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Kreuz- & Querzüge  zu stellenweisem Stil

Das Florilegium des Michael Maar

Von Wolfram Schütte

Wenn man sich an die ebenso launige Prosa wie die unterhaltsame Lektüre des dickleibigen Kompendiums »Die Schlange im Wolfspelz« erinnert, könnte man leichthin auf eine hybride Idee verfallen, die von der Gestaltung der hinteren Umschlagseite des 665seitigen Buchs provoziert wird. Sie besteht darin, dass einem das dort platzierte Foto des Autors Michael Maar wie die gelungenste Metapher für sein Buch erscheint - & das Buch, mit dem er dem »Geheimnis großer Literatur« nachgehen will, in seiner ganzen literarischen Anmutung, Sprachverspieltheit & humoristischen Tonlage dem ebenso verschmitzt wie liebenswürdig einen anlächelnden Autor vollkommen zu entsprechen scheint.

Man ist versucht, dem Verlag für dieses  amüsante quidproquo zu gratulieren (Der Photographin Isolde Ohlbaum ohnehin) – wenn man nicht durch den wunderlichen Schluss des Textes irritiert würde, der einem den 1960 geborenen »Germanisten, Schriftsteller und Literaturkritiker« & seine bisherigen Bücher vorstellt. Der Satz lautet: »Er hat zwei Kinder und lebt in Berlin«.

Very strange!
Zweifellos ist dieser Final-Satz zahllosen biographischen Buch- & Prospekt-Texten von allen möglichen Autorinnen nachgebildet. Gewöhnlich lautet er so; »Sie lebt  (mit ihrer Familie/ ihren x Kindern) in…«
Ich habe mich allerdings schon immer gefragt, was mit dieser genormten Kurzbiographie gesagt  & warum derlei für mich als Leser von Interesse sein sollte. Aber nun erst recht: was soll das bei Michael Maar? Was haben die zwei Kinder, die er »hat«, mit allen seinen Büchern (für Erwachsene!) zu tun? Soll ich die beiden Kinder als Überbleibsel einer ruinierten Ehe betrachten, die bei ihrem allein erziehenden Vater leben, der sie ja auch in seiner Danksagung erwähnt? Wenn es so wäre & die Mutter/Mütter der beiden Kinder deshalb aus der offiziellen Kurzbiographie des Schriftstellers getilgt wurde(n), ist es mir unverständlich, warum mir derlei Spekulation über das Privatleben Michael Maars nahegelegt wird? Vor allem von einem Autor, der als Karl-Kraus-Kenner wissen müsste, was der auch von ihm hochgeschätzte Satiriker von solcherart hielt.

                                     ***

In den späten Fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erschien ein List-Taschenbuch, das für eine ganze Generation von literarisch Interessierten (nicht nur Germanisten) in der Bundesrepublik als Pfadfinder zur modernen deutschsprachigen Literatur fungierte. Ich habe später während meines beruflichen Lebens im Kulturbereich keine Kollegen getroffen, die das Taschenbuch aus dem List-Verlag nicht auch gelesen gehabt hätten.

Geschrieben hatte diese »literarische Streitschrift« der weitgehend unbekannte & erfolglose Erzähler Karlheinz Deschner. (Er hat sein späteres Schriftstellerleben damit zugebracht, bei Rowohlt eine vielbändige »Kriminalgeschichte des Christentums« zu verfassen.) Unter dem Titel »Kitsch, Konvention und Kunst« entfachte Deschner (durchaus wohl auch aus Ressentiment & persönlicher Wut über sein eigenes literarische Scheitern)  1957 eine muntere Polemik gegen Autoren, mit denen man als bundesdeutscher Oberschüler oder Student traktiert wurde: z.B. Stephan Andres, Werner Bergengruen, Rudolf G. Binding, Hans Carossa, Hermann Hesse u.a.

