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Wenn Kasperle
Lolitas iPhone klaut.
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Prekäre Eingänge
Der Romancier
Thomas Hettche schreibt ein Buch über die Augsburger Puppenkiste. Das erscheint
zunächst löblich, denn wer erinnert sich als Kind der Nachkriegsgeneration nicht
gerne an das Glück, dass bei der Betrachtung von Kater Mikesch, Urmel
aus dem Eis oder Der Löwe ist los aus Augsburg in der Frühzeit des
deutschen Fernsehens das Leben bestimmte? Und ist nicht gerade heute eine
Verteidigung der Puppenkiste vonnöten, weil das Fernsehen ihre Darbietungen aus
dem Programm genommen und dafür mit fadenscheinigen Begründungen furchtbare
3D-animierte Trickfilme eingesetzt hat? Zugleich lauert hier aber auch die
Gefahr des verklärenden Kitsches der Kinderzeit im Allgemeinen und der Frühzeit
des Fernsehens im Besonderen. Wenn man sich daraufhin den Anfang des Romans von
Thomas Hettches anschaut, so wird diese Gefahr ganz real: der Autor imaginiert
sich in ein namenloses zwölfjähriges Mädchen hinein, das auf bekannt surreale
Weise die berühmte Schwelle zur anderen Welt überschreitet – den Hasenbau bei
Alice im Wunderland, den Schrank bei den Chroniken von Narnia oder
das Mauseloch bei Nils Karlsson Däumling in Astrid Lindgrens tristem
Nachkriegsstockholm.
Kitsch as Kitsch can: digitale Verwurstungen: Auf ähnlich zweifarbige Weise hatte bereits der selbst immer nahe am Anthroposophie-Kitsch bauende Michael Ende seine Die unendliche Geschichte begonnen. Dort träumt sich der Held mit dem entsprechenden Schmocknamen Bastian Balthasar Bux in die als ach so phantastisch apostrophierte Welt Phantásien – eine Konstellation die jedem psychoanalytisch einigermaßen Bewanderten, der nicht gerade ein Anhänger von Carl Gustav Jung ist, die Haare zu Berge stehen lässt. Und wo das alles ästhetisch endet, weiß man schließlich auch: Michael Ende musste 1984 vor Kummer bitterlich weinen, als er zur sneak preview allein im Kino saß und sich den Film Die unendliche Geschichte von Bernd Eichinger und Wolfgang Petersen anschaute. Ähnliche Reaktionen der Scham sind auch dem Kritiker nicht fremd, wenn er sich die groß beworbenen neuen filmischen Machwerke Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer von 2018 mit Uwe Ochsenknecht als König ansieht. Und auch der Trailer für die unvermeidliche Fortsetzung Jim Knopf und die Wilde 13 verheißt erneut Schreckliches für 2020. Gerade wird ebenfalls die frühere Prager Fernsehserie Pan Tau entsprechend digital verwurstet.[1] Und nun soll also die Augsburger Puppenkiste in einem Roman verarbeitet werden? Das lässt in solchem Kontext Schlimmes ahnen und als Parallele des Verwurstens an Christoph Schlingensiefs Film Deutsches Kettensägenmassaker von 1990 denken, wo die gutgläubigen Ossis von den geschäftstüchtigen Wessis durch den Wolf gedreht und auf Dosen gezogen wurden.
Panofskys Grundregel für phantastische Welten:
Da kommt
zunächst die Frage auf, woher neben dem Merchandising und der allfälligen
Geschäftemacherei, die beide an sich schon Grund genug sind, der Hang zum Kitsch
denn noch kommt? Einmal sind es natürlich die verklärten Kindheitserinnerungen,
die sich süßlich über die Welt ergießen: „Früher war alles besser“ – was dem
Ossi sein Sand- und Ampelmännchen, ist dem Wessi seine Augsburger Puppenkiste.
