Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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»Der Schoß ist fruchtbar noch, ...«

Peter von Haselbergs Studie über
»Schuldgefühle und postnazistische Mentalitäten in der frühen Bunderepublik
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Von Wolfgang Bock

 

I. Eine Botschaft aus ferner Gegenwart

Das Frankfurter Institut für Sozialforschung publiziert in einer Reihe des Campus-Verlags Texte aus seinem Archiv. Vor nicht allzu langer Zeit landete der Suhrkamp-Verlag einen Bestseller mit einem Vortrag Theodor W. Adornos über Antisemitismus aus dem Jahr 1967. Möglicherweise davon und durch die aufflammenden Attentate und antisemitischen Äußerungen angeregt, wie wir sie heutzutage wieder durch die AfD, Pegida, Querdenker und Coronaleugner und andere erleben, wird nun also bei Campus die Studie des damaligen IfS-Mitarbeiters Peter von Haselberg über Schuldgefühle der Deutschen aufgelegt. Sie gehört zum Umkreis des sogenannten Gruppenexperiments von 1950/51, veröffentlicht 1955, das erste größere Forschungsprojekt der Frankfurter Sozialforscher nach ihrer Rückkehr 1950 aus den USA. Es hat die großen Studien über Antisemitismus, Vorurteile und den Autoritären Charakter zur Voraussetzung. Diese gehen wiederum zurück auf die Untersuchungen von Erich Fromm über die Anfälligkeit gegenüber Autoritarismus bei Arbeitern und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches (1929), sowie die Studien über Autorität und Familie von 1936.[1] heute, wo alle öffentlich so tun, als sähen sie das erste Mal einen Antisemiten in Deutschland, ist es gut, sich an diese Geschichte zu erinnern.

II. Postnazistische Veranstaltungen

Grund genug also, um sich diese Studie 70 Jahre später genau anzuschauen, gibt es heute jedenfalls. Peter von Haselberg (1908-1994) war Journalist, Jurist und Sozialwissenschaftler. Eine Promotion, die er über die Staatstheorie des Nationalsozialismus bei dem jüdischen Verfassungsrechtler Hans Kelsen in Köln eingereicht hatte, musste er 1933 abbrechen. Der Jude Kelsen war von Carl Schmitt und seiner „deutschen Rechtspolitik“, die es u.a. verbot, jüdische Juristen zu zitieren, als Professor zum Rücktritt gezwungen worden. Haselberg interpretiert Aussagen aus 121 verschiedenen Gesprächskreisen, die im Winter 1950/51 in Westdeutschland unter der Leitung von Friedrich Pollock aufgenommen und später transkribiert worden waren. Ein exemplarisches Protokoll einer solchen Sitzung in Augsburg findet sich im Anhang (S. 197-240).

Haselbergs Beitrag zur verdrängenden Sprache der Probanden angesichts ihrer Schuldgefühle war, wie anscheinend eine ganze Reihe anderer, 1955 nicht in den Sammelband der Veröffentlichung aufgenommen worden. Das mag damit zusammengehangen haben, dass das Material bereits von Adorno in einer größeren Untersuchung auf die Motive Schuld und Abwehr hin ausführlich interpretiert worden war.[2] Die Interviews waren zudem noch von Adornos damaligen Assistenten Rainer Köhne und Hermann Schweppenhäuser auf sprachliche Eigenheiten hin durchgesehen worden.