Der einsame Rufer wider diese literarische Karyatiden der »Adenauer-Zeit« hielt ihnen drei monumentale Solitäre entgegen: Hermann Broch, Hans Henny Jahnn & Robert Musil. Als Beleg zitierte er ausführlich Passagen aus deren Werken. Diese Zitate wiesen die drei Unbekannten durch ihre auf Anhieb erkennbare stilistische Qualität  als  wahrhafte »Dichter« der Moderne aus.

Unabhängig von der Frage, ob die umfangreichen Roman-Oeuvres der drei Epiker wirklich vom bundesdeutschen Publikum gelesen wurden – immerhin erschienen von Jahnn im Laufe der folgenden Jahrzehnte drei Werkausgaben, von Musil eine penible Edition als Hardcover & Taschenbuch-Kassette & von Broch eine vielbändige Werkausgabe -, hatte Deschner mit seinem beherzten Schlag ins Justemilieu der restaurativen Altherrenprosa & ihrer Ton angebenden konservativen Rezensenten-Entourage für Aufregung & Aufmerksamkeit  gesorgt. Jedenfalls als junger Leser wusste man damals, was neben Thomas Mann, Bert Brecht oder Gottfried Benn noch große deutschsprachige Literatur war. (Nur Alfred Döblin fehlte noch unter unseren Epikern.)

Deschners »Kitsch, Konvention und Kunst« argumentierte nicht politisch, sondern strikt innerliterarisch-ästhetisch. Gegen Kitsch & Konvention, die er z.B. bei Carossa & Hesse dingfest machte, führt er den Stil seiner drei Meister ins Feld, indem er  zitiert, wie sie z.B. Landschaft sprachlich evozieren. Nur durch diese Akzentuierung des Stils als Entréebillet zur »großer Literatur" berührt sich »Die Schlange im Wolfspelz« nun mit ihrem Bonsai-Vorläufer aus den späten Fünfzigern. (Oder hallt gar in Maars thematischer Dreiteiligkeit von Prosa, »Kürzestausflug: Lyrik« & »Das Pikante und der Spaß der Welt« sogar das ferne Echo von Deschners flotter Triole aus »Landschaftsschilderungen, Liebesbegegnungen & Herbstgedichten« noch nach?)   

Karlheinz Deschner wusste, wogegen & wofür er literarisch mit seiner Sammlung von »Stellen« votierte, als die aktuelle Literatur & der Kanon der deutschsprachigen Literatur, die man kennen, bzw. gelesen haben »musste«, noch fraglos zur Ausstattung des Kulturbürgers gehörte. (Das ist Deschner auch gelungen, wenngleich auch heute der »Bildungsbürger« im Schwinden begriffen ist!)

Michael Maar dagegen schrieb sein umfängliches Buch gewissermaßen als literarischer Privatier. Der kundige Kenner & Liebhaber der Schönen Literatur führt interessierten & lernwilligen Lesern & Leserinnen vor, wie man als Interpret, der mit allen Wassern der literarischen Scheidekunst gewaschen ist, die künstlerische Qualität eines Autors oder einer Autorin eruieren können könnte. Die antrainierten Fortschritte durch Maar-Lektüre könnten  in den zwei beigefügten Literaturquiz  nachgeprüft werden.   

Er gleicht dem Typus eines enthusiastischen Deutschlehrers, der seine neugierigsten Schüler, weil sie passionierte Leser sind, zu regelmäßigen Privatissima in seine Bibliothek einlädt. In seinem persönlichen Lesekabinett von Buch zu Buch gehend, entnimmt er ihnen eine Vielzahl von »Stellen«, an denen der schwelgerische Autor seinen staunenden Lesern & Leserinnen eloquent, humor- & widerspruchsvoll vor Augen führt, was alles bedacht sein sollte, um zu beurteilen, was über Ge- oder Misslingen großer deutschsprachiger Prosa entscheidet - bei diesen ausgewählten Zitaten, versteht sich!

