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»Ist er geistreich oder wirr?«»Er ist schwierig!«

Hegel im Spiegel seiner Biographie

Von Wolfgang Bock, Rio de Janeiro
 

Ein Dribbling

Der Jenenser Philosophieprofessor Klaus Vieweg verfasst eine neue und emphatische Hegelbiographie. Das monumentale über 800 Seiten starke Werk ist so angelegt wie eine Szene des Frankfurter Cartoonisten Friedrich Karl Waechter: Ein Fußballspieler umdribbelt mit dem Ball alle Spieler der gegnerischen Mannschaft und schießt ihn am Ende zum siegreichen Tor ein; anschließend reißt er die Arme zum Jubel hoch. Vieweg benötigt für sein Hegeldribbling dazu anders als Waechter, der traditionell mit elf Antipoden auskommt –  neun einzelne Stationen als solche Spielstätten und Tätigkeiten als Hauslehrer, Zeitungsredakteur, Schuldirektor und Schulrat – aber der geschilderte erfolgreiche Vorgang ist im Prinzip derselbe: So stellt Vieweg in seinen Kapiteln die Wirkungsstätten des Philosophenlebens – Stuttgart, Tübingen, Basel, Frankfurt, Jena, Bamberg, Nürnberg, Heidelberg und Berlin – als einen zwar gewundenen, aber im Prinzip stetigen
»Lebenslauf nach aufsteigender Linie« dar. Er beschreibt zugleich dessen denkerischen Fortgang zur jeweils nächsten Stufe der vier Hauptwerke Phänomenologie des Geistes (Jena), Wissenschaft der Logik (Bamberg), Enzyklopädie (Nürnberg) und Rechtsphilosophie (Berlin), um am Ende mit dem Tod des Philosophen auch dessen Werk zu beenden. Die Tode des Philosophen, der Philosophie, der Kunst und der Geschichte bedeuten bereits bei Hegel bekanntlich nicht allein das Ende, sondern zugleich den Anfang zu einer neuen Philosophie der Gesellschaft im Zeichen der Freiheit. Entsprechend heißt auch Viewegs Buch: Hegel. Der Philosoph der Freiheit und es ist selbst ein Stück des Hegelschen Systemdenkens. Es ist ein Durchgang durch die Natur, den subjektiven und objektiven bis hin zum absoluten Geist. Dem zweiten Element der Szene, dem Jubel, entspricht bei Vieweg ein Hang zu preisenden Superlativen – Hegel wird auf diese Weise zum »Jahrhundertphilosophen«, die Phänomenologie des Geistes zum »Jahrtausendbuch« und die thüringische Kleinstadt Jena zum »Saale-Athen« hochstilisiert. Das wirft – und damit spielt der Autor – auch einen kleinen Schein auf ihn selbst.

Das hohe Lob der Vormoderne

Klaus Vieweg, zum Zeitpunkt des Mauerfalls im Jahre 1989 36 Jahre alt, ist einer der wenigen Philosophen, die ihre Ausbildung in der DDR begonnen hatten und nach der Wiedervereinigung nicht vollständig abgewickelt wurden. Er bekleidete eine Professur in Jena. Das hat damit zu tun, dass er sich auf eine aufgeklärte Interpretation der materialistischen Philosophie bezieht, ohne jedoch den Begriff Materialismus, das heißt die marxistische Interpretation Hegels, den HISTOMAT und den DIAMAT als offizielle Ideologie der DDR, nur einmal zu nennen. Denn nicht Hegel, sondern Marx wäre der Zankapfel oder, wer es härter mag: der Fels, an dem die Brandung der Ideologien sich spalten würde. Die kritische Phase, in welcher der Hegelsche Anspruch, dass die Philosophie (und die Logik) der Wirklichkeit entsprächen, emphatisch umgesetzt würde, beträfe also den Linkshegelianer Karl Marx mit seiner Deutschen Ideologie und der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in der dieser den idealistischen Philosophen vom Kopf auf die Füße stellen und die Welt nicht mehr allein nur interpretieren, sondern sie verändern wollte. Das hatte in der DDR zu einer theoretischen Missinterpretation und zu einer falschen Praxis geführt. Der Name Marx aber kommt auf den über 800 Seiten bei Vieweg nur ganze dreimal vor – und damit so oft wie John Milton und weniger häufig als beispielsweise Montesquieu (zwölfmal), Metternich (sechsmal) oder Montaigne (immerhin viermal). So wie Vieweg Hegel Zeit seines Lebens als Anhänger der zivilisatorischen Errungenschaften der Französischen Revolution – allen voran des säkularen Rechts, des Code Civil oder Code Napoléon – beschreibt, der seine wahre republikanische Gesinnung erfolgreich vor der preußischen Restauration und den Häschern ihrer Geheimpolizei hinter äsopischen Formulierungen verbergen konnte, so verbirgt auch Vieweg seine eigenen materialistischen Intentionen hinter einem frühbürgerlichen Vokabular der Freiheit.