III. Mentalitäten in Deutschland im Jahre 1950 und danach

Möglicherweise liegt der Sache aber auch zugrunde, dass die Veröffentlichung des Materials und seine Interpretation einen zu großen Schock bei dem damaligen Publikum hervorgerufen hätte, das fleißig mit Verdrängen und Aufbauen beschäftigt war. Das Institut war seinerzeit bemüht, keine Vielfrontenauseinandersetzung gegen die deutsche Nachkriegsgesellschaft zu führen, die ideologisch immer noch weitgehend nazistisch durchseucht war. Horkheimer, Pollock und Adorno beschränkten ihre Tätigkeit zunächst auf den universitären Bereich. Sie führten dort in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Hochkommissar eine kritische empirische Sozialforschung und freudianisch ausgerichtete Psychoanalyse als Interpretationshorizont wieder ein. Horkheimer begnügte sich zunächst mit seiner Wiedereinsetzung als Leiter des Instituts für Sozialforschung und 1951-1953 als Rektor der Goetheuniversität. Adorno wandte sich der immer noch faschistisch überblendeten Kunstdebatte und der Philosophie in der Auseinandersetzung mit Martin Heidegger zu. Dabei ließen sie das akademische Feld der Psychologie ebenso wie das der Betriebs- und Wehrpsychologie im Hinblick auf eine mögliche Entnazifizierung weitgehend unangetastet.[3]

Dass bereits fertiggestellte Studien über das Weiterleben des Nationalsozialismus in der Nachkriegsgesellschaft nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, besitzt in Deutschland allerdings eine Tradition. Bereits die Materialien der Nürnberger Ärzteprozesse, die Fred Mielke und Alexander Mitscherlich 1948 zusammengestellt hatten, wurden als Gesamtauflage von der Deutschen Ärztekammer aufgekauft und eingestampft. Auf eine ähnliche Weise verhinderte auch der Interessensverband der zurückgekehrten deutschen Kriegsgefangenen die Veröffentlichung einer Studie des Frankfurter Instituts über deren rechte Gesinnung – eine Fortsetzung der erfolgreichen Bücherverbrennungen der 1930er Jahre mit anderen Mitteln nach dem Krieg. Um ein Bild Adornos aufzugreifen: Was unter diesem Stein, den man hätte aufheben sollen, weiterwucherte, war nichts Gutes. Umso mehr kann man heute darüber streiten, was an dieser verdienstvollen aktuellen Veröffentlichung der historischen Studie von 1950 wichtiger ist: die uneingeschränkte Kenntnisnahme der Statements der Probanden oder deren Interpretation, in diesem Fall durch Peter von Haselberg? Auf jeden Fall gibt es gute Gründe für die Veröffentlichung.

Man fühlt sich als Leser wie in einer Zeitkapsel: die Aussagen der Probanden von damals über die politische Lage in Deutschland und die Schuld der Deutschen, die von den Konzentrationslagern und dem Antisemitismus nichts gewusst haben wollen, bleibt bis heute frisch: Da wird im Oktober 2020 in Hamburg ein Student beim Gang in die Synagoge von einem Täter in Kampfmontur, mit einem Klappspaten niedergeschlagen. Obwohl der Täter in seiner Tasche zusätzlich einen Zettel mit einem Hakenkreuz trägt, fragen sich die Richter anscheinend ernsthaft, welche seltsame Aktion dieser Mann – ein verwirrter Einzeltäter selbstverständlich – denn da wohl vorgehabt haben mag?[4] Und hört man heute Reden von Pegida oder AfD-Rednern wie Björn Höcke, Alice Weigel oder Alexander Gauland, die vom „Denkmal der Schande“ oder von der „NS-Zeit als Vogelschiss der Geschichte“ schwafeln und eine „Rettung der Ehre der deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs“ zu ihrer persönlichen Sache gemacht haben, so scheint sich in der Argumentation über Schuld und Scham bis heute nicht viel geändert zu haben. Das ist durchaus buchstäblich gemeint: Immer noch herrschen bei diesen und anderen Leuten aggressive Verleugnung und Abwehr vor, während sich zugleich der philosemitische Opferkult einer Identifikation mit den Juden herausgebildet hat. Beides erspart sich eine differenzierte Position. Statt eines: „Ist mir nahegegangen“, hört man das sattsam bekannte: „Hat mir ferngelegen“, wie Wolfgang Neuss das einmal ausgedrückt hat.

