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Recht geschickt im Selbstwiderspruch

Ijoma Mangolds unterhaltsames
politisches Tagebuch »Der innere Stammtisch«

Von Gregor Keuschnig

Ijoma Mangold wird im nächsten Jahr 50, ist Feuilletonist (seit einigen Jahren in mehreren Funktionen bei der "Zeit" beschäftigt) und Literaturkritiker und man muss ihm daher einen hohen Sensibilitätsgrad für Sprache unterstellen. So ist der Titel seines neuen Buches wohl bewusst assoziativ: "Der innere Stammtisch" erinnert an die längst dämonisierte Vokabel vom "inneren Reichsparteitag", die im Jahr 2010 einer deutschen Sportreporterin fast zum Verhängnis geworden wäre.

Dabei schreibt er eigentlich nur Tagebuch, und zwar vom 19. September 2019 bis zum 13. April 2020. Beginn und Ende scheinen jeweils ohne besonderen Anlass zu sein. Am Anfang wird das Tagebuch zu einer Art inneren Monolog erklärt (was es ja per se immer ist). Aber hier geht es fast immer um politische Stellungnahmen und – Achtung: der Autor mag das Wort nicht – Reflexionen über gesellschaftliche und politische Entwicklungen. Privates bleibt weitgehend ausgespart; das intimste Erlebnis ist die Enttäuschung, als er mit einem Ohrenstäbchen nicht den erhofften Schmutz aus seinem Gehörgang herauspuhlen kann.

Es beginnt sofort mit Friday-for-Future. In einer Kita bereitet man sich, wie er hört, auf eine FFF-Demo genauestens vor und kauft vorher noch grüne Klamotten für die Kinder, damit alles stilecht ist. Mangold selber outet sich als "ästhetischer Greta-Fan" ("ihr Gesicht ist schön wie das einer frommen Jungfrau") und es ist ihm gleich, dass ihm dies als Zynismus ausgelegt werden kann. Irgendwann wird er noch deutlicher und macht sich zum "ökotauben, misogynen, alten, weißen Greta-Hater". Geschenkt, ich habe verstanden.

Natürlich zweifelt Mangold den Klimawandel und die Notwendigkeit von Maßnahmen, diesem entgegenzuwirken, nicht an. Aber er kultiviert eben auch bei diesem Thema, was er als eine Art Lebensmaxime (oder, wenn man es negativ sieht, als Krankheit) definiert: seinen Trotz. Sobald in einem Raum Einigkeit besteht, ist er es, der spontan mit einer Gegenmeinung eingreift. So auch hier, denn "der selbstgerechte Gewissheitston, zu dem das Thema einlädt, triggert" ihn ähnlich wie die Bigotterie der vermeintlichen Öko-Musterschüler (was zu launigen Ausführungen über die Kirchen-Heucheleien der Vergangenheit führt).

Was die Notate interessant macht: Es weder ein Dagegensein, um dagegen zu sein – aber auch nicht das Gegenteil. Mangold wägt tatsächlich ab – nicht immer unbedingt mit der notwendigen Konsequenz, aber das macht gerade die Mischung aus Leichtigkeit, Hochmut und Klugheit (ich hätte fast geschrieben: Charme – aber man soll nicht übertreiben) vieler Eintragungen aus.

In einem Punkt ist er mit den anderen und sich selber einig: Donald Trump geht gar nicht. Diese Wahl war eine Zäsur. Wo George W. Bush noch (falsche) Beweise für Massenvernichtungswaffen anführte um den Schein zu wahren, lügt Trump einfach. Warum wurde er von so vielen Menschen gewählt? Der Versuch einer Antwort: "Ausgerechnet Trump, der sich die Wirklichkeit erfand, wie es ihm passte, zwang uns zu überdenken, ob nicht auch wir zu lange in einer Wirklichkeit gelebt hatten, die wir uns als die passende Kulisse unseres Lebensgefühls selbst errichtet hatten, in der aber unfairerweise auch jene leben mussten, die mit unserem Lebensgefühl absolut nichts anfangen konnten?"

