch Gedanken zu Alfred Jarrys »König Ubu« und Kafkas »Prozess« ein.

Roussets selbst ist ein großer Schriftsteller, dessen schockierendes Dokument endlich in deutscher Fassung vorliegt und von einem profunden Nachwort Jeremy Adlers flankiert wird. Selbst am »Nullpunkt der Existenz« werde, so Adler mit Verweis auf Rousset, »unter den schlimmsten Verhältnissen gelebt, gesehen und gedacht.«

Artikel online seit 24.02.20
 

David Rousset
Das KZ-Universum
Aus dem Französischen von Olga Radetzkaja und Volker Weichsel Mit einem Nachwort von Jeremy Adler und Erläuterungen von Nicolas Bertrand
Suhrkamp
141 Seiten
22,00 €
978-3-633-54302-1

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