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»Der
Schoß ist fruchtbar noch, ...« Peter von Haselbergs Studie über »Schuldgefühle und postnazistische Mentalitäten in der frühen Bunderepublik« Von Wolfgang Bock |
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I. Eine Botschaft aus ferner Gegenwart Das Frankfurter Institut für Sozialforschung publiziert in einer Reihe des Campus-Verlags Texte aus seinem Archiv. Vor nicht allzu langer Zeit landete der Suhrkamp-Verlag einen Bestseller mit einem Vortrag Theodor W. Adornos über Antisemitismus aus dem Jahr 1967. Möglicherweise davon und durch die aufflammenden Attentate und antisemitischen Äußerungen angeregt, wie wir sie heutzutage wieder durch die AfD, Pegida, Querdenker und Coronaleugner und andere erleben, wird nun also bei Campus die Studie des damaligen IfS-Mitarbeiters Peter von Haselberg über Schuldgefühle der Deutschen aufgelegt. Sie gehört zum Umkreis des sogenannten Gruppenexperiments von 1950/51, veröffentlicht 1955, das erste größere Forschungsprojekt der Frankfurter Sozialforscher nach ihrer Rückkehr 1950 aus den USA. Es hat die großen Studien über Antisemitismus, Vorurteile und den Autoritären Charakter zur Voraussetzung. Diese gehen wiederum zurück auf die Untersuchungen von Erich Fromm über die Anfälligkeit gegenüber Autoritarismus bei Arbeitern und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches (1929), sowie die Studien über Autorität und Familie von 1936.[1] heute, wo alle öffentlich so tun, als sähen sie das erste Mal einen Antisemiten in Deutschland, ist es gut, sich an diese Geschichte zu erinnern. II. Postnazistische Veranstaltungen Grund genug also, um sich diese Studie 70 Jahre später genau anzuschauen, gibt es heute jedenfalls. Peter von Haselberg (1908-1994) war Journalist, Jurist und Sozialwissenschaftler. Eine Promotion, die er über die Staatstheorie des Nationalsozialismus bei dem jüdischen Verfassungsrechtler Hans Kelsen in Köln eingereicht hatte, musste er 1933 abbrechen. Der Jude Kelsen war von Carl Schmitt und seiner „deutschen Rechtspolitik“, die es u.a. verbot, jüdische Juristen zu zitieren, als Professor zum Rücktritt gezwungen worden. Haselberg interpretiert Aussagen aus 121 verschiedenen Gesprächskreisen, die im Winter 1950/51 in Westdeutschland unter der Leitung von Friedrich Pollock aufgenommen und später transkribiert worden waren. Ein exemplarisches Protokoll einer solchen Sitzung in Augsburg findet sich im Anhang (S. 197-240). Haselbergs Beitrag zur verdrängenden Sprache der Probanden angesichts ihrer Schuldgefühle war, wie anscheinend eine ganze Reihe anderer, 1955 nicht in den Sammelband der Veröffentlichung aufgenommen worden. Das mag damit zusammengehangen haben, dass das Material bereits von Adorno in einer größeren Untersuchung auf die Motive Schuld und Abwehr hin ausführlich interpretiert worden war.[2] Die Interviews waren zudem noch von Adornos damaligen Assistenten Rainer Köhne und Hermann Schweppenhäuser auf sprachliche Eigenheiten hin durchgesehen worden. III. Mentalitäten in Deutschland im Jahre 1950 und danach
Möglicherweise liegt der Sache aber auch zugrunde, dass die Veröffentlichung des
Materials und seine Interpretation einen zu großen Schock bei dem damaligen
Publikum hervorgerufen hätte, das fleißig mit Verdrängen und Aufbauen
beschäftigt war. Das Institut war seinerzeit bemüht, keine
Vielfrontenauseinandersetzung gegen die deutsche Nachkriegsgesellschaft zu
führen, die ideologisch immer noch weitgehend nazistisch durchseucht war.
