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Triumphal misslungenes Unikum

Herman Melvilles erster Großroman »Mardi oder eine Reise dorthin«

Von Wolfram Schütte
 

Längst ist Herman Melville (1819/91) auch deutschen Lesern nicht mehr der Autor nur eines Romans: »Moby Dick« – obwohl das bekannteste Buch dieses usamerikanischen Zeitgenossen von Dostojewski, Tolstoi, Dickens & Flaubert anders als deren Oeuvres erst postum, im 20.Jahrhundert, in seiner literarischen Einzigartigkeit erkannt wurde.

Das Oeuvre des größten nordamerikanischen Romanciers des 19.Jahrhunderts, der mit seinem poetischen Zeitgenossen Walt Whitman eine geschlechtsübergreifende Welterotik teilt, ist auf Deutsch nahezu lückenlos übersetzt worden. Der Manesse-Verlag hat Rainer G. Schmidts 1997 erschienene Erstübersetzung von »Mardi oder eine Reise dorthin« in diesem Jahr wieder vorgelegt.

Der 1849 publizierte Roman zählt mit seinen über 800 Seiten zur Trias der dicken Bücher Melvilles. Mit ihnen begründete er die niederschmetternde Abkehr des zeitgenössischen angelsächsischen Publikums von dem einstigen Erfolgsautor, der mit seinem ersten autobiographischen Roman »Typee« den Pazifik & seine polynesischen Inselbewohner in die Literatur eingeführt hatte. Der frühe literarische Erfolg basierte auf den authentischen Selbsterlebnissen des jungen Seemanns, der exotischen Gefährlichkeit seiner Reise & den paradiesischen Zuständen, die er dort – unter Kannibalen - durchlebt hatte. Ein halbes Jahrhundert später wurde die Südsee durch Robert Louis Stevenson & Paul Gauguin (u.a.) zu einem europäischen Sehnsuchtstopos. Noch später drehte hier der nach Hollywood gegangene F.W Murnau seinen letzten (Stumm-)Film »Tabu«.

Ich erwähne »Tabu« nur, weil mich die Lektüre von »Mardi« auf gewisse Handlungs-Ähnlichkeiten zwischen beiden stieß. Murnaus Film erzählt die immer erneute Flucht eines polynesischen Paares, das durch seine unerlaubte Liebe ein religiöses Tabu gebrochen hatte & von einem alten Priester verfolgt wird, dessen unheilvoller Schatten immer wieder auf das flüchtiges Liebesglück fällt. In Melvilles Roman entführt der junge Ich-Erzähler (Taji), der zusammen mit einem schottischen Kumpel in einem Boot heimlich von einem Walfänger desertiert war, eine junge Frau (Yilla), die offenbar rituell geopfert werden sollte, aus den Händen eines alten Priesters, den er dabei tötet. Nach der kurzen Liebes-Idylle auf einer Insel mit Yilla verschwindet die Geliebte auf Nimmerwiedersehen.

Im Verlauf des Romans sucht Taji die Verschwundene auf den unterschiedlichsten Inselkönigreichen des (fiktiven) Mardi-Archipels, wobei ihm drei Männer auf der Spur sind, die seinen Mord an dem hohen Priester rächen wollen. Weder findet er die Verschwundene, von der er annehmen muss, dass sie längst tot ist, noch können die Rächer ihn ereilen. Wie Odysseus der Zauberin Calypso, so entkommt Melvilles junger Seemann der geheimnisvoll-mächtigen Hexe Hautia. Am Ende seiner Südsee-Odyssee findet Taji jedoch die rettende Lücke im Riff, das Hautias Insel umgürtet & »schoss durch die Bresche. Der Ozean draußen schäumte so hoch, dass er die Wolken peitschte. Und geradewegs in meiner weißen Kielspur jagte ein Boot dahin, über dessen Bug sich drei starre Gespenster beugten – drei Pfeile in ihrem Bogen wiegend. Und so flogen Verfolgter und Verfolger weiter über eine endlose See«.

»Mardi und eine Reise dorthin« endet mit diesen Worten. Wie das Hornberger Schießen? Mit der ewigen Suche nach dem Glück, das auch noch jenseits des Acherons, im Traum-Reich der Toten fortgesetzt wird: auf der »endlosen See«.