IV. Eine Traumerzählung

Umso verdienstvoller ist die Veröffentlichung dieses Textes. Dabei haben es sich die Herausgeber mit diesem sperrigen Text nicht leicht gemacht. Die Texte der transkribierten Interviews, mit denen auch andere Interpreten arbeiten, werden von Haselberg auf sprachliche Abwehrformeln hin angeschaut. Es handelt sich um ein besonderes Fragment, dessen Bedeutung sich erst erschließt, wenn die Idee des Gruppenexperiments insgesamt deutlich wird. Das Setting hat bestimmte Voraussetzungen: gesprochene Rede wird wie geschriebene angesehen. Die Methode der Interpretation der Protokolle ist von Adornos amerikanischen Studien her bekannt, der unter anderem im Zusammenhang eines Antisemitismusprojekts die Propagandareden von rechtsradikalen Haßpredigern in den 1940-erJahren in Amerika untersucht hatte. Auch die Schlüsse der Berkely-Gruppe zum Autoritären Charakter können hier als Vorbild dessen gelten, was die zurückgekehrten Frankfurter Sozialforscher ihren jungen deutschen Studenten als Methoden-Handwerkszeug mit auf den Weg gaben.

Haselberg liegt dasselbe transkribierte Material vor, aber er strukturiert es etwas anders als Adorno. Die aktuellen Herausgeber seiner Studie haben sich dabei zurückgehalten, beispielsweise thematische Überschriften der einzelnen abgehandelten Themen und Zusammenhänge zu vergeben. So liest sich die Studie ein wenig wie eine Traumerzählung, in der die jeweiligen Einzelteile gleich wichtig sind. Es handelt es sich allerdings um eine Albtraum-Narration: in diesem Fall ist es nicht wie bei Goyas Capriccio der Schlaf der Vernunft, der die Ungeheuer gebiert, sondern im Gegenteil ruft die zu wache Abwehr der Schuldgefühle bei den Probanden die Sprachmonstren der deutschen Rechtfertigung hervor.

V. Hinter der Scheibe

Dieser Verzicht auf eine eingreifende Ordnungsstruktur macht die Sache für die Leserin und den Leser nicht einfacher. Denn es werden von Haselberg Gesprächsteile aus verschiedenen Interviews herangezogen, um die entsprechende Sprachform zu untersuchen. Dabei wird den Lesern nicht immer deutlich, aus welchen Zusammenhängen die einzelnen Gesprächsäußerungen stammen; ebenso wenig, was genau das Hauptmotiv des entsprechenden Abschnitts der Untersuchung bildet. Das Beispiel des Gesprächs 96 mit Vertretern der christlichen Arbeiterjugend aus Augsburg im Anhang hilft dabei allerdings etwas, sich im Text zurechtzufinden. Trotzdem gilt: Man benötigt Vorwissen. Die Gruppengespräche sind so organisiert, dass den Probanden – handelt es sich nun um Rechtsanwälte, einen Stammtisch, Hausfrauen oder Abiturienten – ein sogenannter Grundreiz vorgelesen wurde. Dabei handelt es sich um einen von Adorno eingesprochenen, fingierten Brief des amerikanischen Sergeanten Colburn, der seine Beobachtung über die Deutschen mitteilt: Sie seien im Prinzip gute Leute, besäßen aber große Probleme, sich in andere einzufühlen, da sie davon ausgingen, dass es ihnen am schlechtesten von allen ergangen sei. Auf diesen Gesprächsreiz des Colburn-Briefs hin äußerten die Gesprächsteilnehmer ihre Meinungen zu den Themen der aktuellen Politik, Antisemitismus, der Judenvernichtung und der Schuld der Deutschen. Die aufgezeichneten Antworten wiederum interpretiert Haselberg später aus der sicheren Warte desjenigen, der einem Verhör zusieht, dabei aber selbst isoliert hinter der Verhörraumscheibe verborgen bleibt.