Horkheimer, Pollock und Adorno beschränkten ihre Tätigkeit zunächst auf den
universitären Bereich. Sie führten dort in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen
Hochkommissar eine kritische empirische Sozialforschung und freudianisch
ausgerichtete Psychoanalyse als Interpretationshorizont wieder ein. Horkheimer
begnügte sich zunächst mit seiner Wiedereinsetzung als Leiter des Instituts
für Sozialforschung und 1951-1953 als Rektor der Goetheuniversität. Adorno
wandte sich der immer noch faschistisch überblendeten Kunstdebatte und der
Philosophie in der Auseinandersetzung mit Martin Heidegger zu. Dabei ließen sie
das akademische Feld der Psychologie ebenso wie das der Betriebs- und
Wehrpsychologie im Hinblick auf eine mögliche Entnazifizierung weitgehend
unangetastet.[3]
IV. Eine Traumerzählung
Umso verdienstvoller ist die Veröffentlichung dieses Textes. Dabei haben es sich
die Herausgeber mit diesem sperrigen Text nicht leicht gemacht. Die Texte der
transkribierten Interviews, mit denen auch andere Interpreten arbeiten, werden
von Haselberg auf sprachliche Abwehrformeln hin angeschaut. Es handelt sich um
ein besonderes Fragment, dessen Bedeutung sich erst erschließt, wenn die Idee
des Gruppenexperiments insgesamt deutlich wird. Das Setting hat bestimmte
Voraussetzungen: gesprochene Rede wird wie geschriebene angesehen. Die Methode
der Interpretation der Protokolle ist von Adornos amerikanischen Studien her
bekannt, der unter anderem im Zusammenhang eines Antisemitismusprojekts die
Propagandareden von rechtsradikalen Haßpredigern in den 1940-erJahren in Amerika
untersucht hatte. Auch die Schlüsse der Berkely-Gruppe zum Autoritären
Charakter können hier als Vorbild dessen gelten, was die zurückgekehrten
Frankfurter Sozialforscher ihren jungen deutschen Studenten als
Methoden-Handwerkszeug mit auf den Weg gaben. V. Hinter der Scheibe
Dieser Verzicht auf eine eingreifende Ordnungsstruktur macht die Sache für die
Leserin und den Leser nicht einfacher. Denn es werden von Haselberg
Gesprächsteile aus verschiedenen Interviews herangezogen, um die entsprechende
Sprachform zu untersuchen. Dabei wird den Lesern nicht immer deutlich, aus
welchen Zusammenhängen die einzelnen Gesprächsäußerungen stammen; ebenso wenig,
was genau das Hauptmotiv des entsprechenden Abschnitts der Untersuchung bildet.
Das Beispiel des Gesprächs 96 mit Vertretern der christlichen Arbeiterjugend aus
Augsburg im Anhang hilft dabei allerdings etwas, sich im Text zurechtzufinden.
Trotzdem gilt: Man benötigt Vorwissen. Die Gruppengespräche sind so organisiert,
dass den Probanden – handelt es sich nun um Rechtsanwälte, einen Stammtisch,
Hausfrauen oder Abiturienten – ein sogenannter Grundreiz vorgelesen
wurde. Dabei handelt es sich um einen von Adorno eingesprochenen, fingierten
Brief des amerikanischen Sergeanten Colburn, der seine Beobachtung über die
Deutschen mitteilt: Sie seien im Prinzip gute Leute, besäßen aber große
Probleme, sich in andere einzufühlen, da sie davon ausgingen, dass es ihnen am
schlechtesten von allen ergangen sei. Auf diesen Gesprächsreiz des
Colburn-Briefs hin äußerten die Gesprächsteilnehmer ihre Meinungen zu den Themen
der aktuellen Politik, Antisemitismus, der Judenvernichtung und der Schuld der
Deutschen. Die aufgezeichneten Antworten wiederum interpretiert Haselberg später
aus der sicheren Warte desjenigen, der einem Verhör zusieht, dabei aber selbst
isoliert hinter der Verhörraumscheibe verborgen bleibt. VI. Gruppentherapie und Scheitern
Hier gibt es einen strittigen Punkt darüber, was das Gruppenexperiment
insgesamt analysieren wollte. Die faschistische Art zu denken und zu sprechen
wird 1950 weiter reproduziert. Es konnte nicht darum gehen, die
postnationalsozialistische deutsche Nachkriegsideologie aus den Äußerungen der
Gruppenteilnehmer herauszulesen. Wenn das Institut daran Interesse gehabt
hätte, so wäre es einfacher gewesen, die Texte von Carl Schmitt, Adolf Eichmann,
Hans Freyer oder Harald Schultz-Hencke zur Propaganda des Nationalsozialismus
direkt zu lesen. Das eigentliche ambitionierte Ziel des Gruppenexperiments
war es, herauszubekommen, in welcher Form Menschen, die die faschistischen
Kollektivierungsformen argumentativ verlassen wollen, von dem Rest der Gruppe
wieder zurückgeholt werden und so ein bestimmter Gruppendruck erzeugt wird?