Für den Schriftsteller Herman Melville setzte sich seine Reise dorthin fort, wo Ahab zum tödlichen Kampf den weißen Wal »Moby Dick« sucht & der Autor mit dem gleichnamigen enzyklopädischen Roman-Epos zum singulären literarischen Sturmvogel der Moderne in den USA wurde. Das seltsame Unikum »Mardi« aber ist nichts anderes als der erste (literarisch gescheiterte) Versuch einer weitläufig erschriebenen Reise dorthin, wo noch kein James Fenimore Cooper vor ihm war: Phantasia oder zum Roman als gigantischem Mixtum compositum der Stile & Themen.

Melville bittet seine Leser in »Mardi« expressis verbis, an seiner Seite die abenteuerliche Reise in das fiktive Südsee-Archipel Mardi zu wagen. Und wer im Verlauf des Buchs diese ungewöhnliche Aufforderung zur Teilhabe an einem bewusst ge- & versuchten literarischen Experiment vergessen hatte, dem sagt er es noch einmal durch die Blume: Im detaillierten Referat der Ansichten des fiktiven Dichters Lombardo, dieser überdeutlichen Bauchrednerverpuppung des dreißigjährigen Autors.

Mit 12 Jahren hatte Herman, durch den Tod des Vaters bedingt, als eines von acht Waisenkinder, die Schule verlassen müssen & sich während seiner vielfachen Brotarbeiten durch umfangreiche Lektüren autodidaktisch intellektuell aufgefüttert. (Die lebensgeschichtlichen Parallelen mit Jean Pauls Jugend zwei Generationen früher im Oberfränkischen sind verblüffend: wie auch beider Bildungshunger!). Als Dreiundzwanzigjähriger fuhr Melville dann zum ersten Mal zur See. Sein abenteuerliches Leben als einfacher Seemann – auf Walfängern, von denen er mehrfach desertierte, aber auch auf US-Kriegsschiffen – hat er in mehreren gesellschaftskritischen Romanen fiktionalisiert.

Mit seinem literarischen Debüt »Typee« (1846) hatte der siebenundzwanzigjährige Newcomer diesseits & jenseits des Atlantiks einen überraschenden kommerziellen Erfolg erzielt – wohl weil das Buch nur als authentische Reisebeschreibung (der Freien Liebe unter Kannibalen) goutiert wurde. Der junge Melville aber, in einem Schaffensrausch sondergleichen, imaginierte sich immer entschiedener, gewissermaßen »frenetisch«, als literarisches Genie im Spiegelbild der europäischen Literatur & Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart.

Mit »Mardi« wollte er das schlichte literarische Nachbilden seiner individuellen Erlebnisse & Erfahrungen endgültig hinter sich lassen & zusammen mit seinen Lesern die »Rote Linie« überschreiten, um zur reinen Fiktion zu gelangen. Seine metaphysisch-mystisch entzündete Einbildungskraft würde ihn, gewissermaßen somnambul, auf die einsame Höhe der bewunderten Größen wie Robert Burton, John Bunyan, Swift, Dante oder Shakespeare heben. Denn seine literarische Ambition, nicht ungewöhnlich für die Euphorie eines Autodidakten, war maß- & grenzenlos – vor allem auch im Hinblick auf seine spekulative Leidenschaft, mit der er über Gut & Böse, Gott & die Welt bis zum Spintisieren philosophierte.

Beschreibt die Ouvertüre des Romans die Flucht der beiden Deserteure des Walfängers mit einem nahezu enzyklopädischen Aufwand an nautischen Begriffen, als gelte es, die Erzählung  hyperrealistisch in der pragmatischen Welt zu verankern – unsinnigerweise glaubt der Übersetzer, uns durch Anmerkungen jeweils detailliert auf die Sprünge helfen zu müssen -, besteht der überwiegende Hauptteil des Romans in der Abfolge von allegorischen Beschreibungen einzelner Inselstaaten des Archipels. Sowohl Homer als auch Swift standen bei dieser Revue verklausulierter – manchmal durchaus auch humoristisch-komischer – Insel-Gesellschaften verschwiegen im Hintergrund Pate.  

Die wunderlichste dieser Inseln ist für mich jener Serail, als dessen Eunuchen alte Männer dienen, die von den kapriziösen jungen Frauen derart als sklavisch folgsame Dienstboten auf Trab gehalten werden, so dass sie bald danach an physischer Erschöpfung sterben. Wenn sie diese Berufung erhalten, wissen die Alten, dass sie sich gleich eine Grabstätte aussuchen müssen. Von derartigem Humor sind einige dieser Allegorien & erzählerische Ausflüge Melvilles in die Übertreibungskunst der klassischen Reiseliteratur, die er sowohl parodiert & analysiert als auch fortschreibt – wenn er z. B. eine Geschichte zum Besten gibt, in der einem Hirngeschädigten teilweise mit einem Schweinehirn ausgeholfen wurde (mit den erwartbaren Folgen). Auch lässt er darüber spekulieren, ob man nicht auch einen menschlichen Hirninhalt in einen Schweineschädel verpflanzen könnte; überhaupt, räsoniert einer, »habe ich lange geglaubt, dass Menschen, Schweine und Pflanzen nur merkwürdige physiologische Experimente sind; und dass die Wissenschaft schließlich die Philosophen befähigen würde, neue Arten von Lebewesen zu erzeugen«.