Hegel stirbt 1831. Die Interpretation der frühbürgerlichen Zeit des deutschen Idealismus – in seiner revolutionären Hochzeit und dann nach der Französischen Revolution, der europäischen Restauration und vor den Pariser Manuskripten von 1844 und dem Kommunistischen Manifest von 1848 – ist gleichsam ideologiefrei, zumindest was das Verhältnis zwischen DDR und BRD angeht. Vieweg macht sich dadurch einen Namen, dass er auf die aufklärerische Intention Hegels zurückgeht und diesen nicht als Staatsphilosophen der preußischen Militärdiktatur nach den Karlsbader Beschlüssen versteht. Er zeigt ihn vielmehr als einen Aufklärer, der das Kantische Projekt des deutschen Idealismus fortführt und zu seinem frühbürgerlichen Ende bringt: Bekanntlich ist Beethoven die Vollendung der bürgerlichen Kunst in der Musik und Hegel die entsprechende Vollendung in der bürgerlichen Philosophie. Die Deutschen sind vor allem Künstler, Ingenieure und Philosophen – im politischen Feld der lebenden Demokratie dagegen bleibt diese Moderne ein notorisch »unvollendetes Projekt« (Jürgen Habermas).

Aufklärung und Idealismus

Vieweg stellt Hegel in seinem Buch betont in diesem Aufbruch der frühbürgerlichen Aufklärung und des deutschen Idealismus – er pendelt also zwischen dem Anspruch des Denkens als Aufweis der Differenz zwischen Sein und Denken und seiner Durchführung als selbstmächtiges System. Was bei Kant noch als unendliche Aufgabe der Zusammenführung von Subjekt und Objekt erscheint, wird bei Hegel zur vielfach ineinander spielenden Wirklichkeit. Freilich ist das für Vieweg eine Wirklichkeit, die nicht alles, was existiert, gleichermaßen ausgebildet enthält. Er interpretiert Hegel auch dann als einen emphatischen Anhänger der Französischen Revolution, der Republik und der bürgerlichen Verfassung, als er ab 1812 in Berlin preußischer Staatsphilosoph geworden war. Er macht glaubhaft, dass die diesbezüglich inkriminierten Formulierungen aus der Rechtsphilosophie – der »verfemte Doppelsatz«: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig«[1] – sich einer äsopischen Sprache als Tarnung bedient, um die Staatspolizei und die Zensur zu täuschen. In Wahrheit, so Vieweg, war Hegel immer ein Anhänger der Republik und immer ein Gegner der Diktatur. Er kann klarmachen, dass Hegel seine entsprechenden radikale Schüler vielfach gegen die restaurativen Tendenzen nach den Napoleonischen Kriegen unterstützt. Er selbst und seine hochbegabte Schwester Christiane – die übrigens ein ähnlich trauriges Schicksal besitzt, wie Goethes Schwester Cornelia – übermitteln und übersetzen unter Einsatz ihres Lebens republikanische Schriften. Auch Vieweg stellt nicht der Frage: Revolution oder Reform? sondern er macht vielmehr die Verfassungsreform, die Hegel anstrebt, zur dialektischen Voraussetzung einer Revolution.