Die dann sprechenden Probanden – immerhin hatten die Gruppen über 60% schweigende TeilnehmerInnen – halten sich dann aber mit ihren eigenen Urteilen über Gott und die Welt nicht zurück. Wie die Herausgeber richtig erkennen, handelt es sich insgesamt um eine Fortsetzung der Propagandaveranstaltungen der Nazis. Ihre Art in der Nachkriegszeit zu sprechen, ist voll von Rechtfertigung, aber nicht von Reue oder Sühne getrübt: oft sind die früheren HJ-Führer im ersten Sinne am lautstärksten; Schuld sind so immer nur die anderen, vorzüglich die Juden. Sogenannte „Versöhnungswillige“, die überhaupt bereit sind, selbst eine gewisse Mitschuld zuzugestehen, finden sich kaum. Kaum gibt es Zeugnisse davon, dass irgendjemand diesem Redeschwall entgegentritt. Die Gegenwart erscheint als Folge dieser Konstellation.

VI. Gruppentherapie und Scheitern

Hier gibt es einen strittigen Punkt darüber, was das Gruppenexperiment insgesamt analysieren wollte. Die faschistische Art zu denken und zu sprechen wird 1950 weiter reproduziert. Es konnte nicht darum gehen, die postnationalsozialistische deutsche Nachkriegsideologie aus den Äußerungen der Gruppenteilnehmer herauszulesen. Wenn das Institut daran Interesse gehabt hätte, so wäre es einfacher gewesen, die Texte von Carl Schmitt, Adolf Eichmann, Hans Freyer oder Harald Schultz-Hencke zur Propaganda des Nationalsozialismus direkt zu lesen. Das eigentliche ambitionierte Ziel des Gruppenexperiments war es, herauszubekommen, in welcher Form Menschen, die die faschistischen Kollektivierungsformen argumentativ verlassen wollen, von dem Rest der Gruppe wieder zurückgeholt werden und so ein bestimmter Gruppendruck erzeugt wird? Dahinter steht die Idee des Frankfurter Psychoanalytikers Foulkes, die Zusammenhänge solchen Wirkens tiefenpsychologisch zu untersuchen. Dazu findet sich in den einleitenden Worten der Herausgeber nichts. Möglicherweise auch deswegen nicht, weil dieses allzu große Ziel bald von Horkheimer und Pollock angesichts der alarmierenden Ergebnisse aufgegeben wurde.

Die Haselberg-Studie war zunächst nicht zur Veröffentlichung vorgesehen. Ebenso fiel auch die Interpretation der Mitarbeiter aus verschiedenen Gründen nicht so aus, wie die Organisatoren der Studie es geplant hatten. Das gehört in den Zusammenhang von die Produktion hemmenden inneren und äußeren Faktoren. 1955 war für diese politischen Themen eine schwierige Zeit. Das Institut für Sozialforschung wurde von der Öffentlichkeit nicht umsonst als verlängerter Arm des amerikanischen Hochkommissariats wahrgenommen, das an verschiedenen Fronten eine Reeducation versuchte. Ihr Erfolg war von anderen Bedingungen abhängig; unter anderem davon, wieweit die Amerikaner die Entnazifizierung im Westen ernst nahmen oder wie weit sie selbst im eigenen Lande ihren Minderheiten wie Indigenen, Farbigen oder den Juden eine demokratische Partizipation angedeihen ließen.

