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»You'll never walk alone«

Über d
ie Evolution des modernen europäischen Fußballs
und das Stadion als Ritual von Intensität

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Seit nunmehr vierzig Jahren begleitet mich der Fußball. In den Annalen meines Dorfvereins ist festgehalten, dass ich gleich im ersten Spiel meines Lebens ein Tor erzielte, darüber jedoch erschrak und gar nicht so recht wusste, wie man nach einem Treffer jubelt. Bis zu sechs Tagen stand ich fortan Woche für Woche auf dem Bolz- oder Sportplatz – als Spieler, Trainer, Schieds- und Linienrichter. Ich kannte jeden Grashalm und jedes Korn gemahlener Schlacke rund um Köln.

Heute sind es nur noch zwei Plätze, die ich regelmäßig aufsuche: Platz 7 der »Soccer-World« im Kölner Westen, ein mit Granulat
aus geschredderten Autoreifen durchsetzter, 512 qm
2 großer, durch Banden und Netze umzäunter Kunstrasen, sowie einen der letzten verbliebenen Ascheplätze der Stadt an der viel befahrenen Inneren Kanalstraße, wo ich mit ein paar Verrückten – Fans des SV Werder, der Arminia aus Bielefeld, Anhängern von Hajduk Split und Bayer Leverkusen – Woche für Woche abwechselnd Staub und Schlamm fresse.

Hin und wieder fahre ich dann am Wochenende mit meinen beiden Jungs zum Training des 1. FC Köln (»effzeh«) oder sitze in Block S13 neben dem Automechaniker aus Kalk, der Krankenschwester aus Mülheim und dem Anwalt aus Bergisch-Gladbach, deren Berufe hier überhaupt keine Bedeutung haben und die mit einer Stimme »Jaaaa« brüllen und aus voller Kehle »Kölle Alaaf« singen, wenn der effzeh ein Tor erzielt hat. Heute weiß ich, wie man jubelt.

Es war nach der Saison 1977/78, als ich, gerade erst 5 Jahre alt, zu meinen Eltern kam und verlautbaren ließ, ich wolle auch Fußball spielen. Damals gewann der effzeh das Double. Toni Schumacher, Bernd Cullmann, der kürzlich verstorbene Gerd Strack, Heinz Flohe und Dieter Müller gehörten zum Kader von Trainerlegende Hennes Weisweiler. Am 13. Spieltag übernahm die Mannschaft die Tabellenführung und gab sie nicht mehr her. Fünf Jahre später folgte der letzte große Erfolg, der mühsame 1:0-Sieg über den Stadtrivalen und Zweitligisten Fortuna Köln im DFB-Pokalfinale. Ich saß damals Mitte Ost, Müngersdorfer Stadion, neun Jahre alt, und war überglücklich trotz des schlechten Spiels, das der effzeh ablieferte.

Noch heute ist jeder Sieg der Geißböcke für mich von Bedeutung, denn als kleiner Junge wusste ich: Wenn der effzeh gewinnt, ist mein Vater glücklich und ich musste keine Sorge haben, dass er möglicherweise seine schlechte Laune an mir auslässt. Von einem Sieg des effzeh hängt seither mein Leben ab.

Ich glaube, es war Frank Goosen, der einmal behauptet hat, man suche sich seinen Verein nicht aus, der Verein komme vielmehr zu einem und gehe dann einfach nicht mehr weg. Das ist so. Auch meine beiden Jungs hatten da keine Chance. Denn ich bin schon recht früh in ihrem Leben balltänzelnd um sie herumgesprungen, während sie über den Boden krabbelten, und habe gerufen: »Podolski am Ball, Podolski schießt, Tooooor ….« Was will man dagegen machen? Meine Frau sagt immer, das sei keine Erziehung gewesen, sondern Manipulation. Aber es diente der Sache.

Fast der gesamte Fußballbetrieb, das Vereinsleben, das Training, die Hobbykickertreffen, die Altherrenabende, die Amateurspiele und Turniere sind nun wegen Corona (es ist Mitte Juni 2020) zum Erliegen gekommen. Mit ihnen auch das Geschrei, die Beschimpfungen, die guten und die schlechten Rituale. Die Stammtische schweigen. Seit ein paar Wochen flimmern bloß noch die Geisterspiele der Bundesliga über die Kanäle von Sky, kommentiert von Reportern, die nur begrenzt Ahnung von den Regeln jenes Sports haben, über den sie berichten. Statistiken, Zahlen, Anekdoten kennen sie alle, das feine Regelwerk, die Frage nach der Spielfortsetzung, die Zeichen des Schiedsrichters verstehen sie oftmals nicht. Aber ich frage mich längst nicht mehr, warum das so ist.

Ohne Zuschauer ist der Fußball ein anderer Sport. Und auch die Europameisterschaft, die in diesen Tagen hätte stattfinden sollen, ist erst einmal auf das nächste Jahr verschoben worden. Der Fußballer in mir leidet seit Wochen, seit Monaten.