Superlative und Konstellationsforschung

Ein weiteres Merkmal dieser Biographie ist die gelungene emblematische Verbindung von Leben, Theorie und Symphilosophie. Vieweg hat sich in den letzten 30 Jahren in Büchern und Aufsätzen einen internationalen Namen als Interpret und Kommentator des Hegelschen Werkes gemacht und dabei eng mit Idealismus- und Hegelinterpreten – wie Wolfgang Welsch und Dieter Henrich – zusammengearbeitet. Viewegs Hegelbiographie ist eine Mischung aus den Lebensdaten Hegels vor dem lebendig dargebrachten Kontext der Epoche und einem Hegelkommentar, der freilich überall Hegel zu retten versucht und die wenigen kritischen Bemerkungen immer auf eine immanente Kritik bezieht. Vieweg selbst ist Hegelianer und Hegel ist sein Held. Aber er ist ein menschlicher Held, der Schwächen besitzt – er hat Mühe zu sprechen, er geht hedonistischen Interessen –Wein, Weib und Gesang, resp. Kunst – im großen Stil nach.

Das führt uns noch einmal zu einem bereits erwähnten Merkmal der Biographie, das auffällig ist: Viewegs Hang zu regionalen Superlativen, sprich: zur Darstellung von thüringischen als Weltspezialitäten. Um Hegel entsprechend zu kontextualisieren, versuchte Vieweg ihn als den »Jahrhundert-«, ja als den »Jahrtausendphilosophen« darzustellen. Der deutsche Idealismus ist für Vieweg die Spitze jeglicher Philosophie. Und deren Hauptstadt (neben dem frühen Tübingen und dann dem späteren Berlin) bildet Jena, die Universitätsstadt, in der die von Henrich geprägte Begrifflichkeit der Konstellationsforschung, des gemeinsamen Philosophierens von Schelling, Hölderlin, Hegel, Schleiermacher und Schlegel in den Jahren 1801-1804 einen seiner idealen Mittelpunkte besitzt.[2] Das klingt ein wenig nach einem performativen Selbstwiderspruch – nach dem Lob Abderas als der schönsten Stadt der Welt aus dem Munde der Abderiten.[3] Jedenfalls spart Vieweg nicht mit solchen Superlativen zur Beschreibung nicht nur der idealistischen Philosophie und des Systems Hegels, sondern auch der thüringischen Kleinstadt Jena, die er freilich augenzwinkernd als »Saale-Athen« bestimmt. Mit der Konstellationsforschung im Hintergrund ist er anders, als wenn er sich etwa der Diskursanalyse oder der Hermeneutik bedient hätte, in der Lage, seine Superlative in einer leicht ironischen Form zu setzen, die bei aller Ernsthaftigkeit immer auch weiß, was sie tut.

Genius loci und Bildbeschreibungen

Klaus Vieweg stützt sich für eine solche emphatische Verortungsmethode auch auf ein früheres eigenes Werk, in dem er bereits eine Verbindung zwischen Stadt, Bild und Philosophie hergestellt hat. Für die Darmstädter Wissenschaftliche Buchgesellschaft verfasste Vieweg das Buch Genius loci. An-Sichten großer Philosophen in Text und Bild (Darmstadt 2014), das – mit Fotografien von Patrick Lakey versehen – eine solche Beziehung zwischen Stadt, Raum und Philosophie herstellt: »Was haben die Philosophen gesehen, als sie ihre Gedanken formulierten?« lautet die originelle, Brecht variierende Fragestellung. Auch in seiner Hegelbiographie gelangt dieses intermediale Prinzip wieder zur Anwendung: Freilich überlässt er den Bildteil nicht mehr nur den beigefügten Stichen und Dokumenten, sondern fügt selbst gleichsam piktoral gehaltene Beschreibungen der Städte und ihrer lebendigen Szenen hinzu. Die neun Kapitel behandeln also die Wirkungsstätten Hegels als eine Art von irdischer »Sternenkarte« (Georg Lukács), die er in seinem Lebensgang durchläuft und in denen er zugleich seine Werke oder die vorbereitenden Gedanken zu diesen entwickelt. Als Hauptwerk gilt hier wieder die Phänomenologie des Geistes, die in Jena entsteht. Das Buch bildet einen ersten Pol, dessen Gedanken auch in den früheren Phasen in Stuttgart, Basel und Bamberg verfolgt wird; den zweiten markiert Hegels Wirken in Berlin 1812–1831. Hier entstehen die Ästhetik und die Rechtsphilosophie und eine erweiterte Fassung der Enzyklopädie; dazwischen spielen sich in den Orten Bamberg, Heidelberg und Nürnberg weitere Zwischenstufen des Werkes ab. Vieweg zeichnet diesen Weg seines Helden nach und vervollständigt so zugleich das philosophische System. Das Buch endet damit, dass mit Hegels Leben auch das System vollendet ist.

