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Nachruf auf eine ferne Zeit

Franco Morettis überraschende Schlaglichter auf »Szenen amerikanischer Kultur«

Von Wolfram Schütte
 

Was für ein großartiges kleines Büchlein! Die 148 Seiten von »Ein fernes Land« stecken so voller Intelligenz, kulturhistorischer Erkenntnisse & überraschender Ansichten en gros & en détail, dass man über die gelegentlichen Schwächen der Übersetzung hinwegsehen kann. Das Buch ist aus dem Amerikanischen übersetzt, sein Autor Italiener. Franco Moretti, der ältere Bruder des unter Cinéasten bekannten italienischen Filmemachers Nanni Moretti, war jahrzehntelang Literaturprofessor an der kalifornischen Privat-& Elite-Universität Stanford, wo er 2016 emeritiert wurde. Heute lebt er wieder in good old Europe.

Die sechs Kapitel, aus denen »Ein fernes Land« besteht, sind sowohl autobiographischer Rückblick des mittlerweile weltbekannten Literaturwissenschaftlers, der den Niedergang der Geisteswissenschaften in Stanford beklagt, als auch eine fünffache Musterkollektion von Einführungsvorlesungen, die er an seiner Universität jahrelang gehalten hat & nun skizzenhaft, gewissermaßen zum Andenken einer heute weitgehend ausgeschiedenen Form akademischer Lehre, verfasst hat.

Diese Vorlesungen dienten dazu, den Erstsemestern vor Augen zu stellen, was sie bei & von dem Literaturwissenschaftler aus dem alten Europa in Silicon Valley akademisch zu erwarten hätten & was er von den Studenten an intellektuellen Anstrengungen verlange. Ästhetische Erziehung & Bildung besteht für den vielsprachigen Literaturwissenschaftler darin, sowohl »die Magie« der Literatur zu »genießen«, als sie auch »durch die Skepsis der Kritik zu filtern«.

Rückblickend auf seine ersten Seminare in der italienischen Provinz-Universität von Salerno, wo er im Herbst 1979 »aufgrund eines kapriziösen Heizungssystems« im Mantel »vor einem Raum voller Mäntel" seine erste Vorlesung hielt, ist die damalige »Kälte«, die in den jüngsten Jahre Stanford erreicht hat, von metaphorischer Art. Aus dem zwecklosen Studium & der »Wollust« des erkennenden Wissens seiner Jugend, schreibt er, werde das heutige »universitäre Leben von jener grimmigen, viktorianischen Parole regiert, die im Silicon Valley ihre zweite Heimat gefunden hat: dem nützlichen Wissen«.  

Was früher einmal zum Studienbeginn ein neugieriges, schnupperndes »Sondieren« war (um festzustellen, was einem als mögliches Studium am meisten zusagen würde), wird heute von den studierenden Anfängern »shoppen« genannt. Das bedeutet, dass die Studenten ihr künftiges Studium, mit Trumps Lieblingswort, als »deal« verstehen: die Shoppenden »wissen schon, was sie wollen, und sie wollen es sofort, und zwar ohne Überraschungen und Komplikationen (…) In dieser Metamorphose, die Studierende zu Kunden werden lässt (…), hat die Universität (…) ihren intellektuellen Zweck verraten. Und das ist der Punkt, an dem wir gerade sind«.

Es ist nicht ungewöhnlich, sondern symptomatisch, dass ein bekennender italienischer Linker wie Franco Moretti die »bürgerliche« Vorstellung vom Sinn & Zweck geisteswissenschaftlicher Lehre & Studiums entschieden verteidigt gegen die neoliberale Ideologie bloß »nützlicher«, instrumentalisierbarer Wissensakkumulation. Es sei nicht das Was, sondern primär das Wie, worauf es im akademischen Lehr-& Lernprozess ankomme, lautet das Ceterum censeo des emeritierten Anglisten.

Deshalb untersucht Moretti in der Literatur & Kunst Gebrauch der Sprache und Rhetorik, den historischen Kontext ihrer Entstehung & worin ihre potentielle Attraktivität für ein zeitgenössisches Publikum bestehen könnte. Mit literarischen Klassikern beginnt er seine unterschiedlichen Streifzüge & endet bei den Serigraphien Andy Warhols. In deren Stil, das immer gleiche Bild (z.B. der Monroe) farblich zu variieren, diagnostiziert Moretti eine »außerordentliche historische Intuition« des Künstlers, dessen Werk er dadurch zum Signum unseres »Zeitalters des Accessoires« mache.