Im Grunde handelt es sich bei Michael Maars subjektiven Kreuz-& Querzügen in der deutschsprachigen Prosa von der Goethezeit bis zur jüngsten Gegenwart um eine amüsante Rundreise zu Fix- oder Angelpunkten rhetorischer Praxis, die im Blick auf die literarische Kunst (mit der Ausnahme des Stil-Chamäleons Döblin) als (Personal-)Stil nobilitiert wird. Dabei macht er besonders gerne & wiederholt bei Joseph Roths »Radetzkymarsch« & beim Oeuvre Thomas Manns, Heimito von Doderers, Kafkas oder Rudolf Borchardts Station.

Der fast vergessene brillante Parodist Robert Neumann findet Maars besondere Bewunderung, weil es ihm über Jahrzehnte hinweg immer wieder geglückt war, alle nur möglichen literarischen  Zeitgenossen durch ihr stilistisches Imitat satirisch dem Spott & der Kritik zuzuführen. Das setzt allerdings eine breite Lesekultur voraus, um verstanden & genossen zu werden. (Nebenbei erfährt man auch, dass sich der eher mittelmäßige Romancier Robert Neumann selbst als Opfer einer Plagiatorin, der vielgelobten »kessen« Irmgard Keun, sah.)

Maars Erkundung & Beurteilung zielt nicht auf eine normative Bestimmung dessen, was generell ein  »gelungener« oder »misslungener«, vulgo »schlechter« Stil sei; sondern auf immer erneute enthusiastische Betrachtung, Analyse & Interpretation punktuell zitierter »Stellen«. An ihnen kann er variabel »durchbuchstabieren«, was die Kunst der sprachlichen Rhetorik seit der Antike begrifflich entwickelt hat (etwa Metapher oder Parataxe), um den Prozess der Kommunikation zwischen dem schöpferischen Autor & dem reproduzierenden  Leser zum Gelingen zu bringen.

Gelungen ist der Stil, wenn die sprachliche Verfasstheit seiner Beschwörung derart suggestiv ist, dass der Leser das Fiktive sich vorstellen kann - & wäre es, wie bei Kleist öfters, auch nur durch einen Gedankenstrich! Vom Wort bis zum Satz, von der Zeichensetzung bis zum Rhythmus (»der schwarzen Kunst der Prosa«), von der Aufzählung bis zur Metapher usw. entfaltet Maar das gesamte analytische Besteck auf den ersten 160 Seiten. Dort schon geht er aber immer beispielhaft, also konkret vor & erst recht dann im großen Rest seines Buchs.

Solange er seine subtilen Jagden nach den Raffinements des Stils am Einzelfall voll- & vorführt, wird man seinen analytischen Interpretationen in den meisten Fällen zustimmen können, ja müssen: ob es sich um Friedrich Nietzsche oder Hildegard Knef, die Briefschreiberin Rahel Varnhagen oder den Tucholsky des »Schloß Gripsholm«, Schopenhauer oder Adorno handelt. Jedoch, wo er von dem Einzelfall seiner Stellen-Kunde generalisierend auf ein Gesamtwerk & dessen generelle Qualität schließt, wird seine Methode prekär & problematisch; besonders, wenn er sich zu einem Negativ-Urteil versteigt, wird der sanfte Maar auch mal diskreditierend, wo nicht gar schlichtweg falsch. Da hilft auch die vorweg freimütig geäußerte Subjektivität seines literarischen Urteils nichts. Si tacuisses….

Unter den Autoren, die er aus seinem Tempel des guten Stils verbannt sehen möchte, sticht seine nahezu hasserfüllte Haltung gegenüber Stefan Zweig hervor, dem er eine galoppierende einfallslose Adjektiv-Diarröh vorwirft (& vornehmlich dessen »Sternstunden der Menschheit« dazu heranzieht).