Zum anderen liegt hier aber auch ein strukturelles Prinzip zugrunde: dieses
beschreibt der Kunsthistoriker Erwin Panofsky bereits 1947 in seinem Aufsatz
über den Stil und das Medium des Films. Im Trickfilm könne
es eine gute Nähe zur David-gegen-Goliath-Geschichte geben; allerdings wirkten
hier aus stilistischen Gründen menschliche Figuren deplatziert. Eine Nähe des
phantastischen Mediums bestehe hingegen zu Tieren, Gnomen
und Zauberern aus der unbelebten Natur.[2]
Nach Panofsky mag es daher ästhetisch sinnvoll sein, in surrealen Trickfilmen
phantastische Welten so zu zeigen, wie das beispielsweise Walt Disney mit
Fantasia oder mit Alice im Wunderland vorgemacht hat. Denken wir auch
an William Hanna und Joseph Barbera mit Tom und Jerry und den
Flintstones oder an Tex Avery mit Bugs Bunny und Roadrunner und
den Kojoten. Literatur, Film, Puppenspiel, Fernsehen Mit solchen Fragen sieht sich auch Thomas Hettche in seinem neuen Roman konfrontiert. Denn das von Panofsky angesprochene Prinzip gilt nicht allein für Filme, sondern auch für Romane, in denen Puppen als Figuren wieder aufgenommen und mit realistischen Erzählstrukturen konfrontiert werden: in der Welt der Marionetten wirken Menschen wie die junge Frau im roten Text aus eben jenem Grunde verfehlt. Es ist ein Formproblem, das hier vorliegt. Dieses bleibt aber nicht allein eine Frage des Mediums beschränkt wie bei Panofsky, sondern es betrifft die generelle Konzeption. Aus diesem Grund misslingt nicht allein der Timm und Struppi-Film von Steven Spielberg, sondern bereits Theodor Storms berühmte Pole Poppenspäler-Geschichte mit den Protagonisten der Puppenspielertochter Liesei und Paul Paulsen oder auch E.T.A. Hoffmanns Sandmann-Geschichte von Gabriel und der Puppe Olympia gehen deswegen tragisch aus. Georg Lukács in Die Seele und die Formen und Theodor W. Adorno in seiner Replik dazu haben zu der einen und Sigmund Freud mit Das Unheimliche und Heinrich von Kleist Novelle Über das Puppentheater zu der anderen Geschichte den notwendigen kulturgeschichtlichen Hintergrund beigetragen. Hettches eigene Animierungen Auf diesem dünnen Eis bewegt sich auch Hettche. Eigentlich ist er zur Bearbeitung des phantastischen Stoffs gut gerüstet. Denn sein Erstlingswerk Animationen von 1999 geht von einer prismatischen Schreibtechnik aus. Er sammelt kleine Monaden einer Urgeschichte der Moderne in Venedig und verbindet dieses Miszellen in einer Extrapolation der Wirklichkeit zu einer höheren Wirklichkeit: Dinge, die passiert sind und solche, die hätten passieren könnten, weben hier zu einer Welt zusammen. Jean-François Lyotard hätte sich verstanden gefühlt von dieser Idee von Postmoderne, die Hettche mit seinem Text, das auch heute noch lesenswert ist, vorlegt. Und auch seine nächsten Bücher wie der Fall Arbogast oder der Roman über die Pfaueninsel, in dem es um ein Zwergenpaar zur Belustigung des preußischen Königshauses und um Pornografie (was dort, wo sie offen zutage tritt, der Sache keinen Abbruch tut) geht, sind in solchem phantastischen Realismus angesiedelt. Zwerge, Gnomen, Freaks und Trolle scheinen Hettche anzuziehen und nun geht es um die Augsburger Puppenkiste. Herz- und Schmerzfäden Hier verbindet er also die realistische Erzählung um Hannelore Oehmichen, die Tochter des Theatermanns Walter Oehmichen und seiner Frau Rose erst aus Osnabrück, dann aus Augsburg mit der allzu gefälligen phantastischen Szenerie der Puppen auf