VII. Sprachgestik

Nichtsdestotrotz ist das unter solchen schwierigen Umständen in Haselberg Studie präsentierte Material nicht allein als Zeugnis von offenkundig Unbelehrbaren interessant, sondern insbesondere im Hinblick auf die bestimmte Interpretation, die er vornimmt. Die ausgewählten Proben stammen aus verschiedenen Diskussionen, die wie in einer transkribierten Toncollage zusammengestellt werden. Wie über die Gesprächskreise, die der Interpretation zugrunde liegen, so erfahren wir auch nichts über den Interpretationszusammenhang von Haselberg selbst. Die kategoriale Metaebene, von der aus die einzelnen Aussagen interpretiert werden, lässt sich aus seinen Äußerungen nur indirekt erschließen. Es ist ein literarischer Horizont mit der Nennung von Stefan Zweig, Franz Kafkas Roman Der Prozess oder Franz Werfels Schuld ist der Ermordete, nicht der Mörder oder auch Thomas Manns Joseph und seine Brüder. Darüber hinaus gibt es einen psychoanalytischen Interpretationszusammenhang, der besonders deutlich im letzten Drittel der Studie zum Tragen kommt, wenn es um den metaphorischen Zusammenhang des Abstreitens der Schuld geht. Haselbergs Deutung erinnert hier nicht allein an die dreibändige Neurosenlehre von Otto Fenichel, deren intensive Lektüre Adorno seinen Assistenten Köhne und Schweppenhäuser ans Herz gelegt hatte. Bei Haselberg finden sich angesichts von Kastrationsdrohungen und Zerstückelungsaktion in den verwendeten Sprachbildern Anklänge an die luziden Studien von Georg Groddeck, aber auch an Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus, wenn es darum geht, die NS-Ideologie bündig zusammenzufassen: es handelt sich um die Furcht der deutschen Männer, dass die Russen Ihnen das Eigentumsrecht an ihren Frauen sozialisieren wollten. Einen weiteren Zusammenhang bildet der sadistische Ausdruck von Phantasien über die Juden, die wenig verholen mit Ungeziefer und Vernichtungsvorstellung zusammengebracht werden. Zerstückelungs-Phantasmagorien, Kastrationsängste und andere Elemente lassen überdies einen frühen Ansatz in eine Richtung erkennen, die Klaus Theweleit mit seinen Männerphantasien 1977 aus den Romanen der Freikorpssoldaten herauslesen wird.[5]

Der eigentliche befähigte Hintergrund Haselbergs aber besteht in seiner juristischen Qualifikation als Staatsrechtler. Es geht um die entsprechende Rechtfertigung dessen, dass die Deutschen einen Angriffskrieg begonnen und 6.000.000 Juden umgebracht haben. Diese Tatsachen, die alle wissen, werden von den Probanden offiziell nicht ins Bewusstsein vorgelassen, sondern teils bewusst, teils unbewusst abgewehrt. Die entsprechenden Formen von Affektenkontrolle und der Errichtung eines Schutzwalls aus notorischen Begriffen wie „Schandvertrag von Versailles“ oder „Opfer von Dresden“, die zur Abwehr verwendet werden, weisen jede weitere Frage und jedes Mitgefühl ab. Von diesen Termen findet Haselberg zwei Klassen: die der eigenen Not wie die genannten und die anderen, die angeblich so fremd sind, dass sie wie von ferne winken: „Dachau“, „KZ“ und das fremdeste Wort von allen: „Jude“ (S. 127). Das analysiert Haselberg im objektivierenden Horizont dieser Zusammenhänge des Wortgebrauchs von „Kraftworten“ und „Fremdworten“. Er macht hier einen Mechanismus aus, bei dem anstelle des begrifflichen Denkens dasjenige von Bildern tritt. Das rauschhafte Element solches Bilderdenkens, erinnert an Ludwig Klages und Carl Gustav Jung, aber auch an die Surrealisten und Georges Sorel und seinen Mythos des proletarischen Generalstreiks. Adorno steht einer Bilderlehre nicht nur kritisch gegenüber und Benjamin gar wollte den Rausch der Bilder für die Revolution gewinnen. Haselberg betont dagegen etwas starr die Begriffslosigkeit solchen Denkens.