Immer geht es dem Italiener-in-den-USA in seinen brillant evozierten, vielfältig durchleuchteten & kritisch durchdachten Szenen amerikanischer Kultur darum, sich, seinen Studenten & uns europäischen Lesern klar zu machen, warum wir alle unter der kulturellen »amerikanischen Hegemonie« leben.

Er beginnt mit einem stilistischen Vergleich von Walt Whitmans & Charles Baudelaires lyrischen Hauptwerken, den »Leaves of Grass« & den »Fleurs du mal«, die beide im gleichen Jahr 1857 erschienen. Gegensätzlicher ist Lyrik kaum möglich: bei dem Amerikaner die freien Verse – nicht mehr durch Rhythmus oder phonetischen Verwandtschaften verbunden -, mit der satzweisen Aufrufung Amerikas, seiner Menschen & ihrer Berufe. Es ist eine potentiell sowohl unendliche poetische Methode des Katalogisierens, als auch »demokratisch«, weil jede Verszeile gleichwertig ist. Bei Baudelaire ist das nicht der Fall, ganz zu schweigen vom exzessiven Gebrauch komplex-aufstörender Metaphern.

»Leaves of Grass«, stellt Moretti fest, »war das Gedicht der Identität, der Wiederholung(…), bei Baudelaire spielt nur das Unwiederholbare eine Rolle, das Seltsame, das Vermischte«. Bei Whitman, fokusiert Moretti seine Analyse noch kleinteiliger, »bestärkt das Adjektiv unausweichlich die Kernbedeutung des Substantivs« Er zitiert z.B.: »der Arm war stark, die Harpune bereit« usw. Bei Baudelaire aber »arbeitet das Adjektiv gegen das Substantiv, drängt es auf ungewohntes Terrain«. Dazu Morettis Beispiele: z.B. Metaphern wie »zartes Scheusal« oder »schadenfroher Himmel«.

Obwohl Lyrik gerade mit der Unbestimmtheit der Sprache arbeitet, um eine möglichst große interpretative, subjektive Freiheit beim Autor wie beim Leser zu provozieren, verringern die Subjekt-Verb-Prädikat-Sätze der »Leaves of Grass« die lyrische Ambiguität in »denkbar größtem Maße«. Diesen Stil führt Moretti auf die demokratische amerikanische Gesellschaft zurück. Schlüssig zitiert der Italiener aus Alexis de Tocquevilles großem Essay »Über die Demokratie in Amerika (1835/40): »Aristokratische Nationen haben in Wirklichkeit keine gemeinsame Sprache« (siehe u.a. Baudelaires Poesie), wohingegen »in Demokratien jedermann die gleichen Wörter brauche«, um klar, bzw. allen verständlich zu sein. Mehr noch: jeder könne z.B. Whitmans Verse verstehen »und wahrscheinlich sogar in gleicher Weise«, fügt emphatisch kursiviert Moretti hinzu. Das ist bei dem enigmatischen Baudelaire nicht der Fall. Sollte die Lyrik in der künftigen Gesellschaft je wieder eine hegemoniale Rolle spielen, spekuliert Moretti, würde Whitman als ihr Homer angesehen werden.

Neben dieser erhellenden Konfrontation (gewissermaßen »Old School« contra »New School) fallen auch Erkenntnisse über die »mystifizierenden Vergleiche« & die dunkle Metaphorik in Joseph Conrads Roman »Herz der Finsternis« ab. Dessen Erzähler Marlow mäandriert sich langwierig durch den Bericht von seiner Kongoreise bis er den nackten Horror der Kurtzschen Existenz ausspricht, weil er sich »sträubt, die europäische Unterdrückung Afrikas zuzugeben (…), er versucht zu sehen und nicht zu sehen, und diesem Zweck dienen die überdehnten Vergleiche«.