Mangold trauert der einst so mächtig erschienenen Nato nach und hadert mit der EU (Brexit – obwohl er einst ein Johnson-Fan war). Jetzt wisse man, was man einst an ihnen gehabt habe – jetzt, da sie praktisch verschwunden sind bzw. bedeutungslos geworden sind. Aber sogar bei Trump schleichen sich im Laufe der Eintragungen manchmal Zweifel ein: hat er nicht dessen China-Politik falsch bewertet? Ist er zwar gut in Trump-Verachtung aber schlecht in Trump-Analyse? Und warum, so beklagt er, hat er noch nie vorher gehört, dass Obamacare vermutlich verfassungswidrig implementiert wurde? (Er sollte die Frage auch einmal seinem Chefredakteur und Herausgeber stellen.)

Den Bezeichnung "Fake News" lehnt Mangold als zumeist zu pauschalisierend ab. Es werde weniger direkt gelogen, stellt er fest. Häufiger hingegen würde die Wirklichkeit verfälscht, in dem "man einen Sachverhalt so lange aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, bis keinem mehr auffällt, dass dieser Sachverhalt auch eine Rückseite hat, die eine ganz andere Geschichte erzählt." Das dürfte sehr genau beobachtet sein.

Ein kleines Zwischenspiel für den Leser. Über wen schreibt Mangold: "Mit XXX kehrt das Unbedingte in unsere Welt unerlöster Relativitäten zurück: Radikalität statt Abwägen, Maximalismus statt Kompromiss."

Was die Eintragungen in das imaginäre Tagebuch ausmacht: Mangold kennt tatsächlich keine Schmerzgrenzen. Das betrifft sowohl seine Äußerungen über das "Wokeness-" und das "PC-Sprachspiel" der Linken bzw. der Rechten (beides langweilt ihn, es sei denn, Obama spricht über Wokeness) wie auch bereits angedeuteten und immer wieder eingestreuten Sottisen gegen den Gratismut der "Öko-Kassandren". Mangold präferiert "Ambiguitätstoleranz als politische Tugend." Wie schon Enzensberger vor zwanzig Jahren erkennt er: "Die Apokalypse ist eine monotheistische Religion, sie duldet keine anderen Gottheiten neben sich."

Nicht ganz uneitel stellt er sich selber ein (Zwischen-)Zeugnis aus: Er ist und bleibt ein "Kind der Postmoderne", in der alles ironisch aufgeladen werde. Seine Texte kennen weder Gendersternchen und "Innen"-Gebilde; er spricht stets von "Studenten" und nie von "Studierenden". Wirtschaftspolitisch ist Mangold eher marktliberal als sozialistisch (die Dichotomie "Kopfpauschale" versus "Bürgerversicherung" hat noch Narben bei ihm hinterlassen) und versteht nicht, warum Schröder in der SPD nicht für seine Agenda-Politik gefeiert wurde, ist aber unbedingt dafür, dass die SPD erhalten bleibt und analysiert recht luzide, warum es so schlecht mit ihr steht.

Er stuft sich nonchalant als privilegiert ein, beklagt fast, so gut wie nie rassistisch belästigt worden zu sein und stimmt dabei ein Hoch auf seine Blase an, "in der die Bigotten und Orthodoxen in der deutlichen Mehrheit gegenüber den Rassisten sind". Den Antisemitismus in der Gesellschaft nimmt er allerdings als bedrohlich wahr und analysiert, wie die AfD eine Art künstlichen Philosemitismus predigt, um damit pauschal die arabischen Asylanten und Flüchtlinge als Antisemiten zu denunzieren. Er skizziert eine These über Visibilitätsausländer und Invisibilitätsausländer. Beim Anschlag von Halle hofft er, dass es ein Neonazi-Anschlag war und kein islamistischer – und ist sich zugleich der Perversion dieser Hoffnung klar.