Dialektik des deutschen Idealismus

Der deutsche Idealismus findet mit Hegel zu seinem Meister. Diese These, die das Rückgrat von Viewegs Argumentation bildet, hat einiges für sich. Zusammen mit und gegen Kant, Schiller, Hölderlin, Fichte, Schelling, Schlegel und Schleiermacher bildet Hegel eine Denkstruktur aus, die bis heute die systematische Philosophie beherrscht. Und die antisystematische Existenzialphilosophie, die die Lücken des Systems offenzuhalten versucht, verdankt noch einiges dem Rekurs auf eben jenes systematische Denken. Soweit eine systematische Philosophie gehen konnte, soweit ist Hegel gegangen. Freilich endet seine Philosophie die ab Mitte des 19. Jahrhunderts – Hegel stirbt 1831 – von einer Kritik an eben jenem systematischen Denken aus der Perspektive einer Erfahrung beherrscht wird. Hegel wurde von seinen Zeitgenossen als ein deutscher Anti-Newton angesehen, dem es gelungen war, nicht nur die Philosophie aus ihrem eigenen Begriff heraus freiheitlich zu erklären, sondern auch die Naturwissenschaft in dieses System eines philosophisch gedachten Freiheitsdenkens anzupassen. Dafür steht seine Habilitationsschrift Über die Sternenbahnen und seine Enzyklopädie, die sich ausdrücklich auch der Naturwissenschaft als deren philosophischer Grundierung annimmt. Was heute epistemologisch und phänomenologisch als unverbundene Teile verschiedener Denkperspektiven erscheinen, machen unter hegelianischem Gesichtspunkt nur als ein sich selbst ermächtigendes skeptisches Denken der Freiheit Sinn. Der Mensch hat sich selbst aus selbstverschuldeter Unmündigkeit heraus aufzuklären – so führt Hegel Kants Projekt weiter. Er bleibt aber dafür, wie er beispielsweise in seiner Geschichte der Philosophie zeigt, bei dessen Dualismus nicht stehen, sondern demonstriert in seiner Dialektik konsequent, dass Kant bereits immanent seine eigenen Voraussetzungen aufhebt. Die viel beschworene hegelianische bestimmte Negation, die der Gegenstand im Durchlauf seiner historischen Entwicklung von sich selbst annimmt, ist, so macht Vieweg unmissverständlich klar, das Produkt einer fundamentalen säkularen skeptischen Orientierung. Ein Denken in Extremen, dass der These notwendig eine Antithese zur Seite stellt, die nicht von außen an sie herangetragen wird, sondern die aus der konsequenten Nachstellung des selbstskeptischen Gedankens folgt, bildet deren Grundlage. Erst die radikale Gegenüberstellung dieser negativen Form führt zur Wahrnehmung der Entwicklungstendenz, die sich aus dieser Dialektik ergibt. Diese appliziert freilich auf der nächsten Stufe eine neue Form von dialektischer Spaltung, die daher selbst nicht zu Ende ist, wenn die gesellschaftliche Dynamik, deren Ab- und Vorbild sie zugleich darstellt, nicht abgeschlossen werden kann. Daher ist auch die Kritik an dem Hegelianischen System – beispielsweise von Max Horkheimer (etwa in dessen Aufsatz »Geschichte und Psychologie« von 1932) – die nicht die bestimmte Negation, die Hegel gegen Schellings absolute Negation setzt, verurteilt, sondern die mit einigem Recht die bei Hegel darauffolgende Entwicklung zu einer aufhebenden Synthese dieser beiden Kräfte (im Sinne der besten aller Welten, die Hegel von Spinoza übernimmt) infrage stellt. Der erste Schritt des Selbstbewusstseins, das eine skeptische Gegenthesis hervorbringt und sich so an sich selbst kritisch zu reiben hat, bleibt unbestritten. Der zu bestreitende Teil betrifft die Frage, ob das von Hegel entworfene System tatsächlich den dritten Schritt einer Synthesis zum Geist notwendig und gesetzmäßig durchläuft.