Dahinter steht die Idee des Frankfurter Psychoanalytikers Foulkes, die
Zusammenhänge solchen Wirkens tiefenpsychologisch zu untersuchen. Dazu findet
sich in den einleitenden Worten der Herausgeber nichts. Möglicherweise auch
deswegen nicht, weil dieses allzu große Ziel bald von Horkheimer und Pollock
angesichts der alarmierenden Ergebnisse aufgegeben wurde. VII. Sprachgestik
Nichtsdestotrotz ist das unter solchen schwierigen Umständen in Haselberg Studie
präsentierte Material nicht allein als Zeugnis von offenkundig Unbelehrbaren
interessant, sondern insbesondere im Hinblick auf die bestimmte Interpretation,
die er vornimmt. Die ausgewählten Proben stammen aus verschiedenen Diskussionen,
die wie in einer transkribierten Toncollage zusammengestellt werden. Wie über
die Gesprächskreise, die der Interpretation zugrunde liegen, so erfahren wir
auch nichts über den Interpretationszusammenhang von Haselberg selbst. Die
kategoriale Metaebene, von der aus die einzelnen Aussagen interpretiert werden,
lässt sich aus seinen Äußerungen nur indirekt erschließen. Es ist ein
literarischer Horizont mit der Nennung von Stefan Zweig, Franz Kafkas Roman
Der Prozess oder Franz Werfels Schuld ist der Ermordete, nicht der Mörder
oder auch Thomas Manns Joseph und seine Brüder. Darüber hinaus gibt es
einen psychoanalytischen Interpretationszusammenhang, der besonders deutlich im
letzten Drittel der Studie zum Tragen kommt, wenn es um den metaphorischen
Zusammenhang des Abstreitens der Schuld geht. Haselbergs Deutung erinnert hier
nicht allein an die dreibändige Neurosenlehre von Otto Fenichel, deren
intensive Lektüre Adorno seinen Assistenten Köhne und Schweppenhäuser ans Herz
gelegt hatte. Bei Haselberg finden sich angesichts von Kastrationsdrohungen und
Zerstückelungsaktion in den verwendeten Sprachbildern Anklänge an die luziden
Studien von Georg Groddeck, aber auch an Wilhelm Reichs
Massenpsychologie des Faschismus,
wenn es darum geht, die NS-Ideologie bündig zusammenzufassen: es handelt sich um
die Furcht der deutschen Männer, dass die Russen Ihnen das Eigentumsrecht an
ihren Frauen sozialisieren wollten. Einen weiteren Zusammenhang bildet der
sadistische Ausdruck von Phantasien über die Juden, die wenig verholen mit
Ungeziefer und Vernichtungsvorstellung zusammengebracht werden.
Zerstückelungs-Phantasmagorien, Kastrationsängste und andere Elemente lassen
überdies einen frühen Ansatz in eine Richtung erkennen, die Klaus Theweleit mit
seinen Männerphantasien 1977 aus den Romanen der Freikorpssoldaten
herauslesen wird.[5]
VIII. »Wir sind als Volk schon tot.«
Wesentlich ist hier das Ergebnis, dass es bei den Deutschen keine wirkliche
Emotionalität gegenüber den Untaten an den Juden und den anderen wehrlosen
Opfern gibt. Jeder der TeilnehmerInnen kannte einige Juden persönlich, aber von
den Ereignissen im KZ hatte man angeblich „nur gehört“. Was man stattdessen
anscheinend wusste, war „daß man bei dem Bombardement mit den eigenen Kindern
über den Asphalt sich retten musste, der brannte.“ (S. 173) Alles andere – wie
die Erschießung von jüdischen Frauen mit Kindern auf dem Arm durch deutsche
Soldaten – waren Behauptungen, die man sich nur vorstellen mochte, wenn
diese Jüdinnen zuvor einen Deutschen hatten umbringen wollen.
