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Sehnsucht nach
dem hohen Norden |
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Innere und äußere Gewalt Der Kriminalroman ist die letzte Heimstätte eines akuten Existenzialismus. Denn was bedroht den Menschen stärker als der Tod und erlaubt so erst die Entstehung einer Ethik? Daher gibt es in jedem Krimi an dieser Schnittstelle des Schicksals von säkularer Sozialtechnik und Theologie einen Mord und einen Mörder und daher sind skandinavischen Krimis besonders brutal. Denn hier wütete zuvor die Kirche und dann der Protestantismus auf radikale Weise gegen die Naturreligionen. Davon legen die Schriften von Sören Kierkegaard Zeugnis ab und auch Siegfried Kracauer und Ernest Mandel haben diese Tatsache in ihren Büchern über den Kriminalroman bereits 1925 hervorgehoben.[1] Daher sind auch Henning Mankells vielgelesene Romane, die in der unschuldigen südschwedischen Kleinstadt Ystad spielen, so gewalttätig und so ungeheuer unter Blutdruck, der eigentlich ein solcher einer theologischen Urschuld ist. Mankell hat auf diese Weise in seinen Büchern über Kommissar Kurt Wallander mehr Leute zu Tode kommen lassen als in der ganzen Provinz Skåne in den letzten 500 Jahren tatsächlich gewaltsam umgekommen sind. Und daher sind die norwegischen Kriminalromane von Gunnar Stålesen um den Privatermittler Varg »der Wolf« Veum in der beschaulichen Regenstadt Bergen, wo ansonsten einmal ein Regenschirmdiebstahl zu beklagen ist, so sozialpädagogisch und moralisch streng gehalten. Die äußere Gewalt bildet diejenige ab, die das moderne protestantische Individuum zunächst sich selbst antut. Bereits Maj Sjövalls und Per Wallhöös Stockholmer Detektiv Martin Beck leidet allgemein unter einem unter existenzialistischen Bedingung verpfuschten Leben. Und Kurt Wallander stellt sich immerfort so als Melancholiker die rhetorische Frage, ob er ein guter Polizist sei, so hat sich Mankell in seinen sanguinischen Jugendjahren wohl auch danach quasi theologisch gefragt, ob er selbst denn ein guter Kommunist sei. Auch dahinter stehen Schuld und protestantische Religion. Stålesen versucht beispielsweise seinen Detektiv Varg direkt gleich wie eine Mischung aus Pastor und Sozialarbeiter aussehen zu lassen: eher ersterer mit hoher Moral als letzterer mit Kenntnissen aus dem Sozialregister, die er seinem Konkurrenten Hamre voraus hat, der eben nur ein Polizist ist und kein halber Pastor. Mordaufklärung ist daher in Skandinavien immer auch Arbeit am gewalttätigen Selbst und am Schuldkomplex. Man schaue sich daraufhin nur einen Film des Pastorensohns Ingmar Bergman an oder lese seine Biografie.[2] In der Strafkolonie
Island zählt geografisch
zu Skandinavien, ist aber ganz anders. Bildet es doch eine seiner ersten
Wikingerkolonien überhaupt und ist durch eine isolierte halb dänische, halb
wieder verwilderte Kultur gekennzeichnet – als frühe Strafkolonie ist Island
heute zugleich Teil und Gegner der skandinavischen Mainstreamkultur. Die
isländische Gesellschaft ist zudem eine alte Buchkultur. Jeder zweite Isländer
schreibt angeblich selbst. Wer etwas darüber erfahren will, lese es in den
Büchern von Nobelpreisträger Halldór Laxness nach. Das Fischkonzert,
Das wiedergefundene Paradies oder historisch Die Islandglocke, wo es
mit Johann Reckwitz vielleicht einen Vorfahren des Berliner Soziologen als
Hauptfigur gibt, befassen sich damit.[3]
Zugleich ist Island auch immer der Ort des sagenumwobenen Thule oder Asgard der
nordischen Mythologie und ihrer Riesen, Geister, Feen und Kobolden. Die
isländischen Krimiautoren beziehen sich denn auch eher auf diesen isländischen
phantastischen Realismus als auf die Kriminaltradition von Edgar Alan Poe, Conan
Doyle oder Agatha Christie mit ihren städtischen Hintergründen in London, Boston
und Paris und den englischen und französischen Kolonien wie Indien, dem Libanon
oder Ägypten. Geopolitik, »der Zustand« und die Thule Gesellschaft der Nazis
Als den Ausdruck eines
sozialen Realismus allein aber kann man Indridasons Bücher nicht bezeichnen.
