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Schmerztherapie

Valerie Fritschs Roman »Herzklappen von Johnson & Johnson«

Von Lothar Struck

"Alma war ein ungeduldiges Kind, das nicht verlieren konnte, bei Brettspielen betrog, lieber schrie, als schwieg, die Hände oft zu Fäusten ballte, die auch im Schlaf selten aufgingen."

Das ist der erste Satz von Valerie Fritschs Roman mit dem seltsam anmutenden Titel "Herzklappen von Johnson und Johnson" (und einem noch seltsameren, ehrlich gesagt: hässlichen Cover). Es geht also um Alma, dem gut behüteten Einzelkind, deren Jugendjahre "still und mondän" verliefen (durchaus mit kleinen Kuriositäten, etwa wenn sie sich in der Badewanne die Schamhaare bleichte). Erstaunlich, wie wenig man von den Eltern erfährt: eine schlafwandelnde Mutter, die auch schon einmal nackt am Klavier sitzt und ein Vater, als Vollwaise erfahren "mit vielen Verwandten, durch deren Hände er gegangen war". Da ist dann noch das Gefühl, man spiele ihr Theater vor, ganze Bühnenstücke (die Eltern reden wie Freunde miteinander), eine Unruhe, eine Ahnung über eine ver- oder beschwiegene Familiengeschichte, die, wie sich dann herausstellt, etwas mit den Eltern der Mutter zu tun haben muss. Fast behutsam führt Fritsch den Leser nun an diese Geschichte heran. Nur kurz fürchtet man die inzwischen zu oft gelesenen Großvater-/Großmutter-Idealisierungen, aber es kommt alles ganz anders. Ganz wunderbar anders.

Zwar bleibt Alma bis zum Schluß die Hauptfigur, aber in ihr (und später in ihrem Sohn Emil) setzt sich auf eine wundersame Art die Familien(leidens)geschichte fort. Ausführlich widmet sich Fritsch diesem Großvater, einem großen Schweiger, der für immer im Krieg geblieben war, zunächst kämpfend und – auch das klingt an – mordend, dann in Gefangenschaft irgendwo in Kasachstan, ein Gefangener auch in der Freiheit, gebrochen von dem, was ihm geschah, ohne Trost (die Gläubigkeit verloren und nicht nur diese), "Der Krieg hatte sein Leben in ein Davor und Danach geteilt". Krieg, so stellt es sich Alma als Kind vor, als "magische Maschine", "in die auf der einen Seite die Menschen hineingingen und auf der anderen Seite verwandelt, fremd und falsch wieder herauskamen." Held oder Verbrecher? Oder beides?

Glücklicherweise unterbleibt jegliches Moralisieren. Alma klagt nicht an, sie will erfahren. Der Weg zum Großvater führt über die Großmutter. Die Besuche in ihrem Haus ("ein Behälter für den alten Schmerz") werden zu "Darbietung(en) für Spätgeborene". Die Großmutter beginnt zu erzählen, entwirft ein Panoptikum von Figuren, immer mehr saugt sich Alma (und mit ihr der Leser) in die Geschichte hinein und dies ohne jegliche Verklärung, nüchtern.

Sprunghaft die einzelnen Kapitel im Roman (die auch für sich wirken könnten). Alma wird, wie man eher nebenbei erfährt, Zeichnerin. Sie lernt irgendwann Friedrich kennen, einen Fotoreporter mit einem "anderen Schweigen", "guten Ideen und schlechten Entscheidungen". Hin- und hergerissen ist er zwischen Alma, seinen Reportagereisen und dem Kümmern um seine demenzkranke Mutter (deren Schilderung gerät ein bisschen zu possierlich). Aus der Fernbeziehung wird nach vielen Jahren ein Zusammenleben, "unaufgeregt und schlicht". Fritschs gekonntes Erzählen, so etwas wie eine intensive Lakonik (gibt es das?), zeigt sich insbesondere hier. "Es war", wie es fast ein bisschen schicksalsergeben klingt, "eine späte Liebe, gehärtet vom Verlust jeder vorausgegangenen".