Auf Facebook trifft er "hochintelligente Leute, die über Hannah Arendt promovieren könnten" aber stattdessen "ellenlang ihren Abscheu über [Dieter] Nuhr" ausdrücken. Die  Empörungswellen in den (sogenannten) sozialen Medien verwundern und faszinieren ihn zugleich. Paradox, wie die Forderung nach Toleranz immer wieder in Intoleranz umschwenkt. "Je stärker das Selbstbild, eine pluralistische Gesellschaft zu sein, sich durchsetzt, desto weniger ertragen wir Abweichungen; dass jemand zu Wort kommt, den man verurteilt, gilt als Skandal, denn es wurde ihm 'eine Bühne geboten'". Und noch ein Paradox: "dass sich gerade so viele von Etikettierungen befreien wollen, indem sie sich ein neues Etikett um den Hals hängen." Am Ende wachse die Zahl der Etiketten. "Vermutlich ist es das, was man Individualisierung nennt". 

Jahrelang habe man die Alternativlosigkeit in der Politik beklagt, so Mangold. Von Langeweile gesprochen und Parteiendifferenzen mit der Lupe gesucht. Und nun habe sich alles verändert. Aber ist der fortlaufende Krisenmodus, in den uns die Empörten und Besorgten fortlaufend stürzen wollen, darauf die richtige Antwort? Wie könnte man diesen fruchtbar machen?

Mangold ist kein Revoluzzer, er verehrt nahezu die demokratischen Institutionen und deren Langsamkeit. Verblüffend, wie oft er dabei Carl Schmitt als Kronzeugen hervorholt. Tatsächlich bringt Demokratie nie einen endgültigen Befund. Gesetze spiegeln keine Wahrheit, sondern nur das Ende eines Meinungsbildungsprozesses, der mit Mehrheiten entschieden wurde und sich womöglich Jahre später als fehlerhaft herausstellen und dann wieder neu verhandelt werden muss. "Autorität, nicht Wahrheit schafft das Gesetz", so Carl Schmitt laut Mangold. Wobei dieser Satz von Thomas Hobbes ist und nur von Schmitt zitiert wird (was er wohl weiß).

Aber es gibt auch peinliche Momente (nicht nur die über die Erklärung des Phänomens "Fremdschämen"), etwa wenn er darüber den Kopf schüttelt, "wenn von der Kanzlerin mal wieder nur Phrasen am semantischen Nullpunkt kommen" und sich dann "bei nächster Gelegenheit" glücklich schätzt "von einer Frau regiert zu werden, von deren IQ wir alle nur träumen können." Es steht zu befürchten, dass Mangold das nicht ironisch meint. Die Ausführungen über das Wissen und Nicht-Wissen sind hingegen wieder beste feuilletonistische Unterhaltung.

Zwischenzeitlich kann man sich vom einsamen Nachdenken immer dann ein bisschen erholen, wenn Mangold über seine Gespräche mit der deutsch-kasachischen Sängerin Helena Goldt erzählt oder von seinen diversen Abendessen in unterschiedlichen Runden. Im Gegensatz zu Goldt, der am Schluss ganz offiziell gedankt wird, bleiben die anderen Teilnehmer an seinen Diskussionsrunden anonymisiert. Einmal klappt das nicht; in meinem pdf-Dokument kann man nachlesen, mit wem sich Mangold in Berlin so heftig über den Rechtsruck in der CDU gestritten hatte.

Über sein eigentliches Arbeitsgebiet, die Literatur, schreibt er verblüffend wenig und manchmal fragt man sich, wann er eigentlich die Bücher liest, über die er später urteilt. Einmal kommt er auf Peter Handke zu sprechen, repliziert dessen "Ich komme von Homer…" und analysiert die Zumutung, die Handke "für eine Öffentlichkeit, die es als ihr Recht ansieht, jeden zur Rechenschaft zu ziehen" darstellt. Über die weitere sogenannte Debatte zum Nobelpreis findet sich kein Eintrag. Er schildert eine Veranstaltung mit Kenzaburō Ōe, die er vor längerer Zeit moderierte. Man erfährt, dass er Thoreaus "Walden" als einen Text im "Predigerton", direkt von der "puritanischen Kanzel" empfindet (und damit hat er Recht). Für Hartmut Rosa hat er nur eine kleine Verbalinjurie übrig.