Dafür sind sie zu tief in eine andere Geschichte Europas eingetaucht. Man schaut
in ihnen vom Rand der Welt auf europäische und transatlantische Verhältnisse,
aber von diesem Kap Island, diesem Ausguck aus, der zwischen Amerika und
Spitzbergen, den Färöern und den Shetlandinseln liegt. In der historischen
Buchreihe Indridasons, die bislang drei Romane umfasst, geht es um Reykjavik und
Island im Zweiten Weltkrieg. Die geostrategische Position im Nordmeer, von dem
die NATO, die heute regelmäßig im Mittelmeer operiert, ihren Namen hat und die
Verbindung der Isländer mit dem Kommunismus, ließ 1948 bereits Halldór Laxness
seinen Roman Atomstation in einem ähnlichen Milieu spielen.[4]
Um einer deutschen Invasion wie in Dänemark und Norwegen zuvorzukommen, wird die
neutrale Insel 1940 zunächst vorsorglich von den Briten besetzt; diese werden
1941 durch amerikanische Soldaten ersetzt. Das Militär hinterlässt seine Spuren
auf der ursprünglich neutral gebliebenen Insel. Reykjavik ist damals eine Stadt
von knapp 40. 000 Einwohnern und auch der Rest der Insel beherbergt nicht viel
mehr Isländer. Und nun gelangen mehrere Tausend junge englische, kanadische und
US-amerikanische Soldaten auf diesen Außenposten im Nordmeer. Sie befinden sich
zwar nicht an der Front in Mitteleuropa, sie sind aber weit weg von Zuhause in
einem gesellschaftlichen Abseits gelandet. Das führt in der zuvor provinziell
gebliebenen Stadt und der bäuerlichen isländischen Gesellschaft zu Konflikten,
vor allen Dingen, was die Emanzipation der Isländerinnen angeht. Die von ihren
Vätern und Ehemännern eifersüchtig bewachten jungen Frauen werden zu Objekten
der Begierde der jungen Soldaten, die mit Zigaretten und Dollars um sich werfen.
Den Frauen bietet sich hier die allerdings zweideutige Chance, dem öden
Landleben und Inseldasein in Schnee, Feuer und Eis zu entgehen. Ähnlich wie den
Norwegerinnen unter der deutschen Besetzung oder die deutschen Frauen unter den
englischen und amerikanischen Truppen, können Sie allerdings Ihre neuen
Freiheiten nur halb genießen. Sie befinden sich immer an der Schwelle, sich als
Prostituierte zu verdingen oder mit Soldaten zu tun zu haben, die ihnen zwar
phantasmagorisch die Heirat und den Umzug versprechen, mit ihnen aber real ihre
Ehefrauen Zuhause betrügen, zu denen sie wieder zurückkehren werden. Indridason
nennt das mit Rückgriff auf die historischen Quellen »den Zustand«. Nebel auf Island
Aber weder der
historische noch der geographische Hintergrund noch der Sozialrealismus – bei
dem nicht wie bei Max von der Grün oder Günter Wallraff in der deutschen
Literatur der Arbeitswelt die Arbeiter als sich aufklärende Subjekte oder
wie im deutschen Tatort und bei Henning Mankell nun Polizisten die
Hauptrolle spielen – ist daran das Interessanteste. Der Erfolg dieser Romane
liegt im besonderen parataktischen Stil des Autors. Dieser ist denkbar knapp,
karg und spröde. Zwei, drei Sätze reichen aus, um einen Kommissar zu
charakterisieren: ein Baum, ein Stein, eine klare Linie wie im
skandinavischen Design. Das reicht auch anderswo aus, um gute Literatur zu
produzieren. Denn nicht allein der Ire Samuel Beckett charakterisiert so die
Bühnensituation seiner Protagonisten, den globalen und zugleich regionalen
Helden Vladimir und Estragon in Warten auf Godot; auch William Faulkner
lässt seine spröde gezeichnete Figuren beispielsweise in der Erzählung Die
Freistadt in einem literarischen und stilistischen Nebel eines Imaginärs
agieren. Ein detailgesättigter Realismus, wie der aus dem Film bekannt ist,
findet hier keine einfache Umsetzung in den Bildern der Leser.[6]
Lange stochern diese auch in Indridasons Büchern in Silhouetten von Gestalten
herum, die sich bewegen und lebendig sind und doch ganz verschwommen in ihrem
eigenen nordischen Universum bleiben. Ein Film wie Der Tote vom Nordermoor