Die Doppeldeutigkeit eines »close readings« (Franco Moretti) erprobt & demonstriert der Autor dann auch an Hemingways in den USA spielender früher Erzählung »Großer doppelherziger Strom«. Obwohl Hemingway darin »nur« beschreibt, wie der aus dem I.Weltkrieg heimgekehrte, Front erfahrene Nick Adams in seiner ländlichen Heimat des Mittelwestens, allein in der Wildnis mit Zelt & Angel zum Fischfang ausrückt, entziffert der literarische Analytiker darin eine subkutane Antwort auf das oft bemerkte Schweigen der Kriegsheimkehrer über ihre demütigenden Fronterfahrungen: »Hemingways Rhetorik der Wortkargheit (…) ist ein Art des Schreibens, die die Aphasie der Soldaten aufnimmt und aus diesem 'Fluch' einen Stil macht«.

Es war dieser Stil, bei dem es »einzig und allein um Kontrolle geht« & »bei dem der menschliche Körper wieder das Maß aller Dinge ist«, was die Attraktivität Hemingways dann erst recht im Europa nach dem Desaster des II. Weltkriegs ausmachte. Im Sinne des von dem Italiener immer wieder zitierten Satzes aus der »Theorie des Romans«(1916) von Georg Lukacs: »Jede Form ist die Auflösung einer Grunddissonanz des Daseins« wurde also Hemingways literarische Bewältigung des männlichen Kriegstraumas vom I. Weltkrieg auf den II. Weltkrieg übertragen & rezipiert. Diese Erklärung für die Resonanz des Hemingway-Stils bei uns ist wahrscheinlich. Was Moretti jedoch gar nicht erwähnt: Faulkners vergangenheitsgesättigte, zeit-komplexe Prosa war dagegen eher eine Verlängerung, bzw. Wiederholung des Schuld-Traums nach dem Zivilisationsbruch des II.Weltkriegs.

Das Kapitel über den »Kontrapunkt von Western und Film noir«, in dem der Autor auch mit symptomatischen Filmbildern arbeitet, scheint am zugänglichsten zu sein. Für den (frühen) Western sind charakteristisch: Pleinaire-Fotografie, Panoramaschwenks über monumentale, menschenleere Landschaften, Massenszenen von Vieh & Menschen, der Showdown & die binäre Logik legitimer Gewalt als Verteidigung & illegitimer, Macht ergreifender, hinterlistiger Gewalt sowohl bei Bösen als auch durch Indianer. Der Film noir kennt Panoramaschwenks oder Landschaft so gut wie nicht, spielt dagegen mit seiner verwickelten Erzählstruktur im schwarz-weißen Dunkel enger Räume & fahrender Autos. Er operiert hauptsächlich mit Groß- oder zumindest Nahaufnahmen von Dingen & Personen, um die durchgängige Atmosphäre von Verhängnis, Gier, Begehren, Gewalt & Mord zu evozieren. Film noir ist in der Regel klassisches Studio-Kino

Trotz dieser Kontrastierungen ihrer unterschiedlichen Ästhetiken (Formen) hat der Kinogänger Moretti den entscheidenden Kontrast zwischen den beiden Genres vergessen: den in einem historischen Ambiente evozierte Western mit seinen mythischen Helden, Lokalen & Orten & dagegen der ganz- & gar gegenwartsbezogene, im »Dschungel der Großstadt« & (klein-) bürgerlich-kriminellem Milieus situierten »Film noir«.

Während die Kino-Begegnung mit der puritanischen, misogynen »Serie Noir« & ihr pessimistisches Porträt der metropolitanen, klaustophobischen Gesellschaft mit ihren kriminellen Schattenseiten & dunklen Ab-&.Hintergründen beim Kinogänger der Nachkriegszeit Zweifel, Verunsicherung & Ohnmachtsgefühle provozierten & hinterlassen könnten (zurecht weist Moretti auf den hohen Anteil europäisch geprägter Regisseure der »Schwarzen Serie« hin), ist der Pleinair-Western Schöpfungsmythos der USA, made in Hollywood & damit symbolischer Inbegriff des amerikanischen Lebensoptimismus & des individuellen & kollektiven Aufbruchs in eine optimistisch avisierte Zukunft!