Bei seinen ausgedehnten, um nicht zu sagen langwierigen Exkursionen in die Welt der Hieronymus-Boschhaften Phantastik begegnet einem heutigen Leser in »Mardi« die literarische Antizipation der gegenwärtigen Fantasy-Literatur von Tolkien ed.al. Auch glaubt man, als teilnehmend-»eingebetteter« Leser dieses Wörter-Rauschs, manchmal in den Naturschauspielen des Buchs Vorahnungen des Jugendstils zu erkennen. Regelrecht protzerisch sind aber eine Reihe von Abbreviaturen, mit denen der junge Autor seine zeitgenössischen Leser durch Anspielungen & Verweise einzuschüchtern versucht, indem er ihnen vor Augen stellt, was er alles weiß & vor allem gelesen hat. Da stolziert er gewissermaßen gockelhaft vor einem auf & ab: von der Bibel, über die Antike & das Mittelalter bis zu seiner Gegenwart reicht das Feld, auf dem er seine Zitate pflückt – sodass der Übersetzer Rainer G. Schmid der (heutigen) Nachwelt erklären muss, worauf alle diese Melvilleschen Prunkereien mit kulturhistorischen Zitationen hinweisen & bedeuten sollen.

Denn viele der hier versammelten kulturhistorischen Assoziationen sind für unsere Zeit längst jenseits des allgemeinen Wissens- & gar Bildungsstands – ähnlich wie bei dem schon erwähnten Jean Paul, an dessen Romanpoetik Melvilles »Mardi« erinnert wie keines seiner anderen Werke. Das trifft auch auf  die erstaunlichste Passage des ganzen wild-wuchernden Romans zu: das Kapitel »Träume« (»Und weit im Hintergrund, in dunstig blauem Schimmer, vom Himmel in Stufen sich senkend: Anden über Anden, die in Alpen wurzeln. Um mich herum das anhaltende Tosen der Ozeane; Amazonasflüsse und Orinicos rollen ihre Wasser; Wellen wie berittene Parther. Wild hin und her brandet das weite Waldland: die ganze Welt ein Elch, und die Wälder dessen Geweihschaufeln«).

Es ist eine gewaltige, fluide Phantasmagorie, ein wahnsinniges Sprach-Bilder-Delirium, womit sich der amerikanische Autor (»Und wie eine Fregatte bin ich mit tausend Seelen angefüllt«) gewissermaßen ins Außerterrestrische erhebt – ähnlich grandios & unheimlich wie der einzigartige »Siebenkäs«- Traum der «Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei«.  

Klaus Modick – selbst Schriftsteller & Übersetzer – hat den »hellen Wahn« des Buchs als «ebenso hinreißend wie monströs« bezeichnet. »Hinreißend« wäre mir ein zu euphorisches Wort für zu viele erzählerische Durststrecken & Umständlichkeiten des mäandrierenden Erzählflusses, Melvilles theologischen Reflexionen & allegorischen Verschlüsselungen. »Wagemutig« oder »tolldreist« träfe eher den Gestus, mit dem Melville hier erstmals rückaltlos aufs Ganze geht. Wenn man aber »Mardi« als ebenso überbordendes wie monströses Allegorikum auf dem Weg zu »Moby Dick« begreift & den Roman im internationalen Umfeld seiner zeitgenössischen literarischen Hochkultur betrachtet, kann man die Kopf schüttelnde Konsterniertheit des angelsächsischen Publikums angesichts dieses hybriden Werks einer befremdlichen Phantasie-Eruption vollkommen verstehen. Aus der Nachwelt schauen wir mit Bewunderung & Neugier auf diesen Literaten, der zu früh kam & deshalb im Leben von seiner Zeitgenossenschaft mit Mißachtung bestraft wurde.       

Artikel online seit 11.12.19
 

Herman Melville
Mardi
oder eine Reise dorthin

Roman
Übersetzt und kommentiert von Rainer G. Schmidt
Manesse Verlag, München 2019
811 Seiten
45,00 €

Leseprobe

 

 


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