gerät demgegenüber fast auf schmerzliche Weise zu realistisch. Blick vom Kap Island
Man muss aber kein
Existenzialtheologe sein, um diese Bücher mit Gewinn lesen zu können. Denn hier
werden Motive der Kulturindustrie, ohne diese Herkunft zu verleugnen in eine Art
aufgeklärte Volkskultur zurückgebaut. Das hatte seinerzeit schon B. Traven alias
Red Marut mit seinen sozialkritischen Kriminalromanen aus Mexiko getan. Das
Überzeugende an den Geschichten Indridasons ist dabei die konsequent
durchgehaltene Perspektive eines Außen und Innen zugleich, der Blick, der hier
vom Kap Island auf die Welt und die Weltgeschichte geworfen wird. Das gilt vor
allem für deutsche Leser. Denn hierzulande finden sich vor allem in
Fernsehfilmen und Büchern, die sich mit der eigenen Geschichte beschäftigen,
immer noch kleine und große Rechtfertigungen und Relativierungen der Gräueltaten
der Deutschen während des Krieges. Oder es handelt sich, wenn es um Skandinavien
im Allgemeinen und um Island im Besonderen geht, um zähe, sich an die alten
Naziklischees anähnelnden Geschichten mit deutschen Tatort-Schauspielern,
die nun vor Ort als Einheimische ausgegeben werden, die in Islandpullovern auf
die Suche nach Feen gehen. Schon Fritz Lang hatte im Tiger von Eschnapur
1958 seine deutschen Schauspieler einfach nur mit brauner Schuhcreme
eingerieben, damit sie in seinem Film problemlos die arischen Inder geben
konnten. Um nun eine isländisch aussehende Atmosphäre herzustellen, reicht den
deutschen Regisseuren anscheinend eine Torfhütte und eine mit bayrischem Akzent
sprechende verwirrte Großmutter mit grauen Haaren aus, die etwas von Trollen
faselt. Friedrich Schlegel und seine kulturelle Ableitung der deutschen Sprache
aus der indischen lassen grüßen: deutsche Arier sollen anscheinend immer noch
überall sein.[7]
Die späteren Skandinavien-Klischees der Nazis haben sich in weiten Teilen
zwar durch Astrid Lindgren und Ikea verharmlost, aber doch auch noch teilweise
in unsere Zeit hinübergerettet. Skandinavische Kosmopoliten
Skandinavien aber, wenn
es das als ein Ganzes überhaupt gibt, blickt anders auf die Welt. Und wenn auch
für die völkische Ideologie nicht anfällige Deutsche heute im Norden oft genug
noch ein Sehnsuchtsland erblicken, so ist das doch umgekehrt nicht zugleich der
Fall. Skandinavier sind auch Kosmopoliten, sie sind wie beispielsweise Lars
Gustafsson in Cannobio am Lago Maggiore oder in Texas so zu Hause wie andere in
Rio de Janeiro. Einen guten Einblick in diese Perspektive erlaubt der
Slapstickroman von Jonas Jonasson über den Hundertjährigen, der quer
durch die Welt und die jüngste Zeit führt.[8]
Die Asche des Eyjafjallajökulls Die Lektüre der Islandromane also erlaubt ebenso einen solchen kosmopolitischen Ausguck aus der Provinz. So stieß auch der Kritiker im März 2012 am Strand von Ipanema im heißen Rio de Janeiro auf Nacht über Reykjavik, einen der ersten Romane von Arnaldur Indridason.[10] Er wurde dort von einem Deutschen gelesen, der sich etwas Abkühlung verschaffen wollte, während umgekehrt in Island gerade der heiße Vulkan Eyjafjallajökull ausgebrochen war, dessen Namen damals viele europäische Korrespondenten nicht aussprechen konnten. So liegen Nähe und Ferne, Hitze und Kälte und eben auch Innen und Außen oft nahe zusammen. Der Kritiker jedenfalls hat die Lektüre dieses und der weiteren isländischen Krimis von Arnaldur Indridason nicht bereut und kann sie daher auch anderen Lesern ans Herz legen.
[1] Vgl.
z.B. Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst (1844), Stuttgart:
Reclam 1992, Siegfried Kracauer, Der Detektiv-Roman: Ein
philosophischer Traktat (1925), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979 und
Ernest Mandel, Ein schöner Mord. Sozialgeschichte des Kriminalromans,
Bodenheim: Athenaeum 1988.
Artikel online seit 14.10.20 |
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