Der Western ist auch das Hohe Lied der wagemutigen Pioniere aus aller Herren (europäischer) Länder oder der Heldenmythos eines anonymen Fremden oder eines berühmten Gunmans, dem sein Ruf als Über- oder zumindest Ausnahme-Mensch vorauseilt. Er wird von den einen gefürchtet & bewundert, von den anderen als gewaltförmiger Helfer oder Retter erhofft.

Die legendenhafte Epik des Western führt am Ende zu der schon zitierten »Auflösung einer Grunddissonanz des Daseins«: im Showdown durch den Sieg über den Bösen. Der selbstlose Retter (& Nachfahre des edlen Ritter europäischer Provenienz') geht eine verschämt-scheue Ehe am Ort ein, wodurch er, als Sheriff, sesshaft wird - oder aber: nach der (Wieder-) Herstellung der gesellschaftlichen Harmonie im Westen, macht er sich (wie Wagners Lohengrin) aus dem Staub.

Es ist nur zu verständlich, dass dieses uramerikanische Filmgenre, das nicht nur klare ethische Regularien in einer noch weitgehend gesetzlosen, anarchistischen ländlichen Kriegsgesellschaft formuliert, die sich im Aufbruch zu einer anderen Zeit & Welt befindet & auch noch die Rolle individueller männlicher Gewalt als ultima ratio der Notwehr thematisiert, nach 1945 für die »Westliche Welt« nach dem moralisch verheerenden Zweiten Weltkrieg so etwas wie das Neue Testament wurde. Dagegen nahm sich der großstädtische »Film noir« wie das »Alte Testament« aus. (Das sind jedoch metaphorische Spekulationen, zu denen mich Morettis Konfrontation anregte).

In Arthur Millers »Tod eines Handlungsreisenden« führt Moretti vor Augen, welche exorbitanten Probleme sich für das klassische Schauspiel, genauer das moderne Sprechtheater ergeben, wenn die tödlichen Konflikte des Europäischen Dramas nicht mehr individuell sondern kollektiv & verborgen »hinter der Bühne walten«, weil sie in der kapitalistischen Moderne, mit Brecht gesprochen, »in die Funktionale gerutscht« sind.. Miller »rettet« prekär die Ästhetik seines Schauspiels & »verrät« zugleich dessen innere Wahrheit, indem er seinem Helden einen Ehebruch andichtet. »Dies ist der billigste, melodramatischste Moment des ganzen Abends (…) Nur ist es ein Jammer, dass wir im Angesicht dieser Szene die wahre Intelligenz von 'Tod eines Handlungsreisenden' vergessen«, resümiert der Literaturwissenschaftler seine Überlegungen.

Anspielend auf New Yorks alten Namen, beschäftigt sich Moretti unter dem Titel »Amsterdam, New Amsterdam« mit ikonografischen Überlegungen zur Malerei & Bildenden Kunst der USA – im Kontrast zur Europäischen Kultur. Das scheint mir der schönste Teil von Franco Morettis dichten Skizzen zu sein, die wie lässige Impromptus erscheinen, mit denen ein viel erfahrener, umfassend gebildeter Kenner – gewiss auch nicht ohne eine Spur Eitelkeit & verständlicher Arroganz – hier zu der Leser Vergnügen sich selbst essayistisch darstellt. Aus diesen Konfrontationen von Rembrandt & Warhol, Vermeer & Hopper zitiere ich nur eine Sentenz – gewissermaßen als »Appetizer« für potentielle Interessenten an den »Szenen amerikanische Kultur, die Franco Moretti in seinem schmalen, aber gehaltvollen Büchlein versammelt hat: »Hoppers Welt ist ein fernes Echo der Welt Vermeers und zugleich Punkt für Punkt ihr genaues Gegenteil (…) Die Menschen sind bei Vermeer oft allein; einsam nie« – im  Gegensatz zu den immer einsamen Menschen auf Hoppers Bildern.

Artikel online seit 02.11.20
 

Franco Moretti
Ein fernes Land
Szenen amerikanischer Kultur
Aus dem Amerikanischen von Bettina Engels und Michael Adrian
Mehre Abb. 148 Seiten
Konstanz University Press 2020  
22,00 €
978-3-8353-9118-5

 

 


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