Im Fall der beiden Ein-Roman-Autoren Novalis & Hölderlin erscheint das negative Stil-Verdikt Maars zutreffend. Dagegen ist das Geständnis, es sei ihm unmöglich, »auch nur in längeren Kapiteln (das Werk H. H. Jahnns) zu lesen«, ebenso affig wie prätentiös. Und zwar, weil Maar statt nach seinem »Einbekenntnis einer Schwäche« zu schweigen, ein Jahnn-Zitat aus dessen Roman »Perrudja« sich vorknöpft, das er einem Essay des Schweizer Kritikers Ingold entnommen hatte & es hämisch-philiströs kommentiert. Es sei zwar »ganz sicher ein Stil, aber ein auf Dauer in Prosaform schwer erträglicher«, mutmaßt er, obwohl die zitierte Passage in Jahnns »Perrudja« gar nicht »auf Dauer« angelegt ist. Dass zwischen dem experimentellen, stilistisch höchst unterschiedlichen »Perrudja« und dem mehrteiligen »Fluß ohne Ufer« (darin vor allem das »Tagebuch des Gustav Anias Horn«) literarisch-stilistisch Welten liegen, weiß wohl jemand nicht, dem Jahnn »in toto (…) nicht goutabel« ist.

Das gleiche totalisierende Urteilen Maars fällt auch bei Heinrich Mann auf, dem er zwar großzügig hin & wieder gelungene Passagen zuspricht, aber gewiss nicht den »Untertan« meint.

Ob zum Stil großer Literatur immer Humor oder Ironie gehören muss, wie Maar mehrfach anklingen lässt, scheint mir nicht richtig – obwohl Jean Paul mir wie auch Maar als der vornehmste Heilige im Kalender der Literatur gilt. Auch wünschte man, Maar hätte sich einlässlicher mit dem Sonderfall der maniera beschäftigt – dann, wenn sie sich (wie bei Arno Schmidt) in eigenwilligem Manierismus verdichtet.  

Es gehört zum Gestus des literarischen Gourmets Michael Maar, die zwei einzigen deutschen Literaturnobelpreisträger nach dem 2. Weltkrieg links liegen zu lassen & sich lieber z.B. Ingeborg Bachman, W.G. Sebald, Brigitte Kronauer oder Wolfgang Herrndorf zuzuwenden.

Auch sein »Kürzestausflug: Lyrik«, der zuerst, schwergewichtig,  zu jüngsten Lyrikern (Cotten, Grünbein,  Rink & Wagner) führt, endet beschwingt bei Loriot & Gernhardt; wohingegen Maars Florilegium von Beischlafszenen deutschsprachiger Literatur mit  Ulrich Bechers spätem Roman «Murmeljagd« auf einem Friedhof endet, was dem Stil-Flüsterer zum Abschluss seines Buchs Gelegenheit gibt, vom »Ersterben« zu handeln & dabei neben Rilke oder Thomas Mann endlich auch einmal Jean Paul (»Wutz«) zu zitieren & schließlich den Leser seines »längeren Schreibens nun ebenfalls zum Abschied geleiten muß«.

In einer allerletzten Volte fragt & antwortet er sich & allen, die ihn bis hierher begleitet hatten, im Pluralis majestatis: »Haben wir das Geheimnis der großen Literatur enthüllt? Natürlich nicht. Wenn es sich enthüllen ließe, wäre es kein Geheimnis mehr. Vielleicht haben wir durch Beispiele guten Stils die Empfindlichkeit gegen schlechten erhöht? Das wäre immerhin etwas«.

Diesem Wunsch kann man als anregend unterhaltener & amüsant belehrter Leser nichts hinzufügen – außer vielleicht das Selbstversprechen, ihm lesend & bedenkend fortan auf seine Art nachzufolgen. (Imitatio Maari?)

Artikel online seit 12.02.21
 

Michael Maar
Die Schlange im Wolfspelz
Das Geheimnis großer Literatur
Rowohlt-Verlag, Hamburg 2020
655 Seiten
34 €
9783498001407

 

 


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