IX. »Am
jüngsten Tag ist’s nur ein Furz.«
Dieser Schatz im Archiv des Instituts für Sozialforschung, wie das
Gruppenexperiment, ist nicht nur historisch kaum bekannt, sondern die
Verdrängung dieser Zusammenhänge einer deutschen Schuld geht bis heute
weitgehend unbearbeitet in der Öffentlichkeit weiter. Ihr gegenüber gilt, was
Adorno einmal gesagt hat: dass die jüngste Vergangenheit wie durch Katastrophen
vernichtet erscheint. Damals wie heute soll Schluss sein damit. Haselbergs kluge
und luzide Interpretation lüftet das Tuch, das über die schwelende Wunde des
Nationalismus gebreitet ist und erschließt hier einen weiteren Zusammenhang.
Beispielsweise, wenn Alexander Gauland von der Nazizeit als „Vogelschiss der
Geschichte“ spricht. Das ist nicht weit entfernt von der von Haselberg
gedeuteten Aussagen der Probanden, wonach die Juden „in den Schornstein gejagt“
gehörten und zu einem „Gasfurz“ würden. (S. 141) Von stinkenden Rauchwölkchen
bis zum stinkenden Vogelschiss ist es nicht weit. Gauland, Weigel, Storch und
Höcke, aber auch die KabarettistInnen Dieter Nuhr und Lisa Eckhart reden über
weite Strecken so eine Originalsprache wie die Probanden der Fünfzigerjahre. Sie
und andere bekommen ihre Foren im deutschen Fernsehen! Sie setzen darauf, dass
solches Sprechen schon damals offiziell nicht verstanden wurde; ihre Anhänger
aber verstehen sie genauso und wollen auch so sprechen: Worüber man nicht reden
kann, darüber kann man lachen, lehrte schon Arnold Hau. Mit Haselberg kann man
lernen: So stumm wie die Schweiger und so stur wie die Vielredner auch sind –
ein Juden- oder ein Ausländerwitz geht auch 2021 immer! Das sich AfDler gegen
die Samenverschwendung bei deutschen Männern aussprechen, zugleich im Bundestag
bei Rednerinnen, insbesondere solchen mit Migrationshintergrund, regelmäßig in
Getrampel und Geheul ausbrechen, gehört zusammen. So wie sie eine gendergerechte
Sprache oder eine Frauenquote generell ablehnen, weil sie finden, dass Frauen
sich mehr anstrengen sollten („Dann könnte man ja auch gleich eine für Migranten
und Behinderte fordern.“). Tatsächlich hat sich in der Aufarbeitung dieses
metaphorischen Vokabulars, das durchaus wörtlich gemeint ist, zwischen 1950 und
2021 anscheinend nicht viel getan. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies
kroch“, heißt es in einer misogynen Allegorie in Brechts
Kriegsfibel. So kann die Studie Haselbergs den Leserinnen und Lesern, so sie denn bereit sind zu lesen, sehr nahegehen. Dem Rezensenten jedenfalls kommt sie ein wenig so vor wie in einem Cartoon von Rattelschneck: Es ist wie die Zeitlupen-Wiederholung des bösen Verwandtenbesuchs vom Wochenende. [1] Gruppenexperiment. Ein Studienbericht. Bearbeitet von Friedrich Pollock, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1955 (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. Im Auftrag des Instituts für Sozialforschung hrsg. von Theodor W. Adorno und Walter Dirks. Bd. 2.) [2] Theodor W. Adorno, „Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment“, in: Gruppenexperiment, S. 278 – 478; auch GS 9.2, S. 121 – 324. [3] Die Kontinuität der gleichgeschalteten NS-Psychologie, insbesondere des Göring-Instituts und der „germanisiert Psychoanalyse“ mit ihren Protagonisten Carl Gustav Jung, Harald Schultz-Hencke oder Carl Müller-Braunschweig sparten beide bis auf wenige Ausnahmen auch später weitgehend aus.
[4] „[…]
Die Tat könnte als antisemitisch bezeichnet werden. Woher dieser Wahn
stamme, habe das Gericht nicht klären können.“ (FAZ, 27. 2. 2021)
Artikel online seit 16.03.21 |
Peter von
Haselberg, Michael Becker (Hg.), |
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