Aber es ist ein Trost, von Anderen zu erfahren, die von noch größerem Fieber für diesen völkerverbindenden Sport erfasst sind. Unzählige Bücher und Berichte habe ich in all den Jahren (Jahrzehnten) über den Fußball gelesen, die dieses Fieber dokumentieren. Darunter Highlights wie Fever Pitch, Weil Samstag ist, Kick it like Beckham, Anpfiff, Tor zur Welt, Punkt ist Punkt, Spieltage
Selten jedoch habe ich Bücher gelesen, die so fundiert, so kenntnisreich über den Fußball sprechen wie Michael Cox´ »Umschaltspiel« und Hans Ulrich Gumbrechts »Crowds«.  

Cox ist englischer Fußballjournalist und betreibt einen Blog »zonalmarking« – so auch der englische Originaltitel von »Umschaltspiel«, das sowohl eine kurze Geschichte des Fußballs seit den frühen 1990er ist als auch eine grandiose Einführung in Spielsysteme und Taktiken. Warum bestimmte Nationen und Mannschaften zu bestimmten Zeiten das Spiel beherrscht haben, warum einzelne Spieler nicht mit jedem System zurechtkamen und warum Cruyff und van Gaal für ganz unterschiedliche Philosophien des Spiels stehen, beantwortet Cox in seinem Buch meisterlich. Erinnerungen an längst vergessene Spielszenen, an Spielertypen und Traumtore werden wieder lebendig. Cox weiß um die Bedeutung von Laudrup, Stoitschkow, Ramário und Hagi, Bergkamp und van Basten, Roberto Baggio oder Zidane für einzelne Vereine und ihre Taktiken, und er erklärt sehr eindrucksvoll, warum die Einführung der Rückpassregel und der Champions-League sowie das Bosman-Urteil den europäischen Fußball komplett verändert haben. Beeindruckend ist insbesondere sein Wissen über den Tellerrand des englischen Fußballs hinaus. Egal ob es sich um den niederländischen, den portugiesischen oder den deutschen, den italienischen, den spanischen oder französischen Fußball handelt – Cox kennt sich überall aus und liest die Spielsysteme der Bayern genauso wie die von Juve, Barca oder Ajax. Selbst für Fußballverrückte ist das Buch ein echtes Aha-Erlebnis.

Viel persönlicher, aber nicht minder kenntnisreich, geht der anerkannte Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht an das Spiel heran. Mit ihm teile ich die Leidenschaft für Stadionführungen und die Sympathie für den BVB.

Gumbrecht deutet »das Stadion als Ritual von Intensität« und legt nicht weniger als eine Apologie der Masse vor. Zahlreiche Exkursionen in die Stadien von Südamerika, die Dortmunder »Süd« sowie Exkurse in die Psychologie der Massen durchziehen seinen glänzend geschriebenen Essay. Gumbrecht steht hierbei stets auf der Seite der Zuschauer, der Fans, ja auch der Ultras. Viele der schönsten Momente seines Lebens habe er als Teil einer Masse verbracht, deren Wesen Elias Canetti, Gustave Le Bon und Ortega y Gasset nur unzureichend erkannt hätten. Anders sei der 13. März 2016 im Dortmunder Westfalenstadion nicht zu erklären, als zwei Fans während der Partie einen Herzinfarkt erlitten, einer von ihnen verstarb und die Masse der Zuschauer aus Respekt bis zum Ende des Spiels schwieg, ehe sie den Toten mit der Hymne »You´ll never walk alone« verabschiedete. Gumbrecht schreibt: »Zur Feier der Gemeinschaft, an der sie hängen, und aus Trauer um den einen unter ihnen, der gestorben war, gestorben in der Einsamkeit des individuellen Tods, soll man ergänzen. Sie sangen und machten den Einen gegenwärtig, der zu ihnen allen gehört hatte, obwohl nur wenige ihn kannten … Ich habe mir die Aufzeichnung der Szene in den letzten Jahren immer wieder vorgespielt, und oft packt mich ihr intensives Pathos, wie es die beste Predigt und die passendste Musik bei einer Trauerfeier nicht hätten hervorbringen können. Es war eine zarte, aber nicht zerbrechliche Trauer in der körperlichen Präsenz von Vielen, Trauer im mystischen Körper als ein Trost, der Verlust gegenwärtig macht.« Die Szene ist u.a. hier zu sehen.

You´ll never walk alone. Ein besseres, ein schöneres Motto für den Fußball kann auch ich mir nicht vorstellen.

Artikel online seit 16.06.20
 

Michael Cox
Umschaltspiel
Die Evolution des modernen europäischen Fußballs
Aus dem Englischen von Stephan Gebaue
suhrkamp taschenbuch 5076,
Klappenbroschur,
540 Seiten
20,00 €
978-3-518-47076-3

Leseprobe

Hans Ulrich Gumbrecht
Crowds
Das Stadion als Ritual von Intensität
Klosterman Essay 5
154 Seiten
Kt 14,80 €
ISBN 978-3-465-04385-0

Leseprobe

 

 


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