Etwas überraschend kommt dann Emil zur Welt. Alma erleidet nach der Geburt eine Depression, "wartete nachts auf den Tag, und kaum wurde es Früh, zählte sie die Stunden bis zum Abend." Friedrich ist fast immer unterwegs. Ertragen kann Alma nur die Großeltern und die Geschichten der Großmutter. Sie geht viel ins Schwimmbad und in Museen. Fritsch springt über diese Zeit, schnell ist Emil neun Jahre alt. Er besitzt dann schon einen "Veteranenkörper", denn er kann keinen Schmerz empfinden, will (und muss sich) dies allerdings immer aufs Neue beweisen, schlägt bisweilen zu Demonstrationszwecken mit dem Kopf gegen die Wand oder rammt sich einen Kugelschreiber in den Arm.

Emils Körper ist früh bestückt mit Titanschauben und anderen "anorganischen Materialien", die die Deformationen bei all den Mutproben und nicht bemerkten Blessuren korrigieren und ausgleichen. Plötzlich wird hier eine Parallele zum Großvater aufgezeigt, "dem man irgendwann nach dem Krieg, aber lange bevor er ein alter Mann war, eine Kugelprothese eingesetzt hatte, metallene Herzklappen der Firma Johnson & Johnson, gegen die Insuffizienz des Organs, die Unzulänglichkeit des eigenen Herzens."

Das Funktionieren von Körpern mit Hilfe künstlicher Materialien ist nicht ungewöhnlich. Die Parallele erscheint zunächst ein bisschen konstruiert. Aber der Nachteil der Schmerzunempfindlichkeit ist eben auch, dass Emil Schmerz bei anderen nicht empathisch nachvollziehen kann. Erweitert dieses fehlende Einfühlungsvermögen um die metaphorische Bedeutung des Herzens und erinnert sich beispielsweise an Wilhelm Hauffs Märchen "Das kalte Herz", so scheinen die Prothesen in einem anderen Licht. Wo bei Hauff der Kohlenmunk-Peter sein lebendiges Herz gegen immerwährenden Reichtum eintauscht (und einen Stein in den Körper implantiert bekommt, der ihn gegen alle Emotionen unempfindlich macht), zeigen sich im Verhalten des Großvaters und Emils fehlendem Mitgefühl plötzlich Ähnlichkeiten.

Es ist ein Verdient von Valerie Fritsch, dass diese Gemeinsamkeit nicht begründet, sondern einfach erzählt wird. Die Initiation Almas, der Versuch einer Aufarbeitung, beginnt mit dem Tod der Großeltern. Alma begibt sich mit Friedrich und Emil auf den Spuren des Großvaters in Russland und Kasachstan. Hieraus wird ein furioses, episch erzähltes Panorama durch archaisch anmutende Landschaften, die die Quellen für die Prägungen über die Generationen hinweg gewesen sein sollen. Vermischt wird dies mit einer Eloge an das Unterwegssein ("Das Licht war die Maßeinheit dieses Reisens"), ein Zustand von gleichzeitiger Fremd- und Vertrautheit (da kommen einem Esther Kinsky und Andrzej Stasiuk in den Sinn). Und es wird ein bisschen auch Emils Entwicklungsroman. Der blüht auf, "wurde groß in der großen Welt".

Am Ende droht nur kurz ein kleiner Rückfall in "Winters Garten", ein Kippen ins mystisch-dystopische. Schließlich konzediert Alma, dass die "Sehnsucht nach…Klarheit" sich nicht erfüllt hat und hier erinnert man sich an die Bilanz (Bilanz? Eher: Erkenntnis) von Peter Handkes Erzähler in "Die Wiederholung": "Nicht den Bruder zu finden hatte ich doch im Sinn gehabt, sondern von ihm zu erzählen." Und so geht es auch Alma mit ihrem Großvater in diesem Roman. War in "Winters Garten" die Sehnsucht "Krückstück" wird sie hier Antrieb für ein neues Verorten in der Welt. Man hätte sehr gerne gelesen, wie diese Leben weitergehen. Aber wer weiß…

Artikel online seit 20.02.20
 

Valerie Fritsch
Herzklappen von Johnson & Johnson - Roman
Suhrkamp
174 Seiten
22,00 €
978-3-518-42917-4

Leseprobe

 

 


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