Interessant wird es bei der wiederholten Lektüre zu Martin Walsers "Finks Krieg" von 1996. Es geht im Roman um eine Frankfurter Lokalpolitikintrige, in der sich ein Ministerialrat durch eine Versetzung kaltgestellt sieht und zu einer Art Michael Kohlhaas wird. Finks Gegner ist ein gewisser Tronkenburg. Der Rahmen ist real, die Affäre gab es wirklich. Tronkenburg ist der Romanname von Alexander Gauland, seinerzeit Chef der hessischen Staatskanzlei, der dann pikanterweise in der FAZ eine Rezension zum Walser-Roman verfasste. Mangold fasziniert weniger dieser Umgang als die in Gaulands Text eingearbeiteten politischen Ansichten, die sich diametral von denen unterscheiden, die er heute in der AfD vertritt. So schreibt Gauland 1996: "Hat Walsers Held denn vergessen, dass die Generation der heute Sechzigjährigen sowie die Nachgeborenen Leben und Freiheit, also eine zivilisierte Identität, den Alliierten verdanken?" Zu Recht fragt sich Mangold, was seitdem mit dem Mann passiert sei.

Fast ist man ein bisschen traurig, als es in die Corona-Zeit geht, die Mangold länger indolent wahrnimmt. Und "endlich mal keine Meinung haben müssen wegen erwiesener Unzuständigkeit", denn, das weiß der Meinungsjunkie Mangold ganz genau: "Es hat ja immer auch etwas Ordinäres, eine Meinung zu haben." Die Sorglosigkeit weicht dann doch, es gibt Freunde, die rasch an finanzielle Grenzen stoßen, weil sie keine Reserven haben. Immerhin: Helena sprüht vor Kreativität. Das Virus sieht er zunächst eher harmlos an, lässt sich dann jedoch auf Anraten einiger Freunde auf die Drosten-Podcasts ein und ist mindestens von der Stimme des Virologen, dessen "vernuschelte Beiläufigkeit", begeistert. In den Wochen danach beginnt dann ein emotionales Hin und Her, ein Schwanken zwischen Ernst und Bagatellisierung.

Überhaupt ist Mangold bisweilen recht geschickt im Selbstwiderspruch oder, wie man einst sagte, im Handwerk der Dialektik. Mal beklagt er die unterschiedlichen, nicht mehr zusammenführbaren Gegensätze zwischen den einzelnen politischen Flügeln, dann wiederum fragt er sich, ob "unsere Gesellschaften nicht vielmehr ein historisch einzigartiges Maß an Homogenität erreicht" hätten. Vielleicht stimmt ja beides, je nach thematischer Schwerpunktsetzung. Aber für die genaue Untersuchung dieser Problematik reicht dieses "Format" des inneren Tagebuchs nicht aus. Daher ist dann auch schnell Schluss.

Mangold spielt eine Mischung aus intellektuellem Freigeist und Dandy und suggeriert in seinen Notaten zu Beginn, dass die bisweilen ketzerischen und/oder unorthodoxen Gedankengänge niemals an die Öffentlichkeit kommen. Natürlich glaubt man ihm kein Wort: Zuviel deutet auf das absichtsvolle Spiel der "unreinen Seele" (Selbstbeschreibung) hin. Und das ist auch gar nicht schlimm, denn man liest seine Eintragungen gerne, fühlt sich gut unterhalten und mancher Aphorismus sitzt sogar. Redundanzen bleiben nicht aus; manchmal wird es halt ein bisschen zäh. Störend ist bisweilen diese bemühte Selbstgefälligkeit (bis hin zur Arroganz), die den Widerspruchsreiz ostentativ herausfordern soll. Dazu passt es dann auch, dass man sich zur Buchpräsentation einen gewissen Robert Habeck herangeholt hat. Da ist es eben wieder, das "Kind der Postmoderne". Und das Kalkül geht auf: "Spiegel-Bestseller"!    

Ach ja, die Auflösung des kleinen Zwischenspiels. Mangold meinte mit diesem Satz natürlich Greta Thunberg (und nicht, wie Sie vielleicht überlegt hatten, Herrn Trump). 

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Artikel online seit 10.10.20
 

Ijoma Mangold
Der innere Stammtisch
Ein politisches Tagebuch
Rowohlt
272 Seiten
22,00 €
978-3-498-00119-3

 

 


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