dem Dachboden. Dort aber trieft es gewaltig und der Kitsch dringt durch die Ritzen der verschlossenen Türen, wenn jenes apostrophierte namenlose zwölfjährige Mädchen zusammen mit dem Urmel, Jim Knopf und Kalle Wirsch den bösen Kasper jagt, der ihr das iPhone gestohlen hat (sic!). Das möchte man dann doch lieber nicht lesen. Aber auch die andere Erzählebene ist nicht frei von einer klischeehaften Liebesgeschichte von Hatü, in der Peter Frankenfeld, Romy Schneider und die Queen aus der verklärten Frühzeit des Fernsehens auftauchen. In dem blauen realistischen Text finden sich auch seitenfüllende Zitate aus Saint-Exupérys Kleinen Prinzen – abgenudelte Sinnsprüche à la Erich Fromms Die Kunst des Liebens oder Haben oder Sein wie das unvermeidliche „Das Wesentliche ist unsichtbar“ und „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Entsprechend lautet der Titel des Buches in diesem Jargon auch Herzfaden. Der soll nicht den materiellen Faden meinen, der die Marionette hält, sondern den unsichtbaren zwischen Puppe und Publikum. Der Metaphernhorizont bleibt so stilsicher mit Herz und Schmerz im Kitsch kleben. Kein Papst hätte irgendein Problem damit. Das große Geheimnis: der böse Kasper und das Fronttheater Da hilft es auch nur wenig, dass beide Erzählebenen mit einer rhetorischen Figur aus der Nazizeit zusammengehalten werden sollen: Der Kasper soll deswegen auf beiden Erzählebenen böse gewesen sein, weil er zunächst eine jüdische Physiognomie gehabt hätte. Da soll nun das Böse sitzen: ein NS-Frontpuppenspieler im Kriege habe diese Physiognomie in eine Kasperle-Marionette geschnitzt, die Vater Oehmichen aus dem Krieg mitgebracht hätte. Vor der habe die Puppenspielertochter, die solchen Kasperkopf kopierte, sich erschreckt. Der Vater aber hätte dann das Gesicht der zuvor bösen Puppe bald zur Freundlichkeit hin korrigiert; die Tochter habe sich aber gleichwohl immer noch weiter vor ihr gefürchtet. Über diese hanebüchene Konstruktion einer Art Joker, der wie bei Batman unter dem Grinsen immer noch böse sein soll, gibt der Frontkasper mit seiner angeblich jüdischen Physiognomie zusammen mit der Soldatenunterhaltung bei Hettche das böse Prinzip für seine Dachbodenwelt in rot und auch in der blauen Puppenspielerchronik ab. Eine Ästhetik des Dunklen und des Geheimnisses
Dieser Plot
bleibt nicht nur kitschig, er ist auch falsch. Umgekehrt wäre daraus ein Schuh
geworden: Böse ist nicht die traditionelle Kasperlephysiognomie beispielsweise
des Hohensteiner Kaspers mit stechenden braunen Augen, Hackennase und dunklen
Haaren unter der bunten Kaspermütze. Sondern umgekehrt folgt die sanguinische
Korrektur hin zum fröhlichen und unbedarften Blondschopf, die der Vater
Oehmichen an diesem Gesicht vorgenommen haben soll, dem Klischee des unbedarften
und fröhlichen germanischen Menschen mit blonden Haaren. Erwin Panofsky hatte
ein solches rassistisches Schema des Ariers gegen den melancholischen Judentypen
zusammen mit Fritz Saxl und Raymund Klibansky eindrucksvoll nachgezeichnet, das
Hettche hier selbst unbedarft und naiv als Plot seines Romans reproduziert.[3]