Eins, Zwei, Drei: Negation als Skeptizismus und Stasis

Wenn dem tatsächlich so wäre, dann besäße das einige Voraussetzungen. Vieweg führt den tragenden ersten Satz der Hegelschen Rechtsphilosophie (wonach das Wirkliche vernünftig und das Vernünftige wirklich sei) auf einen skeptischen Republikanismus Hegels zurückführt. Er weist aber zugleich darauf hin, dass nicht alles, was ist, für Hegel auch wirklich eine bestimmte Existenz im emphatischen Sinne besitzt. Damit zeigt auch er diese Stasis eines nicht vollzogenen Weiterschreitens zwischen der zweiten und der dritten Phase dieser geschichtsphilosophischen Triade aus dem Denken Hegels heraus.[4] Unter solchem zur notwendigen Negativität treibendem Skeptizismus produziert der Gedanke an das gesellschaftliche Handeln von sich aus seine Gegenthese als immanente Kritik. Damit verfolgt auch Vieweg eine kritische Lesart und zeigt sie aus dem grundlegenden skeptischen Impuls von Hegel selbst. Dass er dabei dennoch anschließend den Sprung in den Superlativ des gelungenen Systems vollzieht, bleibt gegenüber dieser Verortung des Hegelschen Denkens innerhalb des Skeptizismus, der sich erst aufhebt, wenn er an sein gesellschaftlich bestimmtes Ende gekommen ist, zweitrangig. Auch Vieweg macht deutlich, dass es nicht um eine Negation der Negation Willen geht, sondern um eine negative Dialektik, die am Ende eben nicht harmonisch aufgeht. Sie geht notwendig auf für Hegels Leben und für die Beschreibung seiner Epoche, aber sie geht nicht hinreichend auf als Methode beispielsweise des »wissenschaftlichen Sozialismus«, wie er im Osten gelehrt wurde und dessen hegelianische Voraussetzung. Bei Hegels System handelt es sich nicht um eine Methode des Denkens, mit deren Hilfe man die so garantierten geschichtsphilosophischen Früchte früher oder später einfach Einernten kann. Hegels Philosophie bleibt ein Versuch, die Welt zu erklären und als wahre zu entwerfen. Sie tut das, wie Vieweg unmissverständlich deutlich macht, auf dem säkularen Boden der Freiheit, das heißt ohne Vorannahme irgendeiner Kraft, die vor dem Menschen oder nach dem Menschen sein soll. Allein aus dem Denken selbst und der darin entfesselt vorliegenden und nachempfundenen immanenten Dialektik heraus wird bei Hegel der Gedanke im Wortsinne »en-twickelt«.

Es spricht der Dichter – Wahlverwandtschaften

Das empfindet Vieweg als brüderlich: Unter den Nachrufen macht er den Scherz, dass er fünf andere Autoren zitiert – unter anderem Karl Rosenkranz und Michel Foucault – dann aber zunächst sich selbst mit dem Satz: »Er ist schwierig, er ist mein Bruder.« Um anschließend in unmittelbarer Nachbarschaft dann Hegel selbst zu seinem Werk zu Wort kommen zu lassen: »Philosophieren heiß frei denken und frei leben zu lernen.« (S. 673) Vieweg setzt hinzu: »Frei nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel« – das »frei« signalisiert, dass Hegel und Vieweg hier anscheinend mit einer Stimme sprechen. An diesem Doppelwitz, der an den Spruch erinnert, den Robert Gernhardt sich einem von einem Karussell notierte: »Wie ein Pfeil fliegt man daher, als ob man selber einer wär‘!« – ist ein Gran Wahrheit. Im persönlichen Gespräch verweist Klaus Vieweg schon einmal gerne darauf, dass Kollegen ihren Studenten nahegelegt hätten, dass sie, wenn sie Hegel authentisch vorgeführt bekommen wollten, seine Vorlesungen besuchen sollten – denn hier spreche Hegel selbst! Und in der Tat ist eine solche ironische und doppelsinnige Identifikation nicht nur die Voraussetzung für die Superlative, die die Gelehrten der früheren DDR für ihre Länder Sachsen und Thüringen immer bereithielten, indem sie sich auf die unsterblichen Klassiker Goethe, Schiller und Hegel bezogen, sondern auch für eine souveräne Interpretation in der Zeit nach der DDR, die versucht, Hegel in den Stand eines Klassikers anders, nämlich in der globalisierten Welt, wiedereinzusetzen. Sie enthält nun den unabdingbaren Verweis auf das demokratische Erbe Hegels als Kontext, auf den dessen Philosophie bis heute angewiesen ist.