VIII. »Wir sind als Volk schon tot.«

Wesentlich ist hier das Ergebnis, dass es bei den Deutschen keine wirkliche Emotionalität gegenüber den Untaten an den Juden und den anderen wehrlosen Opfern gibt. Jeder der TeilnehmerInnen kannte einige Juden persönlich, aber von den Ereignissen im KZ hatte man angeblich „nur gehört“. Was man stattdessen anscheinend wusste, war „daß man bei dem Bombardement mit den eigenen Kindern über den Asphalt sich retten musste, der brannte.“ (S. 173) Alles andere – wie die Erschießung von jüdischen Frauen mit Kindern auf dem Arm durch deutsche Soldaten – waren Behauptungen, die man sich nur vorstellen mochte, wenn diese Jüdinnen zuvor einen Deutschen hatten umbringen wollen.

Statt die Realität anzuerkennen, gab man sich der panoramatischen Vorstellung von geheimen Kräften hinter der Judenvernichtung hin, wonach eigentlich die Westjuden die Ostjuden vernichten wollten und diese Auseinandersetzung auf deutschem Territorium ausgetragen wurde. (S. 168) Am Ende der Studie tauchen darüber hinaus Motive aus Georges Sorels Vorstellung vom internationalen Sozialismus und dem Mythos des Generalstreiks auf. Danach war anscheinend auch der deutsche Nationalsozialismus vor allem ein sozialistisches System und daher verbunden mit dem Sowjet-Sozialismus.

Haselbergs Qualifikation als Deuter liegt zunächst darin, angesichts dieser kruden Verschwörungstheorien, die die Probanden hier auftischen, den Kopf nicht zu verlieren und selbst nüchtern diese ideologischen Zusammenhänge zu analysieren; zum anderen muss man ihm zugutehalten, diese Art von Verschwörungstheorien überhaupt zugelassen und interpretierbar gemacht zu haben und sie nicht von vornherein als dummes Zeug auszusortieren. Ideologiekritik bedeutet ja diese Verschwörungen zuallererst als Weltinterpretationen ernst zu nehmen, auch wenn es sich um zerfallene Meinungspartikel und Ideologiebruchstücke handelt.

Der Schockeffekt der Veröffentlichung solcher Protokolle wirkt bis in die jüngste Zeit nach. Man erinnere nur an die Debatten Ende des 20. Jahrhunderts über den Historikerstreit 1986/87 oder über die Verbrechen der Wehrmacht 1995. Das waren Ereignisse, die die Gesellschaft erschütterten. Ähnliches kennt man von Helmut Schmidt, der als Herausgeber der Zeit den Chef des Zeitmagazins aus dem Urlaub zu sich zitiert und entlässt: Er hatte eine Äußerung von Joseph von Westphalen abgedruckt, wonach dieser im Wald lieber eine Tüte mit Müll finde, als dass ihm dort ein Trupp von Soldaten begegnete. Das, oder der Kniefall Willi Brandts 1970 in Warschau bringt die Deutschen auf die Palme. Auf die Ehre der deutschen Soldaten und deutscher Polizisten lassen wir auch heute nichts kommen: Der Innenminister verbietet Studien über das mögliche rassistische Verhalten deutscher Polizisten gegenüber Migranten; er befördert stattdessen seinen Chef des Verfassungsschutzes nach verharmlosenden Äußerungen über die Jagd auf Ausländer in Chemnitz zum Staatssekretär. Nachdem das nach Protesten wieder rückgängig gemacht wird, tourt der mit seiner üppigen Frühpension und seinen rassistischen Sprüchen weiter durch Sachsen und Thüringen und macht Wahlkampf für die AfD – ein V-Mann?