Das dumme Ding. Die Szenerie auf dem Dachboden ist aber auch aus anderen Gründen prekär: ein zwölfjähriges Mädchen ohne Namen kriecht dort in einem darkroom herum und wird von Puppen angefasst und verschleppt. Dieses Wesen wird durchgängig als „es“ mit einem generischen Neutrum angesprochen. Das erscheint unendlich viel schlimmer als das generische Maskulinum, das von Verfechtern einer gendergerechten Sprache inkriminiert ist – nicht immer zu Unrecht. Denn bei Hettche ist dieses Mädchen – das laut Hergang der Geschichte eben gerade kein Kind mehr ist, dass noch mit Puppen spielen soll – offiziell aber auch keine Frau. Solche undefinierte Kindfrau bleibt als Lolita anscheinend so ein Objekt wie die reale Alice Liddell in Alice im Wunderland. Dort hat der skurrile Humor bekanntlich auch etwas mit der sexuellen Orientierung von Lewis Carroll zu tun. Es mag also kein Zufall sein, dass die Heldin bei Carroll ein Mädchen an der Schwelle ist, blond und blauäugig bei Walt Disney, aber ohne offizielle sexuelle Attribute, sodass man es dort auch „es“ nennen könnte, das dumme Ding. Das geht in die Richtung von großäugigen Mangas mit japanischen Schulmädchen oder den unschuldigen Nymphenmädchen von David Hamilton.[4] Bei Carroll aber gibt es nicht allein die skurrile Verrätselung, sondern zugleich auch den Klartext dazu: Ihn bildet der Text des Gedichtes vom Walross und dem Zimmermann aus Through the looking Glass: Beide Herren laden dort die kleinen Austern ganz freundlich zum Essen ein – und verschweigen dabei, dass es die Austernkinder selbst sind, die gegessen werden sollen. Hier geht es also ach so phantasievoll zu wie in der Schaufensterwerbung von Fleischereien, wo die dort geschlachteten Tiere als lustige Gesellen auftauchen, die dazu animieren, dass sie selbst gegessen werden sollen. Frau Wutz lässt grüßen. Eine vertane realistische Chance
Hätte Hettche dagegen
also einfach nur eine kleine Erzählung über die Puppenspielerfamilie Oehmichen
und ihre Verbindung zum Fronttheater geschrieben und die medienwirksamen
Einschübe und auch die kitschigen Skizzen dazu weggelassen, so wäre eine Novelle
vielleicht wie Christa Wolfs letztes Stück Augusto oder mindestens ein
historischer Roman wie Henning Mankells Daisy Sisters herausgekommen:
bescheiden, realistisch und durchaus bezaubernd aus dem Schreiben heraus – und
nicht aus dem angeklebten Schatten der aufgerufenen Figuren als falsche Aura.
Das hat Hettche aber leider nicht getan. Sein Roman Herzfaden wird trotz
oder gerade wegen der jüdischen Motive im historischen Teil, die dort seltsam
unangemessen bleiben und nur eine dünne Rationalisierung für den schlecht
konstruierten Plot und anderes darstellen, grundlos in ordentlich
physiognomischem Herzsaft ersoffen. Das wäre nicht nötig gewesen. Gleichwohl
scheint die Rechnung aufzugehen und viele Kritiker bekommen schon feuchte Augen,
wenn sie Augsburger Puppenkiste nur hören. [1] Wenn das Handy in die Moldau fällt. Die Serie Pan Tau verkommt in der Neuauflage zum Eventmanager. Martin Zips, Süddeutsche Zeitung vom 7. Oktober 2020. [2] Erwin Panofsky, Stil und Medium im Film (1947), Frankfurt am Main: Fischer 1999, S. 19-57, hier S. 32. [3] Vgl. Erwin Panofsky, Raymond Klibansky, Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. [4] Auf dessen prekäre Verteidigung durch Gabriel Matzneff und zuvor Robbe-Grillet haben unlängst Maren Kroymann und Lieselotte Steinbrügge hingewiesen: Hat keine was gesagt? Als Nachtrag zum Fall Mazneff: was seinerzeit passierte, wenn man versuchte, auf kulturbeflissenen Sexismus hinzuweisen. Eine Anekdote aus der Geschichte der Zeitschrift „lendemains“. Süddeutsche Zeitung, 17. September 2020, S. 12.
Artikel online seit 08.10.20 |
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