Nachgeschichte Hegels

Aus dieser Emphase der frühbürgerlichen Freiheit, auf die sich beide Deutschlands heute ungebrochen gemeinsam beziehen, entwickelt sich Viewegs Geste. Unbestritten ist, dass Hegel mit seinem System an das Ende seines Denkens gekommen ist. Unbestritten ist aber auch, dass die Philosophie nicht in einem systematischen Denken aufgeht. Vielmehr gilt für die philosophischen Entwürfe nach Hegel – wie Lebensphilosophie, Nietzsches Antisystem, die Husserlsche Phänomenologie, der Kierkegaardsche und der Heideggersche Existenzialismus, der Wiener oder der empirischen Positivismus oder die Analytische Philosophie – dass sie zu Hegel sehr viel verdanken und über weite Teile hinter diesen zurückfallen. Andererseits ist seine Dialektik auf einem aufklärerischen Boden aufgezogen. Die Dialektik der Aufklärung der kritischen Theorie zeigt, dass die Methode der bestimmten Negation sich damit selbst auflöst. Die Dialektik bleibt nicht als positive Synthese erhalten, sondern muss selbst negativ bleiben. Daher stammen beispielsweise die Invektiven Benjamins und Adornos als Fragmente einer Negativen Dialektik. Diese Nachgeschichte diskutiert Hegel selbst natürlich noch nicht, Vieweg aber auch nicht. Sie wäre aber notwendig, um Hegel und sein Denken nicht nur als historisches einzuschätzen – etwa unter dem eingrenzenden Titel »Hegel und seine Zeit«, sondern auch, um ihn ernsthaft als einen Denker der Freiheit zu aktualisieren. Das Buch Viewegs heißt ja im Untertitel Der Philosoph der Freiheit, was impliziert, dass die Freiheit zwar gedacht, aber noch nicht erreicht ist – und damit auch dann wieder noch nicht hinreichend bedacht ist. Hier muss man gegen Viewegs Insistieren auf dem System Hegels, dass er durchführt, zugleich auf das Bruchstückhafte seines Systems abheben, die Nichtintegrität der einzelnen Teile unter den absoluten Geist. Die Ökologie findet für solche Gebilde die Bezeichnung des »halboffenen Systems« und überfirnisst damit die gesellschaftliche Dialektik durch einen technizistischen Begriff.[5] In der Philosophie hat Friedrich Nietzsche im Anschluss an die Romantiker und Baudelaire eine solche monadische Konstruktion gefunden, wo der Kreisbogen nicht geschlossen ist, aber das einzelne Kreiselement bereits die Tendenz zum Schluss teleologisch in sich enthält. Das offizielle System Hegels ist daher auch subkutan so fragmentarisch wie das Antisystem Nietzsches von sich aus zu einem System tendiert.

Ausgedehnte Reisen: Hegel im zeitgenössischen und
internationalen Kontext

Diese Nähe Hegels zu Nietzsche hat Klaus Vieweg früh erkannt. Daher sieht er auch in seiner Biographie in Nietzsche nicht den Antipoden Hegels, sondern in gewissem Sinne einen Erfüller der im System nicht hinreichend begründeten Elemente: In der Biographie wird Nietzsche an einigen Stellen im Geiste Hegels zitiert. Mit anderen Worten, Vieweg beurteilt Nietzsche nicht dualistisch, sondern dialektisch im Sinne einer Voraussetzung Hegels für dessen Denken. Das tut er nicht willkürlich. Denn in der Tat betreibt Vieweg, der nach der Öffnung der DDR fast überall auf der Welt herumgekommen und entsprechende Forschungsprojekte lanciert hat, mit dem Nietzscheanischen Philosophen Richard Gray aus Seattle in den USA eine außerordentlich produktive Arbeitsgemeinschaft. Zusammen versuchen beide seit einigen Jahren in ihren gemeinsamen unorthodoxen Randgängen der Philosophie die Gemeinsamkeiten und Differenzen ihrer Ideen produktiv auszutragen.[6] In einem solchen Rahmen ist auch die vorliegende Hegelbiographie Vieweg zu sehen. Auch hier spielt, wie wir gesehen haben, eine aufgeklärte Lokalisierung eine besondere Rolle. In einem Kapitel zeigt Vieweg die Reisen Hegels innerhalb Europas nach Prag und Karlsbad, nach Genf und Paris, nach Belgien und Amsterdam. Vieweg selbst hatte Gastprofessuren und Gastvorträge nicht nur in den USA oder in Portugal, Italien, China und Kolumbien inne, sondern er hält Vorträge auch in Sao Paulo oder in Rio de Janeiro.