Das alles passiert unter den gleichen Reden wie jenen, die Peter von Haselberg 1950 analysiert. Hier scheint also eine Verbindung und eine Anschlussfähigkeit an heutige rhetorische Formen zu bestehen. Der Unterschied aber zu den 1950er- und 1960er-Jahren ist, dass zu der Zeit die völkische Ideologie auf einem antizyklischen absteigenden Ast war, während heute die entsprechenden Ideologen sich auf einem prozyklischen Weg sehen. Ihnen und ihrem pathischen Nationalismus schallen international entsprechende Antworten entgegen: aus Trumps Amerika, aus Bolsonaros Brasilien, aus Orbáns Ungarn oder aus Netanjahus Israel. Mit anderen Worten, diese regressiven autoritären Vorstellungen werden als Zukunftsgehalte gehandelt.

Das Argument, es handele sich um verrückte Spinner, dass beispielsweise Michael Kater gegenüber den Forschungsplänen der NS-Stiftung Ahnenerbe vorbringt oder die Verharmlosungen heutiger Verbandspsychoanalytiker gegenüber den Perversionen des Göring-Instituts zeigen, oder auch die Unfähigkeit, die neue „Querfront“ zwischen Faschisten und Yogalehrerinnen und Ökologiebewegung überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, zeugt davon, dass sich auf diesem Gebiet nichts getan hat.

„Querdenken“ bedeutet nicht nur einfach, etwas gegen den Strich tun, sondern es ist eine Verbindung von Stalinisten und Faschisten, wie sie sich beispielsweise 1932/33 bei dem großen Straßenbahner-Streik in Berlin abgespielt haben. Den haben KPD und NSDAP lustig zusammen organisiert. Wenn heute auf den Coronaleugner-Demonstrationen Meditationsgruppen auftreten und Heilpraktiker und Yoga-Lehrerinnen vor Impfungen warnen, auf der anderen Seite Verschwörungstheoretiker so behandelt werden, als befänden sie sich in einem alternativen Geburtshaus. Das zeigt vor allem eines: Das alles muss als Ideologie interpretiert und darf nicht wörtlich genommen werden. So wie Haselberg die Meinung seiner postfaschistischen Probanden versteht, so sollten auch die heutigen Gespräche mit protofaschistischen Verschwörungstheoretikern geführt werden.

Aber wie soll das geschehen, wenn die Öffentlichkeit bis heute kaum zu unterscheiden vermag zwischen facts und fictions? Auch das Setting von Sprechen und Interpretation der Gruppenstudie besitzt seine problematischen Seiten. Wie beim Möbiusband gibt es keine Trennung zwischen Innen- und Außenwelt. Wer interpretiert die Interpreten? In der Deutungssituation der Psychoanalyse werden die verschiedenen Versionen als Vorschläge von Therapeut und Patient gemeinsam entwickelt, die hier getrennt bleiben. Das Moment der Gegenübertragung des Deutenden fällt hier aus. Das Setting der Gruppenstudie hatte dafür noch vorgesehen, die Deutungen zumindest innerhalb der Interpretengruppe weiter zu besprechen. Daher gibt es keine Alternative zur Demokratie und Aufklärung. Oder wie der schwedische Lyriker Thomas Tranströmer sich ausdrückt: „Träumte, ich sei in einem Krankenhaus/ Nur Patienten, keine Ärzte.“ Mit anderen Worten, die Ergebnisse gehören in eine öffentliche Diskussion.