Er ist schwierig

Sein jüngstes Werk, die Hegelbiographie, ist durchaus großer Wurf. Sie ist es nicht nur deswegen, weil Vieweg die biographischen Tendenzen, in weiten Teilen über Karl Rosenkranz, der die klassische Biografie Hegels verfasst hat, hinausgehend beschreibt. Sie ist es vor allen Dingen deswegen, weil Vieweg es sich nicht nehmen lässt, innerhalb der Biografie theoretische Blöcke einzuschalten, in denen er die wichtigsten Hegelschen Werke erläutert, soweit es eben in so einer Biografie möglich ist. Er weist immer auch darauf hin, dass diese Erläuterung nicht die Lektüre der Primärtexte Hegels ersetzt. Aber sie kann als eine große Hilfe beim Verständnis der Originaltexte Hegels gelesen werden. Das macht den besonderen Charakter dieser Biografie aus. Sie ist einerseits leicht verständlich, bilderfreundlich und anschaulich geschrieben und enthält eine Reihe von Beschreibungen, in denen ihr Verfasser sich alle Mühe gibt, die LeserInnen dort abzuholen, wo sie stehen, um dann in den theoretischen Teilen in der Sache nicht nachzulassen und von dem Leser einiges zu fordern. Insofern folgt diese Biografie einer besonderen Didaktik, nämlich den Leser durch einen freundlichen Ton im narrativen Teil notwendig zunächst einzustimmen, um ihn dann im dokumentarischen Teil permanent zu überfordern. Aber Vieweg tut das auf eine solche sympathische Weise und selbst in einer solchen besonderen Konstellation, dass man ihm auf beiden Seiten seines Weges gerne folgt. Wenn es also nach Lawrence Sterne die Hauptaufgabe einer Biographie sei, gegen eine »biographische Mode« (Leo Löwenthal) ein »Zeichen gegen Dummheit zu setzen, gegen jeglichen Wunder- und Aberglauben, gegen Eitelkeit, gegen resonierende Dogmatiker und Fanatiker, gegen am Boden von Tintenfässer liegengebliebenen Buchstabengelehrten und gegen mit Trompeten demonstrierende Philosophen« (S. 30) – dann ist Klaus Vieweg diese Aufgabe mit seiner klugen Biographie sehr gelungen.


[1] G.W.F. Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hg. von Dieter Henrich, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 13-14.

[2] Vgl. Martin Mulsow, Marcelo Stamm (Hg.), Konstellationsforschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.

[3] Im antiken Griechenland gilt Abdera als die Stadt früher Schildbürger.

[4] So beschreibt etwa auch Herbert Marcuse in seinem Hegelbuch Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie von 1941 dieses Verhältnis von Welt und Denken.

[5] Ähnliches versucht heute ein weiterer zeitgenössischer Denker aus Jena, der Soziologe Hartmut Rosa mit dem Resonanzbegriff mehr oder weniger glücklich. Vgl. Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 2019.

[6] Vgl. z.B. Klaus Vieweg und Richard T. Gray (Hg.), Hegel und Nietzsche. Eine literarisch-philosophische Begegnung, Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität 2007, Band 4 der Schriften aus dem Kolleg Friedrich Nietzsche, hrsg. v. Rüdiger Schmidt-Grépály.

Artikel online seit 26.12.19
 



Klaus Vieweg
Hegel
Der Denker der Freiheit

C.H. Beck 2019
824 Seiten mit 59 Abbildungen
34,-€
978-3-406-74235-4

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