IX. »Am jüngsten Tag ist’s nur ein Furz.«
Sprachliche Miasmen

Dieser Schatz im Archiv des Instituts für Sozialforschung, wie das Gruppenexperiment, ist nicht nur historisch kaum bekannt, sondern die Verdrängung dieser Zusammenhänge einer deutschen Schuld geht bis heute weitgehend unbearbeitet in der Öffentlichkeit weiter. Ihr gegenüber gilt, was Adorno einmal gesagt hat: dass die jüngste Vergangenheit wie durch Katastrophen vernichtet erscheint. Damals wie heute soll Schluss sein damit. Haselbergs kluge und luzide Interpretation lüftet das Tuch, das über die schwelende Wunde des Nationalismus gebreitet ist und erschließt hier einen weiteren Zusammenhang. Beispielsweise, wenn Alexander Gauland von der Nazizeit als „Vogelschiss der Geschichte“ spricht. Das ist nicht weit entfernt von der von Haselberg gedeuteten Aussagen der Probanden, wonach die Juden „in den Schornstein gejagt“ gehörten und zu einem „Gasfurz“ würden. (S. 141) Von stinkenden Rauchwölkchen bis zum stinkenden Vogelschiss ist es nicht weit. Gauland, Weigel, Storch und Höcke, aber auch die KabarettistInnen Dieter Nuhr und Lisa Eckhart reden über weite Strecken so eine Originalsprache wie die Probanden der Fünfzigerjahre. Sie und andere bekommen ihre Foren im deutschen Fernsehen! Sie setzen darauf, dass solches Sprechen schon damals offiziell nicht verstanden wurde; ihre Anhänger aber verstehen sie genauso und wollen auch so sprechen: Worüber man nicht reden kann, darüber kann man lachen, lehrte schon Arnold Hau. Mit Haselberg kann man lernen: So stumm wie die Schweiger und so stur wie die Vielredner auch sind – ein Juden- oder ein Ausländerwitz geht auch 2021 immer! Das sich AfDler gegen die Samenverschwendung bei deutschen Männern aussprechen, zugleich im Bundestag bei Rednerinnen, insbesondere solchen mit Migrationshintergrund, regelmäßig in Getrampel und Geheul ausbrechen, gehört zusammen. So wie sie eine gendergerechte Sprache oder eine Frauenquote generell ablehnen, weil sie finden, dass Frauen sich mehr anstrengen sollten („Dann könnte man ja auch gleich eine für Migranten und Behinderte fordern.“). Tatsächlich hat sich in der Aufarbeitung dieses metaphorischen Vokabulars, das durchaus wörtlich gemeint ist, zwischen 1950 und 2021 anscheinend nicht viel getan. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch“, heißt es in einer misogynen Allegorie in Brechts Kriegsfibel.

X. Wider den Schicksalszwang

So kann die Studie Haselbergs den Leserinnen und Lesern, so sie denn bereit sind zu lesen, sehr nahegehen. Dem Rezensenten jedenfalls kommt sie ein wenig so vor wie in einem Cartoon von Rattelschneck: Es ist wie die Zeitlupen-Wiederholung des bösen Verwandtenbesuchs vom Wochenende.

[1] Gruppenexperiment. Ein Studienbericht. Bearbeitet von Friedrich Pollock, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1955 (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. Im Auftrag des Instituts für Sozialforschung hrsg. von Theodor W. Adorno und Walter Dirks. Bd. 2.)

[2] Theodor W. Adorno, „Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment“, in: Gruppenexperiment, S. 278 – 478; auch GS 9.2, S. 121 – 324.

[3] Die Kontinuität der gleichgeschalteten NS-Psychologie, insbesondere des Göring-Instituts und der „germanisiert Psychoanalyse“ mit ihren Protagonisten Carl Gustav Jung, Harald Schultz-Hencke oder Carl Müller-Braunschweig sparten beide bis auf wenige Ausnahmen auch später weitgehend aus.

[4] „[…] Die Tat könnte als antisemitisch bezeichnet werden. Woher dieser Wahn stamme, habe das Gericht nicht klären können.“ (FAZ, 27. 2. 2021)

(5) Klaus Theweleit, Männerphantasien. 2 Bde, Reinbek: Rowohlt 1977, Neuausgabe Berlin: Matthes & Seitz 2020

Artikel online seit 16.03.21
 

Peter von Haselberg, Michael Becker (Hg.),
Dirk Braunstein (Hg.), Fabian Link (Hg.).
Schuldgefühle
Postnazistische Mentalitäten in der frühen Bundesrepublik.
Eine Studie aus dem Gruppenexperiment am Institut für Sozialforschung
Campus
252 Seiten
29,95 €
9783593511917

 


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